September 2020
Die gesellschaftlichen Veränderungen und politischen Entscheidungen der letzten Jahrzehnte haben zu sozialen und politischen Verwerfungen geführt, die auch die politische Bildung vor neue Herausforderungen stellen. Seit den 1980er Jahren wächst die soziale Ungleichheit, die Schere zwischen Arm und Reich öffnet sich, die frühere Mittelschicht differenziert sich aus – das Ergebnis ist eine soziale Polarisierung. Viele Menschen geraten unter Druck oder haben Angst davor, nicht mehr mithalten zu können. Traditionelle gesellschaftliche Bindungen lösen sich auf oder wurden bewusst gekappt. Wenn Ungleichheit und Unsicherheit steigen, nimmt das Vertrauen in Mitmenschen und Politik ab. Zugleich finden nationalistisch geprägte Selbstdefinitionen verstärkt Zustimmung, die auf einer Konstruktion „der Anderen“ und deren Abwertung und Ausgrenzung beruhen.
Gleichzeitig findet das statt, was als „Integrationsparadox“ beschrieben wird. Zunehmende gesellschaftliche Konflikte können auch als Ergebnis einer gelungenen Integration und Partizipation zuvor stärker ausgegrenzter gesellschaftlicher Gruppen verstanden werden. Dies gilt für die Emanzipation von Frauen, für sexuelle Minderheiten, Menschen mit Migrationsgeschichte, Menschen, die mit Behinderung leben etc. Je besser Teilhabe gelingt – soziale und politische –, desto konfliktreicher werden die politischen Aushandlungsprozesse. Die ausgegrenzten Gruppen haben den „Katzentisch“ verlassen und fordern jetzt, mit in der Runde zu sitzen und ihre Interessen einzubringen. Dies hat Folgen für die Art und Weise der Konfliktaustragung – privat und öffentlich. Diese Entwicklung birgt die Chance, den Gegensatz der Fremd- und Selbstzuschreibung zu überwinden, sich den Herausforderungen einer einschließenden, inklusiven Gesellschaft zu stellen und die berechtigten Ansprüche auf gleichberechtigte Teilhabe in allen Lebensbereichen anzuerkennen.
Der Prozess der Digitalisierung hat die Erweiterung der Medien von der Distribution hin zur Kommunikation beschleunigt. Auf Basis von Kurznachrichten und Überschriften entwickeln sich schnelllebige, emotional aufgeladene Diskussionen, deren Tiefgang bereits durch die limitierte Zeichenzahl der Dienste beschränkt ist. Dem gegenüber stehen die langwierigen Aushandlungsprozesse in einer demokratischen Gesellschaft. Politik und Medien entwickeln sich gegenläufig. Während Medien verschmelzen (sinnbildlich im Smartphone), zerfällt die politische Öffentlichkeit zunehmend in Teilöffentlichkeiten. Politische und mediale Wirklichkeiten sind so verschränkt, dass sie nur noch in ihren gegenseitigen Abhängigkeiten entschlüsselt werden können, wozu es einer neuen Form der digitalen politischen Medienkompetenz bedarf. Mit diesen Entwicklungen sind emanzipatorische Chancen ebenso verbunden wie die Gefährdung der demokratischen Diskursordnung insgesamt. Die neuen digitalen Öffentlichkeiten werden wesentlich von gewinnorientierten Konzernen zur Verfügung gestellt und sind somit nur vermeintlich Räume freier politischer Debatten.
Aktuell ist zu konstatieren, dass es antidemokratischen Kräften gelingt, als Trittbrettfahrer*innen der gesellschaftlichen, politischen und medialen Entwicklungen ihre politischen Interventionen geschickt zu platzieren. Der öffentliche Raum des Digitalen wird zum umkämpften Feld, in dem es – ähnlich wie im analogen Raum – um Teilhabemöglichkeit sowie Sicherheit geht. Es ist ein extrem starker Anstieg von Hasskriminalität durch sexistische und rassistische Übergriffe und Cybermobbing zu verzeichnen.
1. Diskursverschiebungen und Gewalt
Die Entwicklungen der letzten Jahre müssen erschrecken. Offen zeigen sich in der Bundesrepublik Rechtsextremismus, Rassismus, Antisemitismus und Rechtsterrorismus. Menschen werden aus rassistischen und sexistischen Motiven oder, weil sie sich diesem Hass entgegengestellt und für ein freiheitliches und gleichberechtigtes Zusammenleben eingesetzt haben, Opfer von offener Gewalt bis hin zu terroristischen Anschlägen. Den Taten gehen – trotz aller Gegenwehr – eine Veränderung des politischen Klimas und eine Verschiebung des Sagbaren voraus. Öffentlich wird vom „Denkmal der Schande“ und vom „Vogelschiss“ der deutschen Geschichte gesprochen und somit die nationalsozialistische Gewaltherrschaft verharmlost. Völkisch-nationalistische Denk- und Handlungsmuster, Antisemitismus, Antiziganismus, anti-muslimischer Rassismus, anti-schwarzer Rassismus sowie sonstige Formen von Rassismus und Anti-Migrationsdiskurse nehmen nicht nur zu, sondern werden bedrohlicher und schlagen öfter in unverhohlene Diskriminierung und offene Gewalt um. Die Entmenschlichung durch Rassismus und die Diskriminierung betroffener Gruppen sowie Einzelpersonen steigen an. Die Folgen dieser Entwicklungen für jene, die sich zu Recht vor Angriffen fürchten müssen, werden noch immer zu wenig diskutiert.
Diese Veränderungen des politischen Klimas und die Verschiebung der politischen Diskussionen kommen nicht von ungefähr, sondern werden zur Durchsetzung einer spezifischen politischen Strategie genutzt. Mitte der 1970er Jahre entstand in Deutschland mit der „Neuen Rechten“ eine politische Strömung, die sich um eine Intellektualisierung des Rechtsextremismus bemühte und an der französischen „Nouvelle Droite“ orientierte. Sie „wurde immer stärker zu einem intellektuellen Zirkel, dem es in erster Linie um die kulturelle Hegemonie, also um die Meinungsführerschaft im politischen Alltag, und nicht unmittelbar um die parlamentarische-politische Macht ging“, so der Politikwissenschaftler Wolfgang Gessenharter bereits 1989. Es geht den Akteuren vor allem um den Kampf um Begriffe: Dreißig Kampfbegriffe, die – wie Heimat, Identität oder Volk – im Sinne der Neuen Rechten besetzt werden sollen, hat der Professor für politische Erwachsenenbildung Klaus-Peter Hufer in deren Programmen, Reden und Publikationen ausgemacht. 131 „Unwörter“ wurden in dem Band „Sprache der BRD“ aus dem neu-rechten Antaios-Verlag definiert. Die Neue Rechte versucht mit dieser Strategie, Anknüpfungspunkte an autoritäre, nationalistische, rassistische und sexistische Einstellungsmuster in der Mitte der Gesellschaft zu finden. Sie ist dabei umso erfolgreicher, je mehr gesellschaftspolitische Entwicklungen und Diskursanpassungen der etablierten Parteien ihren Argumenten eine gewisse Plausibilität verleihen. Gerne bezeichnen sich Akteure der Neuen Rechten selbst als demokratisch, konservativ oder bürgerlich. Dass dies bloß Camouflage ist, wird deutlich, wenn man sich ihre Aussagen, die sie freimütig zu ihren politischen Zielen bekunden, ansieht. Mit dem Leitbild der Französischen Revolution „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ haben diese nichts zu tun. Sie postulieren Autoritarismus statt Freiheit, Ablehnung politischer Gleichheit, Negierung des Menschenrechtsgedankens, Ablehnung des Sozialstaatsgebots des Grundgesetzes und eine positive Bezugnahme auf den historischen Faschismus, der vermeintlich die letzte Möglichkeit zur Abwehr der kommunistischen Weltherrschaft war. Bei allen Differenzen im Detail geht es letztendlich um die Dystopie eines autoritären Ständestaates, der allen Menschen die ihnen vermeintlich zustehenden Plätze zuweist und in dem die „neuen Eliten“ der Neuen Rechten für sich eine bislang unbekannte Machtfülle erwarten.
„Aktiv kämpferisch“ tritt die Neue Rechte überwiegend nicht auf. Wie ihre Strategie der Machterlangung aussieht, konnte man im Thüringer Landtag erahnen. Es greift deutlich zu kurz, eine Gefährdung der demokratischen Verfasstheit unseres Staates von den Rändern aus zu denken. Die „Geländegewinne“ der Neuen Rechten, aber auch die breite Anschlussfähigkeit ihrer Begriffe und Positionen – auf die von der empirischen Forschung zur Verbreitung rechter Einstellungen seit Jahren hingewiesen wird – zeigen, dass diesen strategischen Diskursverschiebungen mit den klassischen Instrumenten der Extremismusprävention, die das Problem an den vermeintlichen Rändern der Gesellschaft sucht, nicht beizukommen ist.
Die zum Teil unzureichenden Antworten des etablierten politischen Feldes gegenüber der Strategie der Neuen Rechten liegen auch in den eigenen Defiziten, Ausblendungen und Versäumnissen begründet. Die politische Bildung ist ebenso Teil dieses politischen Feldes wie Parteien, Parlamente, Verwaltungen und der Medienbereich. Zu Recht wurde im letzten Jahrzehnt immer wieder kritisiert, dass die Tendenz festzustellen sei, grundlegende Gestaltungsfragen – nicht nur den Klimawandel – auszublenden, politische Entscheidungen als alternativlos darzustellen und so einer De-Politisierung von Gesellschaft Vorschub zu leisten. Sich anderen – bislang marginalisierten – Positionen, Perspektiven und Interessen auch in der politischen Bildung stärker zu öffnen, bedarf jedoch der Bereitschaft, Macht, Einfluss und Ressourcen zu teilen.
2. Politische Bildung ist Austragungsort der Angriffe auf den demokratischen und menschenrechtlichen Konsens
Die politische Bildung steht mit ihrem Selbstverständnis und ihren Zielen der politischen Mündigkeit sowie der politischen Selbstbestimmung der Individuen und ihrem klaren Bezug zu demokratischen Grundrechten und Menschenrechtsnormen für ein freiheitliches und auf gleichen Rechten und Chancen gründendes Politikverständnis, welches von antidemokratischen Kräften bekämpft wird. Das Konzept der politischen Bildung in der Demokratie wird dabei grundsätzlich infrage gestellt.
Besondere öffentliche Aufmerksamkeit haben sogenannte Meldeportale erhalten, bei denen die Verletzung der angeblichen Neutralitätspflicht durch Lehrkräfte gemeldet werden sollte. Dass eine solche Neutralitätspflicht nicht besteht, ist vielfach fachlich klargestellt worden. Trotz ihrer geringen Nutzung haben die Portale zur Verunsicherung bei Lehrkräften und anderen pädagogischen Fachkräften geführt, inwieweit sie klar Stellung zu antidemokratischen und menschenrechtsfeindlichen Äußerungen beziehen können und müssen. Zudem steht die Frage im Raum, welche persönlichen Konsequenzen eine Positionierung haben könnte, wenn man anschließend öffentlich angeprangert wird. Im Zuge dieser „Neutralitätsdebatte“ sehen sich auch die Zentralen der politischen Bildung vergleichbaren Angriffen bis hin zur Forderung nach ersatzloser Abschaffung ausgesetzt.
Erinnerungsorte und Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus sind besonders von Veränderungen des politischen Klimas betroffen. In warnenden Worten griff die 7. Bundesweite Gedenkstättenkonferenz diese Entwicklung in ihrem Aufruf vom Dezember 2018 auf: „Immer offener etablieren sich in der Gesellschaft Haltungen, Meinungen und Sprechgewohnheiten, die eine Abkehr von den grundlegenden Lehren aus der NS-Vergangenheit befürchten lassen.“
Regelmäßig sehen sich Mitarbeitende an Gedenkstätten mit Besucher*innen konfrontiert, welche die Gewaltverbrechen der Nationalsozialisten relativieren, für einen sogenannten Schlussstrich und einen grundsätzlichen Kurswechsel in der Auseinandersetzung mit der NS-Diktatur eintreten. Positiv wird Bezug auf ein völkisch-nationales Politik- und Geschichtsverständnis genommen. Der Kulturkampf von rechts will eine kritische Betrachtung der nationalsozialistischen und kolonialen Vergangenheit aushebeln und postuliert stattdessen in vielen Fällen die Konstruktion einer heldenhaften Nationalgeschichte. Kontinuitätslinien werden ignoriert, historische Verantwortung wird geleugnet, das Leid der Opfer und ihrer Nachkommen ausgeblendet.
Während an den Gedenkstätten vielfach an innovativen Vermittlungskonzepten gearbeitet wird, um nachwachsende Generationen ohne lebensweltliche Bezüge mit Bildungsangeboten zu erreichen oder auch um Tendenzen eines allzu ritualhaften Gedenkens zu vermeiden, sehen sich Mitarbeiter*innen dieser Einrichtungen immer öfter einem Klima des öffentlichen Schweigens und Desinteresses ausgesetzt. Doch die Forderung nach einer „erinnerungspolitischen Wende um 180 Grad“ zeigt, dass rechte Akteure und Initiativen auf dem Feld der Erinnerungskultur längst ein Einfallstor für die Durchsetzung von rassistischen und nationalen Narrativen erkannt haben.
Der Ansatz einer historisch-politischen Bildungsarbeit im Sinne eines reflexiven Geschichtsverständnisses ist entsprechend weiterzuentwickeln; dabei gilt es auch, die Kritik der Nachkommen der Opfergruppen zu berücksichtigen, dass sie nicht länger bereit sind, nur eine „Opferrolle“ zugeteilt zu bekommen, da dies ihrer gleichberechtigten gesellschaftlichen Teilhabe zuwiderläuft.
Besonders von Kampagnen der Neuen Rechten betroffen sind zivilgesellschaftliche Akteur*innen der politischen Bildung und der Demokratieförderung vor Ort – sowohl Organisationen als auch Einzelpersonen, die sich seit vielen Jahren gegen Rechtsextremismus und die verschiedenen Erscheinungsformen von Rassismus und Diskriminierung engagieren. Mit dem Instrument der parlamentarischen Kleinen Anfragen werden Informationen über diese gesammelt und zur anschließenden Diffamierung genutzt. Ganz bewusst werden die Akteur*innen der politischen Bildung dabei als politische Feind*innen markiert. Über den Vorwurf, außerhalb der verfassungsmäßigen Ordnung zu stehen bzw. linksextrem zu sein, wird versucht, sie zu stigmatisieren und zu delegitimieren.
Die Politikdidaktikerin Sophie Schmidt kommt zusammenfassend zu der Einschätzung: Die neu-rechten „Aktivitäten zielen allesamt auf eine Vermeidung kritischer Auseinandersetzungen mit dem aktuellen Rechtsruck und insbesondere über die […] geäußerten autoritären, menschenfeindlichen und geschichtsrevisionistischen Positionen. Vor diesem Hintergrund ist die Zurückweisung und das Insistieren auf eine demokratisch-humane Grundhaltung Politischer Bildung für eine angemessene inhaltliche Auseinandersetzung mit der aktuellen Rechtsentwicklung essentiell.“
Dies muss ergänzt werden um eine kritische Selbstbefragung der politischen Bildung, sowohl hinsichtlich ihrer Ziele als auch ihres pädagogischen Selbstverständnisses. Wenn politische Bildung sich bei ihrer Zielbeschreibung auf die Tradition der Aufklärung bezieht und politische Mündigkeit als zentrales Ziel benennt, reflektiert sie dabei die diesem Begriff innewohnenden Ausblendungen? Welches sind die gesellschaftlichen Voraussetzungen, um „sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen“, die nicht nur bei Kant unzureichend thematisiert werden? Wessen Interessen und Erfahrungen finden in den Angeboten der politischen Bildung keinen Ort, da sie nicht als politisch wahrgenommen werden, sondern nur als Alltagssorgen? Wenn Indoktrination bereits bei der Gestaltung der pädagogischen Situation beginnt, wer bekommt nur Angebote präsentiert, die weit von seinem Alltagsleben entfernt sind, räumlich und auch habituell? Wessen Lebensrealitäten werden bestenfalls als Abweichung von der vermeintlichen Realität wahrgenommen? Wie werden Menschen zur politischen Bildung eingeladen – als potenzielle Gefährder*innen, deren vermeintliche Defizite durch Präventionsangebote behoben werden sollen, oder als aktive, gleichberechtigte Mitgestalter*innen unseres Gemeinwesens?
3. Neue Aufgaben für die politische Bildung
Angebote der Prävention können nur in zweiter Linie erfolgreich sein, weder haben wir es mit einem Jugend- noch mit einem Randgruppenproblem zu tun. Vor allem muss es darum gehen, jene zu stärken und zu unterstützen, ihre Stimme zu erheben, die den antidemokratischen und menschenrechtsfeindlichen Angriffen auf unser Zusammenleben etwas entgegensetzen wollen. Der Politikwissenschaftler Prof. Karl-Rudolf Korte hat es bei der Veranstaltung zum Nationalen Aktionsplan gegen Rassismus auf den Punkt gebracht. Die Frage, die sich der politischen Bildung stellt, lautet: „Wie machen wir Freiheit attraktiv?“ Was können wir autoritären, simplifizierenden Antworten auf komplexe gesellschaftspolitische Fragen entgegensetzen? Wie können wir – aber auch die Politik selbst – jenen (wieder) ein Angebot zur politischen Teilhabe machen, die teilweise zu Recht den Eindruck haben, dass es bei Politik sowieso nicht um ihre Anliegen und Interessen geht? Wie wird das selbstschädigende Moment der Zustimmung zu Ausgrenzung und Diskriminierung sichtbar, die immer auch mich selbst betreffen kann? Welchen Beitrag kann politische Bildung zu einer demokratischen und menschenrechtlichen Entwicklung von Staat und Gesellschaft leisten?
1 – AUFKLÄRUNG: Vokabular und Argumentationsmuster der Neuen Rechten erkennen
Zunächst geht es ganz klassisch um Aufklärung: Nur wenn die eingangs beschriebene politische Strategie der Neuen Rechten bekannt ist, fällt man nicht auf sie herein. Angemessene Antworten kann man nur finden, wenn man die Bedeutung von verwendeten Begriffen und Argumentationsmustern einordnen kann. Es bedarf der Auseinandersetzung mit dem Wiedererstarken nationalistischer Identitätsangebote, der Umdeutung von sozialen Fragen in solche der quasi-kulturellen Zugehörigkeit und der Bedeutungszunahme eines autoritären Politikangebots.
2 – POSITIONIERUNG: Grundsätze der politischen Bildung aktiv vertreten
Verstehen reicht aber nicht aus. Den Diskursverschiebungen bzw. der Infragestellung der freiheitlichen Diskursordnung müssen öffentlichkeitswirksame Alternativen entgegengesetzt werden. Hier ist die Unterstützung der demokratisch-zivilgesellschaftlich Engagierten eine wichtige Grundlage. Medienkritik und Medienkompetenz im digitalen Zeitalter heißt auch Medienproduktion und Medienkampagnen, nicht nur im Internet, aber gerade auch dort. Politische Bildung wird – ob sie will oder nicht – selbst zu einer Akteurin, da ihr pädagogisches Selbstverständnis sie zum Gegenpart antidemokratischer Kräfte werden lässt. Diese Rolle anzunehmen, bedeutet Agendasetterin im öffentlichen Raum zu werden, statt sich durch falsch verstandene Neutralität den Angriffen hilflos auszusetzen. Demokratische Werthaltungen und menschenrechtliche Normen bilden das Fundament für die politische Bildung. Damit ist sie alles andere als neutral.
3 – GEGENHALTEN: Diskursfähigkeit und politische Medienbildung stärken
Aber auch im Alltag, in der Familie, in der Peergroup, im Verein und am Stammtisch muss argumentativ gegengehalten werden. Dazu bedarf es der Vorbereitung und der Übung, sonst werden wir sprachlos bleiben. Angebote wie Argumentationstrainings und digitale Formate etc. müssen dafür ausgebaut werden. Zugleich ist eine „politische Medienbildung“ zu etablieren, welche die Reflexion von technischen, ökonomischen und politischen Entwicklungen wie den Umgang mit Daten und Informationen umfasst. Ebenso muss sie die Fähigkeit zur Entschlüsselung von Verschwörungsmythen und zur Verschränkung von politischen und medialen Wirklichkeiten vermitteln sowie die aktive Mediengestaltung und die Koproduktion – auch in den Bildungsprozessen selbst – ermöglichen.
4 – TEILHABESTÄRKUNG: Zugänge zu unterschiedlichen Gruppen der Bevölkerung schaffen
Diskurse und Selbstverständnisse des politischen Feldes sind von der Lebensrealität vieler Menschen entkoppelt. Die Auflösung alter Milieus, der Bedeutungsverlust traditioneller Institutionen wie Kirchengemeinden und Gewerkschaften, die Akademisierung von Politik und politischer Bildung und die Entmischung von Wohngebieten sind allesamt Tendenzen in diese Richtung. Im Ergebnis führen sie dazu, dass die Interessen und Erfahrungen eines erheblichen Teils der Bevölkerung nur noch unzureichend vom politischen Feld repräsentiert werden.
Auch die politische Bildung muss sich fragen, wen sie bisher zu wenig erreicht und nicht dabei unterstützt, eigene Interessen in den politischen Diskurs einzubringen. Die zu entwickelnden Aktivitäten einer „aufsuchenden politischen Bildung“ müssen sich einordnen in eine breit angelegte Strategie zur Stärkung der Teilhabeperspektive bisher wenig repräsentierter Gruppen. Zudem müssen Teilhabebarrieren im Feld der politischen Bildung selbst abgebaut werden und neuen Akteursgruppen gleichberechtigte Teilhabemöglichkeiten eröffnet werden. Nur wenn Angebote der politischen Bildung im Wohnumfeld bzw. im Alltag der Menschen vorkommen, kann es zu dem notwendigen Dialog zur gemeinsamen Entwicklung von demokratisch und menschenrechtlich fundierten Perspektiven kommen.
5 – SOLIDARISIERUNG: Menschen mit Ausgrenzungserfahrung schützen und stärken
Politische Bildung orientiert sich an der menschenrechtlich begründeten Anerkennung der Würde und Rechte der Menschen. Die Anerkennung der Würde setzt (politische) Teilhabe und Diskriminierungsschutz voraus. Dabei müssen sowohl die vielfältigen Formen von Diskriminierung und Ausgrenzung als auch deren Überschneidungen und Verstärkungen Berücksichtigung finden. Im Sinne einer Stärkung der Selbstvertretung muss auch die Bildung von Allianzen und vernetzter Solidarität zwischen den verschiedenen Gruppen unterstützt werden. Die Schaffung von geschützten Räumen für Menschen, die von (rassistischer) Diskriminierung betroffen sind, ist elementar. In diesen Räumen können sie sich ihrer Diskriminierungserfahrungen bewusst werden, ohne mit deren Bagatellisierung rechnen zu müssen, sowie sich Handlungsstrategien erarbeiten und aneignen.
6 – SELBSTREFLEXION: eine eigene diskriminierungskritische inklusive Perspektive in der politischen Bildung (weiter-)entwickeln
Politische Bildung muss auch auf sich selbst schauen. Gerade die staatlich verfasste politische Bildung muss sich die Frage nach institutionellen Ausgrenzungs- und Diskriminierungsmechanismen wie Rassismus stellen. In den Strukturen, Handlungsroutinen, Einstellungen und Haltungen – auch in den Zentralen der politischen Bildung – muss in einer Gesellschaft, die von Diskriminierungs-, Macht- und Herrschaftsverhältnissen geprägt ist, immer damit gerechnet werden, dass diese reproduziert werden. Nur durch Reflexion und Veränderung der Organisationen als Ganzes können diese Verhältnisse zurückgedrängt werden. Die Menschenrechte bieten mit ihrem Auftrag, die Teilhabe der von Diskriminierung und Ausgrenzung betroffenen Gruppen zu stärken, einen geeigneten Handlungsrahmen. Politische Bildung muss für sich selbst eine rassismus- und diskriminierungskritische, inklusive Perspektive entwickeln. Dies bedeutet ebenso, die immer noch bestehende strukturelle Ungleichbehandlung von
Frauen auch im Feld des Politischen zu reflektieren und wirksame Maßnahmen zur Gleichstellung zu ergreifen.
7 – STANDORTVERGEWISSERUNG: Grundverständnis der politischen Bildung mit aktuellen Entwicklungen abgleichen
Das Grundverständnis der politischen Bildung – ihre Ziele und ihr didaktisches Selbstverständnis – ist immer wieder neu zu reflektieren, weiterzuentwickeln und mit Leben zu füllen: Was meint politische Mündigkeit? Was bedeuten Indoktrinationsverbot, Konflikt und Kontroversität und die Orientierung an den Interessen und Erfahrungen der Teilnehmenden? Wie kann die Erlangung von Urteils-, Handlungs- und Kritikfähigkeit unterstützt werden? Dabei kann die politische Bildung auf bestehende Grundlagen wie den „Beutelsbacher Konsens“ zurückgreifen. Zugleich muss diskutiert werden, welche Auswirkungen gesellschaftspolitische Entwicklungen auf die Ausgestaltung dieses Selbstverständnisses haben.
8 – PERSPEKTIVENERWEITERUNG: Auseinandersetzung mit aktuellen Schlüsselfragen ermöglichen
Politische Bildung muss Angebote organisieren, welche die Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Schlüsselproblemen wie Frieden, Umwelt, sozialer Ungleichheit, Zusammenleben in modernen vielfältigen Migrationsgesellschaften etc. ebenso wie mit aktuellen Herausforderungen wie zum Beispiel der COVID-19-Pandemie ermöglichen. Politische Bildung kann mit einem rationalen Diskurs über die gesellschaftlichen Problemlagen den Verunsicherungen, die sie auslösen, entgegentreten. Sie muss dabei Ängste und Verunsicherungen mit Empathie aufgreifen und Zusammenhänge, Diskursstrategien und Interessenkonflikte nachvollziehbar machen. Politische Bildung will den Blick auf Geschichte und Zukunft weiten. Sie bezieht dabei auch die Demokratiegeschichte und die spezifische deutsche Kolonialgeschichte ein. Ebenso eröffnet sie Möglichkeiten, gemeinsam zu diskutieren, wie wir in Zukunft miteinander leben wollen.
9 – SELBST[BE]STÄRKUNG: Vereinnahmungsversuchen widersetzen
Politische Bildung muss sich stärker ihrer selbst bewusst werden und sich den Vereinnahmungsversuchen aufgrund politischer Konjunkturen widersetzen. Politische Bildung ist kein Sonderprogramm, wenn es gerade opportun erscheint, sondern eine dauerhafte Gestaltungsaufgabe, weil eine demokratische Gesellschaft auf politisch gebildete Subjekte angewiesen ist. Daher ist an die Politik die Forderung zu richten, politische Bildung gemäß ihrem gesellschaftlichen Auftrag noch stärker als Partnerin zu berücksichtigen und ebenso Akteur*innen und Institutionen, die zur non-formalen politischen Bildung beitragen, zu stärken.