Studie: Ex-DDR-Bürger:innen ist Meinungsfreiheit weniger wichtig

Bürger:innen der ehemaligen DDR ist das Recht auf Meinungsfreiheit auch Jahre nach dem Fall der Mauer weniger wichtig als jenen, die vor 1989 in der BRD gelebt haben. Das zeigt eine Studie von Ökonominnen des Leibniz-Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung (IOS) in Regensburg und der Reichsuniversität Groningen. Die Differenz ist umso größer, je länger die Menschen in der DDR gelebt haben, und resultiert vermutlich aus der sozialistischen Gesellschaftsordnung der DDR. Bei nach 1989 Geborenen lassen sich dagegen keine Ost-West-Unterschiede feststellen.

Die Autorinnen – Dr. Olga Popova (IOS) und Prof. Dr. Milena Nikolova (Universität Groningen) – nutzten für ihre Arbeit die deutsche Teilung und spätere Wiedervereinigung als sogenanntes natürliches Experiment, um die langfristigen Auswirkungen des Staatssozialismus auf individuelle Einstellungen zu Meinungsfreiheit zu untersuchen. Dafür analysierten sie Daten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) von Befragungen derselben Personen in den Jahren 1996, 2006 und 2016. Hinzu kommen Daten der Allgemeinen Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften (ALLBUS) in den Jahren 1991 bis 2018.

Unter anderem sollten die Befragten angeben, als wie wichtig sie den Schutz freier Meinungsäußerung als politisches Ziel bewerten – gegenüber Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, Einsatz gegen Preissteigerungen und mehr Einfluss der Bürger:innen auf die Regierung. Die Forscherinnen verglichen die Antworten dazu von Personen, die vor 1989 in der DDR gelebt hatten, mit jenen von Personen, die vor der Wende in der BRD gelebt hatten. Demnach räumen die Bürger:innen der ehemaligen DDR der Meinungsfreiheit durchgängig eine relativ niedrige Priorität ein.

Wie die Auswertung ergab, war 1996 für 6,3 Prozent der Ex-DDR-Bürger der Schutz der Meinungsfreiheit wichtigstes der abgefragten politischen Ziele, bei ihren Counterparts aus dem Westen hingegen waren es 21 Prozent, ein Abstand von 14,7 Prozentpunkten. 2006 betrug die Differenz 13,2 Prozentpunkte, 2016 waren es 15,4 Prozentpunkte. Auch bei den zweitwichtigsten politischen Zielen wurde die Meinungsfreiheit von Bürger:innen der ehemaligen DDR seltener genannt. Die Auswertung der weiteren Datensätze ergab ein ähnliches Bild, durchgehend seit Sommer 1991 bis zum Ende der Befragungen. »Es gibt zwar Anzeichen dafür, dass sich die Einstellungen im Laufe der Zeit angleichen werden, das aber sehr langsam. Deshalb kann man davon ausgehen, dass die Unterschiede bis heute bestehen – und noch lange Zeit weiter bestehen werden«, erklärt Nikolova.

Die Diskrepanz in den Einstellungen ist stärker ausgeprägt, je älter die früheren DDR-Bürger:innen sind und je länger sie damit im sozialistischen System gelebt haben. »Wir können diese Unterschiede nicht mit letzter Sicherheit erklären, sie sind wahrscheinlich eine Folge der allgegenwärtigen Bemühungen des Regimes, Informationen zu kontrollieren und abweichende Meinungen durch Indoktrination und politische Repression zu unterdrücken. Daraus kann tiefsitzendes Misstrauen resultieren – und damit generelle Vorsicht vor freier Meinungsäußerung. Bemerkenswert ist, dass das Leben in einer Demokratie seit mittlerweile mehr als drei Jahrzehnten kaum einen gegenteiligen Einfluss hat. Bei den nach 1989 in Ostdeutschland geborenen Jahrgängen sind dagegen keine geringeren Werte in Bezug auf die Meinungsfreiheit als bei jenen aus Westdeutschland feststellbar«, erläutert Popova.

Die Studie trägt den Autorinnen zufolge nicht zuletzt zu einem besseren Verständnis dafür bei, wie politische Regime individuelle Werte beeinflussen und wie lange diese Effekte anhalten können. Zudem zeigt sie auf, wie fragil fundamentale Grundrechte wie Meinungsfreiheit auch in etablierten Demokratien sein können.

Die Studie mit dem Titel »Echoes of the past: The enduring impact of communism on contemporary freedom of speech values« ist in der Fachzeitschrift »Journal of Economic Behavior and Organization« erschienen.

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