Jugendliche in Deutschland betrachten sich als politisch interessiert, sind von der EU überzeugt, aber nur eine Minderheit glaubt, dass Europa eine friedliche Zukunft hat. Das ergibt eine Auswertung der internationalen Vergleichsstudie ICCS 2022 zur politischen Bildung von Schüler:innen. Die ICCS erfasst neben Einstellungen und Partizipationsabsichten auch das politische Wissen der Befragten und berücksichtigt das schulische Umfeld. Den deutschen Teil der Studie – durchgeführt in NRW und Schleswig-Holstein – haben Prof. Dr. Hermann Josef Abs (Universität Duisburg Essen) und Prof. Dr. Katrin Hahn-Laudenberg (Universität Leipzig) verantwortet.
Für die ICCS 2022 wurden in 24 überwiegend europäischen Bildungssystemen Achtklässler:innen verschiedener Schulformen, ihre Lehrkräfte und Schulleitungen befragt. »Unsere Auswertungen zu den Themen Europa, Identität, Digitalisierung, Unterricht und Lehrkräftebildung verdeutlichen, dass politische Bildung für unsere Gesellschaft relevanter denn je ist«, betonen die Professoren Abs und Hahn-Laudenberg. Sie sagen auch mit Blick auf die Befragungen in NRW und Schleswig-Holstein: »Die Klassenzimmer werden politischer. Jugendliche nehmen sie als offener für Diskussionen wahr als noch bei der vorherigen Studie 2016.« Auch die Beziehungen untereinander und zu den Lehrkräften werden überwiegend positiv eingeschätzt. Was jedoch aufhorchen lässt: Etwa ein Viertel der in Deutschland Befragten berichten von Diskriminierungserfahrungen durch Mitschüler:innen und/oder Lehrkräfte.
Lassen Ukraine-Krieg, das Erstarken der nationalen Rechten und andere Herausforderungen die jungen Menschen an der EU zweifeln? Unter allen Befragten der Studie ist die Zustimmung für ein gemeinsames Europa hoch. Schüler:innen in NRW und Schleswig-Holstein haben laut der Erhebung jedoch weniger positive Erwartungen als Gleichaltrige anderer Länder. Nur ein Drittel von ihnen glaubt an einen künftigen Frieden in Europa. In vorherigen Untersuchungen waren sie noch hoffnungsvoller.
Knapp zwei Drittel der in Deutschland befragten Schüler:innen fühlen sich Europa zugehörig. Zwischen 80 und 94 Prozent befürworten, dass es gemeinsame Gesetze in der EU gibt, Bildungsabschlüsse anerkannt werden, und sie schätzen die wirtschaftlichen Vorteile. Bei der kommenden Europawahl dürfen in Deutschland erstmals 16-Jährige wählen. Die Professor:innen Hermann Josef Abs und Katrin Hahn-Laudenberg betonen, »wie wichtig es daher ist, Europa bezogene Lehrinhalte stärker und früher als bisher im Schulunterricht zu verankern. Das heißt aber auch, dass Lehrkräfte gezielt auf diese Inhalte vorbereitet werden – am besten im Rahmen eines fachbezogenen Lehramtsstudiums.«
Im ersten Teil der Auswertung (veröffentlicht am 28. November 2023) hatten die Autor:innen u.a. herausgestellt, dass das deutsche Schulsystem die ungleichen Startchancen von Jugendlichen auf politisches Wissen und politische Beteiligung festigt. »Die jetzigen Ergebnisse verstärken den Eindruck, dass Schüler:innen an Gymnasien ein höheres Maß an Lern- und Partizipationsmöglichkeiten zukommt als an anderen Schulformen«, so Abs und Hahn-Laudenberg.