Über diskriminierende Praktiken der Polizei wie das sogenannte Racial Profiling wird in Deutschland seit einigen Jahren diskutiert – wenn auch ohne eine belastbare, statistische Datengrundlage. Der wissenschaftliche Stab des Sachverständigenrats für Integration und Migration (SVR) hat nun anhand einer bundesweiten repräsentativen Umfrage erstmals den Zusammenhang zwischen wahrgenommener phänotypischer Differenz und Polizeikontrollen für Deutschland untersucht. Die Ergebnisse zeigen: Als ausländisch wahrgenommene Befragte werden etwa doppelt so häufig von der Polizei kontrolliert wie solche, auf die das nicht zutrifft.
»Unsere Daten zeigen, dass es ein Ungleichgewicht bei polizeilichen Kontrollen im öffentlichen Raum gibt. Menschen mit Migrationshintergrund werden häufiger überprüft als Menschen ohne einen solchen Hintergrund. Analysiert man die Daten des SVR-Integrationsbarometers genauer, zeigt sich, dass dafür nicht der Migrationshintergrund an sich ausschlaggebend ist, sondern die phänotypische Differenz. Damit gemeint sind vor allem äußere Merkmale: die Hautfarbe und die Kleidung wie etwa ein Kopftuch«, erläutert Maximilian Müller, einer der Autoren des Policy Briefs. Befragte, die nach eigenen Angaben als ausländisch wahrgenommen werden, berichteten mit 8,3 Prozent etwa doppelt so häufig von Polizeikontrollen im öffentlichen Raum wie Befragte, die aus ihrer Sicht der vorherrschenden, also der weißen Norm entsprechen. Hier haben nur 4,4 Prozent angegeben, polizeilich überprüft worden zu sein.
»Die Ergebnisse zeigen außerdem, dass bei Polizeikontrollen intersektionale Effekte auftreten. Die Wahrscheinlichkeit für eine Polizeikontrolle unterscheidet sich nicht nur nach phänotypischer Differenz, sondern gleichzeitig auch nach weiteren Merkmalen wie Geschlecht und Alter«, so Maximilian Müller. Unabhängig vom Aussehen werden Männer im Vergleich zu Frauen grundsätzlich häufiger kontrolliert. Männer in der Altersgruppe zwischen 15 bis 34 Jahren, die als ausländisch wahrgenommen werden, berichten von den meisten Kontrollen. Sie werden deutlich häufiger überprüft als Gleichaltrige ohne entsprechende äußerliche Merkmale (18,4 Prozent vs. 11,9 Prozent). »Zu beachten ist die unterschiedliche Zusammensetzung der beiden Gruppen nach Geschlecht und Alter. Anders formuliert: Phänotypisch differente Personen werden bis zu einem gewissen Grad allein deshalb häufiger von der Polizei kontrolliert, weil es in dieser Gruppe schlicht mehr junge Männer gibt. Aber auch wenn man diesen sowie weitere soziodemografische Unterschiede in der Komposition der Gruppen statistisch berücksichtigt, bleibt ein signifikanter Unterschied in der Kontrollwahrscheinlichkeit. Die Ergebnisse sind somit ein Indiz, dass Racial Profiling in Deutschland existiert«, erläutert Maximilian Müller.
Racial Profiling lässt sich in Deutschland nach Angaben des SVR nicht anhand administrativer Daten untersuchen, da die entscheidenden Merkmale in den einschlägigen Statistiken nicht erfasst würden. »Repräsentative Erhebungen wie das SVR-Integrationsbarometer sind daher eine wichtige Basis, um das Phänomen zu untersuchen«, so Alex Wittlif, Co-Autor des SVR-Policy Briefs zu Racial Profiling in Deutschland. »Erstmals können wir empirisch auf einer repräsentativen Basis Unterschiede in der Kontrollhäufigkeit von phänotypisch differenten Menschen untersuchen. Dabei ist wichtig anzuerkennen, dass die vermehrten Kontrollen nicht zwangsläufig nur auf Racial Profiling zurückzuführen sind. Es gibt viele Faktoren, die hier eine Rolle spielen können – nicht alle konnten in unserem Studiendesign erfasst werden. So können wir den Effekt einer unterschiedlichen Wohnortverteilung nicht ‚herausrechnen‘. Kriminalitätsschwerpunkte, in deren Umgebung generell häufiger kontrolliert wird, befinden sich häufig in sozial benachteiligten Stadtvierteln mit einem hohen Anteil an Zugewanderten und ihren Nachkommen«, so Alex Wittlif.
Fakt ist: Polizeikontrollen, die auf der Grundlage äußerlicher Merkmale und nicht verhaltensmotiviert stattfinden, stellen eine unzulässige Ungleichbehandlung dar und verstoßen gegen das verfassungsrechtliche Diskriminierungsverbot. »Deshalb ist es so wichtig, die Sachlage zu klären. Die Folgen von Racial Profiling können immens sein – das gilt einerseits für die Betroffenen, andererseits aber auch für die Legitimation und Akzeptanz polizeilichen Handelns an sich. Deshalb ist die geplante Einführung sogenannter Kontrollquittungen zu begrüßen, die im Rahmen der Neustrukturierung des Bundespolizeigesetzes vorgesehen sind“, erläutert Dr. Jan Schneider, Leiter des Bereichs Forschung beim SVR.
Was in Großbritannien und New York bereits umgesetzt wird, könnte künftig auch in Deutschland stattfinden: Verdachtsunabhängige Kontrollen der Polizei würden dann systematisch protokolliert und dadurch auf allen Seiten zu mehr Bewusstsein führen. »Um die Daten für weitere Forschung nutzbar zu machen, sollten die Quittungen verpflichtend ausgestellt werden, zumindest sollten die Kontrollierten über die Möglichkeit einer solchen Bescheinigung aufgeklärt werden. Außerdem muss darin die ethnische Zugehörigkeit als Kategorie sichtbar gemacht werden – etwa über eine Selbsteinschätzung der Kontrollierten«, so Dr. Schneider weiter. »Racial Profiling betrifft darüber hinaus nicht nur die Bundespolizei. Auch die Bundesländer sollten die Einführung von Kontrollquittungen prüfen.«
Für das SVR-Integrationsbarometer 2022 wurden zwischen Ende November 2021 und Anfang Juli 2022 insgesamt 15.005 Personen mit und ohne Migrationshintergrund befragt. Dabei gaben insgesamt 15,7 Prozent aller Befragten an, als phänotypisch different wahrgenommen zu werden.
Der SVR-Policy Brief »Racial Profiling bei Polizeikontrollen. Indizien aus dem SVR-Integrationsbarometer« kann hier heruntergeladen werden.