Soziale Brennpunkte – arm und abgehängt für immer?

»Past Forward«-Reporter Yousuf Mirzad ist in einem Problemviertel in Bremen aufgewachsen, oft stigmatisiert als einer aus einem »sozialen Brennpunkt«. Sein Leben hat das lange überschattet. Er fragt sich: Wieso hat jede Stadt solche Viertel, wie sind sie entstanden und was kann man tun, damit das anders wird? Seine Recherchereise führt ihn unter anderem in den Großen Dreesch in Schwerin, zur High Deck-Siedlung nach Berlin und nach Bremen-Tenever, einst das städtebauliche Vorzeigeprojekt Europas. Er trifft Bewohnerinnen und Bewohner der ersten Stunde und heutige, politisch und sozial Tätige und erfährt beim Blick in die Vergangenheit, dass die Stadtplanenden damals ganz anderes im Sinn hatten, warum die Probleme in Ost und West heute ähnlich sind, die Entwicklung aber deutlich anders lief, und wo Lösungsansätze funktionieren.

Die soziale Ungleichheit in Deutschlands Städten wächst. Immer seltener wohnen arme und reiche Menschen Tür an Tür, immer häufiger stattdessen in kaum durchmischten Vierteln. In vielen Städten existieren massiv benachteiligte Viertel – sogenannte soziale Brennpunkte. Mit dramatischen Folgen, vor allem für Kinder und Jugendliche, die hier aufwachsen. Denn ihre Lebenschancen reduziert das erheblich, was Bildungserfolge angeht, Gesundheit, aber auch Kriminalität.

In Schwerin ist die Kluft zwischen Arm und Reich gewaltig, überhaupt sind ostdeutsche Städte besonders betroffen von dieser Entwicklung. Yousuf trifft Andy Hömke, der 1978 seine Wohnung im Stadtteil Dreesch bezog: »Das war ein absoluter Glückstreffer damals, dass wir eine Wohnung hier ergattert haben. Hier wollte jeder wohnen, in einer modernen Neubau-Wohnung, statt in den total verfallenen Altbauten in der Innenstadt.« Zu DDR-Zeiten lebten knapp 60.000 Menschen in den Plattenbauten im Dreesch, ein stabiler, sozial gut durchmischter Stadtteil. Das war auch DDR-Staatsräson.

Mit der Wende ändert sich das grundlegend – im Dreesch wie in den meisten ostdeutschen Großbausiedlungen. Innerhalb weniger Jahre entsteht eine »historisch beispiellose Dynamik der sozialräumlichen Spaltung«, erklärt Prof. Dr. Marcel Helbig, der eine Studie zur sozialen Architektur deutscher Städte verfasst hat. Arbeitslosigkeit, Abwanderung, weniger Geburten führen zu Leerständen, wer es sich leisten kann, zieht in die inzwischen sanierten Altbauten in den Innenstädten. Sozialwohnungen entstehen vor allem in den Großbausiedlungen, wo sich aufgrund der günstigen Mieten ohnehin schon die einkommensschwächeren Schichten konzentrierten. Einst sozial stabile Stadtteile verwandeln sich in wenigen Jahren in stark segregierte, in denen sich Armut ballt.

Eine ähnliche Entwicklung, wenngleich über einen deutlich längeren Zeitraum hat es auch in westdeutschen Städten gegeben. »Das Absurde: eigentlich sollten genau diese Stadtteile, die inzwischen als Problemviertel gelten, einmal moderne Modellquartiere werden«, erkennt Yousuf. So galt Bremen-Tenever in den 70er Jahren als Vorzeigeprojekt für moderne Stadtentwicklung. Doch dieser Traum erfüllte sich nie, weiß Joachim Barloschky, der 1982 in die Hochhäuser einzog und dann jahrzehntelang als Quartiermanager hier tätig war. Anfang der 90er Jahre galt Tenever vielen als Inbegriff eines sozialen Brennpunkts. Erst als dort Wohnenden wie Mihdiye Akbulut sich für soziale Projekte in ihrem Viertel einsetzen, ändert sich Tenevers Image. Benachteiligt ist der Stadtteil aber noch immer, mehr als ein Drittel der Bewohnerinnen und Bewohner, besonders Kinder und Jugendliche, erhalten Transferleistungen.

Seit den Silvester-Krawallen ist Berlin-Neukölln erneut ins Blicklicht gerückt, vor allem die High-Deck-Siedlung. »Wie konnte es zu dieser Eskalation kommen?«, will Yousuf von Politiker Falko Liecke wissen, der lange hier als Stadtrat tätig war und meint, Neukölln sei erst der Anfang.

Die neuste Folge von »Past Forward« ist exklusiv in der ARD Mediathek zu sehen.

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