Je näher man an einem ehemaligen Konzentrationslager lebt, desto eher neigt man zu Fremdenfeindlichkeit und Intoleranz? Nein, sagen Politikwissenschaftler:innen der Universitäten Duisburg-Essen (UDE), Cornell und Irvine (Kalifornien) – und widersprechen damit einer Studie von 2020, die Folgen für die Erinnerungsarbeit hätte. Ihre Analyse haben die Forschenden nun im American Political Science Review veröffentlicht.
Im selben Magazin hatte 2020 ein amerikanisches Team mit diesem Ergebnis für Aufsehen gesorgt: Wer heutzutage in der Nähe zu Konzentrationslagern lebt, ist fremdenfeindlicher. Das interpretierten die Autor:innen als eine Art Abwehrreaktion gegenüber Schuldgefühlen, die durch die Konzentrationslager als Erinnerung an die Gräueltaten der NS-Zeit hervorgerufen werden. »Die Studie ließ uns aufhorchen: Denn man erwartet eigentlich, dass Erinnerungsorte als wichtig empfunden werden, weil sie der Aufarbeitung des Unrechts dienen. Doch die Autor:innen fanden mittels Analyse von Umfragedaten heraus, dass die Wohnortnähe zu einem solchen Mahnmal Vorurteile und Fremdenfeindlichkeit erhöht«, erklärt PD Dr. Conrad Ziller vom Institut für Politikwissenschaft der UDE.
Das hätte Folgen. Sollte auf Mahnmale verzichtet werden, weil die Erinnerung an historisches Unrecht rechte und fremdenfeindliche Gesinnung fördert? Sollten Veranstaltungen in Gedenkstätten oder Besuche von Schüler:innen dort eingeschränkt werden? Nein, sagt das internationale Autor:innen-Team. Ihre Überprüfung der Ausgangsstudie und erneute Analyse der Daten zeigt: Es gibt keinen systematischen Zusammenhang zwischen Wohnortnähe und Fremdenfeindlichkeit. Das Team fand sogar eher Indizien, dass im Umfeld von ehemaligen Lagern weniger Menschen rechtspopulistisch wählen.
»Einen gewichtigen erklärenden Faktor für die Entstehung von Fremdenfeindlichkeit und Vorurteilen haben die US-Amerikaner in ihrer Statistik nicht berücksichtigt«, sagt Ziller: »Die Unterschiede zwischen den Bundesländern.« Sie unterscheiden sich in wichtigen Punkten wie ökonomischen demografischen Strukturen, Schulcurricula oder regionalen Ausrichtungen politischer Parteien, bestes Beispiel: die Gräben zwischen Ost- und Westverbänden der AfD. »Wenn man die statistische Auswertung also um die ‚Kontrollvariable‘ Bundesländer erweitert, verschwindet der Zusammenhang zwischen der Wohnortnähe und der politischen Einstellung. Wir haben das gemacht und die Ergebnisse der Originalstudie fallen daraufhin wie ein Kartenhaus in sich zusammen.«
Für Ziller ist der Fall ein gutes Beispiel dafür, wie wichtig eine gewissenhafte wissenschaftliche Arbeitsweise ist. »Die Studie zeigt, warum man seine Ergebnisse immer hinterfragen sollte – manchmal verstecken sich dahinter eben auch nur scheinbare Zusammenhänge.«