Krieg in der Ukraine, steigende Energiepreise, Klimawandel und die Folgen der Pandemie – trotz sich überlagernder Krisen war 2022 laut einer Analyse des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB) kein Jahr konfrontativer Proteste. Im Gegenteil: Die Radikalisierungstendenz der vergangenen beiden Corona-Jahre setzte sich demnach 2022 nicht fort. Obwohl Teile der Klimabewegung, allen voran »Die Letzte Generation«, im Herbst häufig auf Protestformen wie Straßenblockaden und Flughafenbesetzungen zurückgriffen hätten, sei das Niveau konfrontativer und gewaltförmiger Proteste deutlich unter dem der pandemischen Vorjahre geblieben. Auch die steigenden Energie- und Lebenshaltungskosten hätten im vergangenen Jahr weniger mobilisiert als erwartet. Zu diesen Ergebnissen kommen WZB-Forschende des Zentrums für Zivilgesellschaftsforschung in ihrem Protest-Monitoring für das zurückliegende Jahr.
Im Vergleich zu den Pandemiejahren 2020/21 habe es 2022 weniger, dafür größere Protestereignisse mit hohen Teilnehmendenzahlen gegeben. Der »heiße« Herbst sei mit Blick auf die erwarteten Proteste zur Energiekrise ausgeblieben. Weniger als zehn Prozent der insgesamt erfassten Protestereignisse seien der Mobilisierung zu Energie- und Lebenshaltungskosten zuzuordnen.
Zwar habe sich mehr als jede:r vierte in einer repräsentativen Umfrage vorstellen können, an einer Demonstration gegen die steigenden Energie- und Lebenshaltungskosten teilzunehmen. Allerdings sinke die Teilnahmebereitschaft an solchen Protesten, wenn sie von politischen Parteien mitorganisiert würden. Dies gelte insbesondere für Demonstrationsaufrufe, die von der AfD unterstützt werden. Der Partei Die Linke sowie der AfD habe es 2022 an Mobilisierungskraft gefehlt. Die Schwäche der mobilisierenden Akteure sei neben den Entlastungspakten der Bundesregierung und der Überlagerung mit anderen Protestthemen ein zentraler Faktor für das Ausbleiben einer starken Protestwelle gewesen.
Generell hätten etwa zwei Drittel der Befragten viel Verständnis für die Proteste gegen steigende Energie-Preise gezeigt – vor allem im Vergleich zu den Corona-Protesten, für die nur etwa jede:r Vierte Verständnis aufbrachte. Insbesondere Wählerinnen und Wähler der AfD würden von den Protesten angesprochen, am wenigsten die Wähler:innen von Bündnis 90/Die Grünen. Die Menschen, die Proteste befürworten, unterstützten zwar ökonomisch eher linke Forderungen, wie etwa die Einführung eines Gaspreisdeckels, verträten aber gleichzeitig kulturell konservative und rechte Positionen, zum Beispiel die Begrenzung der Aufnahme Geflüchteter.
Bestimmende Themen waren im vergangenen Jahr laut der Analyse der Umwelt- und Klimaschutz sowie die Solidarität mit der Ukraine und den Protesten im Iran. Nach zwei Jahren Pandemie sei der Protest auf die Straße zurückgekehrt. WZB-Forschende sprechen daher auch von einer Normalisierung des Protestgeschehens. Es sei wieder vermehrt zu Massendemonstrationen bei gleichzeitigem Rückgang radikaler Protestformen gekommen.