Wie wirkt sich der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine auf das Leben der Menschen in Russland aus? Wie ist die Haltung der russischen Gesellschaft zu diesem Konflikt? Die ARD-Dokumentation »Russland im Krieg: mitmachen oder schweigen?« wagt einen Blick hinter die von Staatspropaganda und Repression errichteten Kulissen.
Russlands Einmarsch in die Ukraine war ein Schock für Europa. Doch anders als im Westen erwartet, bleiben große Massenproteste in Russland weitgehend aus: Weder unmittelbar nach Kriegsbeginn noch im Herbst, als Putin die Teilmobilisierung der Bevölkerung anordnet, kommt es zu nennenswerten Protesten. Die Staatsgewalt hat das Land fest im Griff.
Doch während auf den ersten Blick in Russland Normalität herrscht, hat sich doch für die Russ:innen eine Menge verändert. Fast unsichtbar ist die Veränderung, aber sie ist immer deutlicher spürbar. Das Land schottet sich vom Westen ab, westliche Firmen verlassen Russland, Reisen ins europäische Ausland sind kaum noch möglich, die Redefreiheit ist massiv eingeschränkt. Wem vorgeworfen wird, Falschaussagen über den Krieg oder das russische Militär zu verbreiten, dem drohen bis zu 15 Jahre Haft.
ARD-Korrespondent Demian von Osten lebt seit fast fünf Jahren in Russland. Er hat selbst erlebt, wie sich ein lähmendes Schweigen im Land ausbreitet, wie die letzten Freiheiten schwinden, wenn es um den Krieg und Politik geht. Für die Weltspiegel Doku hat er seit Kriegsbeginn vier Russ:innen begleitet:
- Darja Heikinen aus St. Petersburg demonstrierte noch kurz nach Kriegsbeginn, wurde dann aber festgenommen – jetzt sieht sie in politischer Arbeit keinen Sinn mehr. Es ist gefährlich geworden für Andersdenkende in Russland. Hunderttausende haben das Land verlassen, weil sie sich ihre Meinung nicht nehmen lassen wollen oder in Russland keine Zukunft mehr sehen.
- Auch Konstantin Osnos aus Moskau hat entschieden: Sein Russland existiert nicht mehr. Gemeinsam mit seiner Frau und den zwei Kindern ist der 54-jährige im Sommer nach Israel ausgewandert. Noch vor der Teilmobilmachung, die weitere Hunderttausende Russen in die Flucht getrieben hat. Konstantin hat Freunde und Familie zurück gelassen – auch seine Eltern, die sich nun fragen, ob sie ihren Sohn und ihre Enkel jemals in Russland wiedersehen werden.
- Dmitrij Surusow aus Kaluga ist geblieben. Aber in seiner Stadt ist heute vieles anders. Dmitrij hat in der Qualitätskontrolle im Volkswagen-Werk gearbeitet. Doch das Werk steht still – wie viele andere westliche Unternehmen erwägt offenbar auch VW einen Verkauf. Volkswirte erwarten, dass die Wirtschaft in diesem Jahr um vier Prozent sinkt. Die Inflation liegt bei mehr als 12 Prozent. Und Dmitrij hat Angst, dass er in Russlands Armee einberufen werden könnte.
- Roman Ponomarjow aus Stawropol unterstützt Russlands Ukraine-Krieg. Der Landwirt hat auf seinem Hof ein großes »Z« aus Stroh aufgestellt – und lässt Kritik an Russlands Krieg nicht zu. Er ist einer von den vielen, die Putins Kurs mittragen, die der Propaganda im Staatsfernsehen Glauben schenken. Nur wenige Kilometer entfernt von seinem Hof finden sich die Spuren dieses Krieges: frische Gräber von Soldaten, die in der Ukraine gestorben sind.
Die Doku zeigt eindrücklich, wie sich das Leben für die Menschen in Russland im Laufe des letzten Jahres verändert hat und wie die russische Gesellschaft über den Angriffskrieg auf die Ukraine denkt. Dabei räumen die Autoren auf mit manchen Erwartungen aus dem Westen, wie die Russ:innen wohl reagieren würden. Und gleichzeitig nimmt Korrespondent Demian von Osten die Zuschauenden auch mit hinter die Kulissen – und zeigt auf, wie schwierig die Arbeit für Journalist:innen in Russland geworden ist. Ein Land, das viele seiner Bürger seit Kriegsausbruch im Februar 2022 vor die Wahl gestellt hat: gehen oder schweigen.