Ausstellung betrachtet historische Zäsuren im Spiegel möglicher alternativer Geschichtsverläufe

Ob der Fall der Berliner Mauer, das gescheiterte Misstrauensvotum gegen Willy Brandt oder die Konfrontation sowjetischer und amerikanischer Panzer am Checkpoint Charlie – es hätte auch anders kommen können. Die Entscheidungen einzelner Personen können den Verlauf von Geschichte verändern. Die hierbei gleichzeitig nicht eingeschlagenen Wege sind das zentrale Motiv einer neuen Ausstellung im Deutschen historischen Museum (DHM), die bis zum 24. November 2024 besucht werden kann.

Aus dieser ungewöhnlichen Perspektive wagt das DHM ein Ausstellungsexperiment und zeigt Geschichte einmal anders als gewohnt: Im Mittelpunkt von »Roads not Taken. Oder: Es hätte auch anders kommen können« stehen zentrale Schlüsseldaten der deutschen Geschichte von 1989 bis 1848, an denen einschneidende historische Zäsuren auch eine andere Wendung hätten nehmen können.
Entlang von 14 markanten Einschnitten in der deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts erkundet der Historiker Dan Diner die Potenziale von ausgebliebener Geschichte – verhindert von Zufällen, abgewendet durch Fehlzündungen oder dem Gewicht persönlicher Unzulänglichkeiten. Eben das, was geschichtsphilosophisch als Kontingenz verstanden werden kann. Dabei wird keine alternative Wahrheit verbreitet oder gar eine kontrafaktische Geschichtserzählung entworfen. Vielmehr geht es um die Ausstellung eines Arguments: wie wahrscheinlich wäre eine im Geschehen angelegte Entwicklung gewesen, die der Geschichte eine andere Richtung gegeben hätte? Dieser für ein historisches Museum ungewohnte Ansatz soll es den Besucher:innen ermöglichen, bekannte Fakten in neuem Licht zu sehen und den Blick für die Offenheit von Geschichte als Ergebnis von Konstellationen und Entscheidungen, von Handlungen und Unterlassungen zu schärfen – um so die wirklich eingetretene Geschichte besser verstehen zu lernen.

Der Reigen dieser Einschnitte beginnt im Jahr 1989 mit der Friedlichen Revolution in der DDR und endet im Jahr 1848, als im Bereich Deutschlands erstmals ein demokratischer Aufbruch gewagt wurde. Die Ausstellung greift in umgekehrter Reihenfolge Themen wie Ostpolitik, Mauerbau, Kalter Krieg, Zweiter Weltkrieg und Holocaust, die Machtübertragung auf Hitler oder Erster Weltkrieg und Deutscher Krieg an entscheidenden Kipppunkten auf – um der Frage nachzugehen, wie knapp es war, dass es ganz anders hätte kommen können. Auf diese Art und Weise erscheinen Wegmarken wie die Stalinnoten von 1952, der Koreakrieg 1950 in Verbindung mit der Berliner Luftbrücke 1948/49, die missglückte Sprengung der Brücke bei Remagen 1945, das Attentat auf Adolf Hitler 1944, die Rheinlandbesetzung 1936, der Sturz von Reichskanzler Brüning 1932, die Revolution 1918, der Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 oder der Deutsche Krieg 1866 in einem neuen Licht.

Die Ausstellung erprobt dazu nicht nur inhaltlich-kuratorisch, sondern auch auf der Ebene der Ausstellungsgestaltung Neues: Auf 1.000 Quadratmetern veranschaulicht sie, dass Geschichte sich nicht notwendig genauso hat entwickeln müssen – sondern vielmehr eine Aneinanderreihung von mehr und weniger wahrscheinlichen Konstellationen ist. Zu sehen ist dies in den vom Berliner Szenografiebüro chezweitz künstlerisch inszenierten »Bildern«, die einen Blick auf die in der Situation angelegte, aber ausgebliebene historische Möglichkeit geben. Dem gegenüber stehen in einem »Wirklichkeitsraum« die tatsächlichen historischen Ereignisse, die zu jenem Kippmoment führten, der sich im historischen Gedächtnis als Zäsur eingebrannt hat.

Die unerwartete historische Wendung des Jahres 1989 verdeutlicht exemplarisch das Spannungsverhältnis von Geschichte gewordener Wirklichkeit und nicht realisierten Möglichkeiten: Die meisten Menschen empfanden den Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 als Glücksfall. Die auf der Mauer Tanzenden waren das ikonografische Bild einer Friedlichen Revolution ohne den Einsatz staatlicher Gewalt. Doch dieser Ausgang war nicht selbstverständlich. Als erster Staat hatte die DDR offiziell das Vorgehen der chinesischen Führung gegen die Demonstrierenden auf dem Platz des Himmlischen Friedens im Juni 1989 gebilligt. Ein Militäreinsatz gegen die aufbegehrende Bevölkerung schien auch in der DDR nicht ausgeschlossen, galt sogar als wahrscheinlich.

Unterschiedlich nahe und ferne historische Szenarien werden beleuchtet, ohne die geschehene Geschichte umschreiben zu wollen. Im besten Fall erfahren die Besucher:innen etwas über Dilemmata der Handelnden, über historische Verantwortung und Schuld. Über all dem, und das macht die Gegenwärtigkeit dieser Ausstellung aus, steht die Frage nach individuellen Handlungsspielräumen: Und nicht zuletzt lädt die Ausstellung ihr Publikum dazu ein, etwas über historisches Urteilen zu lernen – und sei es eben nur im Nachhinein.

Abschließend führt die Ausstellung in die Gamestation »Herbst 89 – Auf den Straßen von Leipzig«. In der interaktiven, auch als Onlineversion verfügbaren Graphic Novel schlüpfen die Museumsgäste in die Rollen von sieben Charakteren und durchlaufen aus unterschiedlichen Perspektiven die friedlichen Proteste am 9. Oktober 1989 in Leipzig. Dabei treffen sie konkrete Entscheidungen und beeinflussen den weiteren Verlauf der historischen Ereignisse.

Anhand von rund 500 Gemälden, Zeichnungen, Grafiken, Skulpturen, Dokumenten, Münzen, Fotografien, Publikationen, Plakaten, Zitaten, Filmausschnitten, Tonaufnahmen und interaktiven Stationen entfaltet sich gegen die chronologische Erzählung das Bild einer glücklich verlaufenen Geschichte der vereinten Bundesrepublik, die keineswegs zwangsläufig war, sondern vielmehr von vielen Weggabelungen geprägt ist.

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