Antimuslimische sowie antisemitische Einstellungen sind in Deutschland kein Randphänomen, sondern bei Menschen mit und ohne Migrationshintergrund durchaus verbreitet. Dabei manifestieren sich die Ressentiments jedoch unterschiedlich. Der wissenschaftliche Stab des Sachverständigenrats für Integration und Migration (SVR) hat untersucht, wie negative Einstellungen bestimmter Bevölkerungsgruppen mit soziodemographischen, migrationsbedingten und sozialen Merkmalen zusammenhängen und auf Basis dieser differenzierten Analyse Handlungsempfehlungen entwickelt.
»Für eine vielfältige Gesellschaft sind antimuslimische und antisemitische Einstellungen ein großes Problem. Sie gefährden den sozialen Zusammenhalt und führen im schlimmsten Fall zu Gewalt. Die hohe Zahl registrierter islamfeindlicher und antisemitischer Straftaten zeigt: Es besteht Handlungsbedarf«, sagt Dr. Jan Schneider, Leiter des wissenschaftlichen Stabs des SVR. Für die Gesamtbevölkerung in Deutschland sind antimuslimische oder antisemitische Einstellungen auf der Basis regelmäßiger Befragungen recht gut untersucht. Wie verbreitet sie in verschiedenen Herkunftsgruppen unter der Bevölkerung mit Migrationshintergrund sind, wurde bislang kaum systematisch erforscht. »Hier setzt die Studie an: Mit der Analyse von Daten des SVR-Integrationsbarometers 2020 können wir nun gezielter ermitteln, mit welchen Merkmalen antimuslimische und antisemitische Einstellungen im Einwanderungsland zusammenhängen.«
So sind Befragte mit Migrationshintergrund, die in Deutschland die Schule besucht haben, seltener antisemitisch oder antimuslimisch eingestellt als jene, die in einem anderen Land zur Schule gegangen sind. »Auch bei Menschen, die regelmäßig Kontakt zu Personen anderer Herkunft haben, sind Ressentiments deutlich seltener«, erläutert Dr. Nora Storz, Co-Autorin der Studie und wissenschaftliche Mitarbeiterin beim SVR. So äußern sich Befragte mit und ohne Migrationshintergrund, die Menschen mit anderer Herkunft in ihrem Freundes- oder Bekanntenkreis haben, seltener antimuslimisch. Und auch wenn Ressentiments gegenüber Musliminnen und Muslimen in den vergangenen zehn Jahren insgesamt abgenommen haben, sind sie weiterhin erkennbar. Noch größer ist die Skepsis gegenüber dem Islam als Religionsgemeinschaft an sich. »Das gilt vor allem für Menschen mit Migrationshintergrund, die nicht selbst dem muslimischen Glauben angehören. Nur knapp 43 Prozent von ihnen sagen, dass der Islam in die deutsche Gesellschaft passt. Bei den Befragten ohne Migrationshintergrund sagen dies mehr als die Hälfte«, so Dr. Storz.
Die Studie bietet auch Aufschlüsse über antisemitische Einstellungen: Statistisch gesehen nehmen Menschen mit Migrationshintergrund häufiger eine antisemitische Haltung ein als Menschen ohne. »Nach Auswertung der Daten gehen wir davon aus, dass antisemitische Einstellungen unter türkeistämmigen Musliminnen und Muslimen zum Teil religiös-theologisch begründet sind. Die Haltung von arabischstämmigen Zugewanderten ist dagegen eher auf das politisch-gesellschaftliche Narrativ im Herkunftsland zurückzuführen. Hier spielt der Nahostkonflikt eine nicht unbedeutende Rolle«, berichtet Dr. Nils Friedrichs, wissenschaftlicher Mitarbeiter beim SVR und ebenfalls Co-Autor der Studie.
Zudem sei deutlich geworden, dass auch Diskriminierungserfahrungen zum Tragen kämen. »So neigen Menschen mit Migrationshintergrund, die sich aufgrund ihrer Herkunft diskriminiert fühlen, häufiger zu antisemitischen Einstellungen als Menschen, die eine solche Diskriminierung nicht erfahren haben. Jene hingegen, die sich wegen ihrer Religion benachteiligt sehen, zeigen eher antimuslimische Einstellungen«, so Dr. Friedrichs. »Für die Gestaltung von Präventionsmaßnahmen ist das eine ganz wesentliche Erkenntnis – das gilt sowohl für das Zusammenleben im Alltag als auch für die Beseitigung strukturell bedingter Benachteiligungen.«
»Um Vorurteile gegenüber anderen abbauen zu können, ist der Kontakt von Menschen unterschiedlicher Herkunft und Religion besonders wichtig. Der interkulturelle und interreligiöse Austausch sollte deshalb vor allem mit Hilfe niedrigschwelliger Angebote etwa auf kommunaler Ebene gefördert werden, gerade unter jungen Menschen«, erläutert Dr. Schneider. Auch die Religionsgemeinschaften spielten hier eine wichtige Rolle. Muslimische Gemeinschaften könnten etwa dadurch einen Beitrag leisten, dass sie in Deutschland ausgebildete Imame einstellen. »Wie die Studienergebnisse zeigen, trägt der Schulbesuch zum Abbau von antisemitischen Ressentiments entscheidend bei. Das liegt unter anderem daran, dass der Holocaust im deutschen Lehrplan eine zentrale Stellung einnimmt. Eine verstärkte Aufklärung über den Holocaust ist deshalb auch im Rahmen integrationspolitischer Maßnahmen sinnvoll – zum Beispiel bei Neuzugewanderten im Rahmen der Orientierungskurse.«
Das SVR-Integrationsbarometer ist eine repräsentative Bevölkerungsumfrage unter Menschen mit und ohne Migrationshintergrund in Deutschland. Es misst das Integrationsklima und erhebt Einschätzungen und Erwartungen der Bevölkerung in Bezug auf Integration und Migration. Die Befragung findet alle zwei Jahre statt. Das nächste Integrationsbarometer wird im Dezember 2022 veröffentlicht.