Christoph Boekels Vater war überzeugter Wehrmachtsoffizier und diente an verschiedenen Kriegsschauplätzen. Anhand von Tagebüchern und Briefen vermittelt Filmemacher Christoph Boekel erschütternde Innenansichten des Kriegs. Ein Film über dessen zerstörerische Kraft und traumatisierende Wirkung auf einen Offizier und seine Familie. Der Sender 3sat zeigt den Dokumentarfilm »Der Sog des Krieges – Eine Familiengeschichte« heute um 22.25 Uhr in Erstausstrahlung sowie vorab in seiner Mediathek.
Im November 1942 wurde der Vater von Christoph Boekel als fronterfahrener und ideologisch zuverlässiger Offizier zu der neu aufgestellten »Strafdivision 999« versetzt, eine Einheit, in der Sträflinge und politisch Verfolgte zu Soldaten für Deutschland ausgebildet und in den Kampf geschickt wurden. Er nahm damals bereits Pervitin, die Droge der Wehrmacht, mit der die Kampfkraft der Soldaten durch ein rauschhaftes Hochgefühl gesteigert werden sollte. Nach der Ausbildung wurde die Truppe zur Besatzung nach Belgien und Südfrankreich verlegt, anschließend über Neapel nach Tunesien. Seine Frau war zu dieser Zeit mit ihrem ersten Kind im achten Monat schwanger. In dem Pulk von Flugzeugen, in dem Boekels Vater im April 1943 nach Tunis flog, wurde ein Drittel der Maschinen über dem Mittelmeer abgeschossen. Bei den Kämpfen in Tunesien hatte er Glück im Unglück: Er erhielt einen Schulterdurchschuss und konnte noch nach Deutschland ausgeflogen werden, wo er sich erholte. Die »Division 999« wurde im Mai 1943 vollständig aufgerieben. Nach der Neuaufstellung der »999er« Anfang 1944 wurde der Offizier mit seinem Bataillon an die dalmatinische Küste verlegt, zum Küstenschutz gegen eine alliierte Landung und zur Partisanenbekämpfung. Bei einem Angriff im Februar 1945 nahe Mostar wurde er durch einen Granatsplitter in der Lunge lebensgefährlich verwundet. Kroatische Zivilisten schleppten ihn durch die feindlichen Linien zum Hauptverbandsplatz. Er überlebte.
Christoph Boekels Vater begriff sein Erleben im Krieg als Möglichkeit zu schriftstellerischen Übungen. Das Schreiben war ihm zugleich auch Mittel der seelischen Entlastung. Er hatte kurz vor Kriegsbeginn sein Studium der Publizistik und Philosophie abgeschlossen und war um einen eigenen, ausdrucksstarken Stil bemüht. Seine Tagebücher sind eindringliche und schockierende Innenansichten des Kriegs, Dokumente aus der Unmittelbarkeit, die sein Denken, Handeln und Fühlen als Soldat offenlegen – ein ständiges Schwanken zwischen Euphorie, Depression und Abstumpfung. Die Tagebücher und Briefe, die Boekels Eltern einander schrieben, führen ihn an die Orte in Belgien, Frankreich, Tunesien, Deutschland, Kroatien und Bosnien und Herzegowina, an denen sein Vater zwischen 1942 und 1945 stationiert war. Die Bilder dieser Originalschauplätze erhalten durch die aus dem Off gelesenen Texte eine neue Dimension. Einige Archivbilder, meist Postkartenansichten der Orte, sowie Gespräche mit Zeitzeugen ergänzen die Schilderung, die Boekels Vater gibt. Eingefügt in diese Chronologie der Kriegserlebnisse sind Gespräche des Autors mit seinen beiden Brüdern, in denen sie sich zum ersten Mal über die tiefgreifenden Auswirkungen, die der Krieg auf die Familie und sie selbst hatte, austauschen. Kriege sind nicht einfach vorbei. In den Seelen der beteiligten Völker hinterlassen sie Spuren, die Generationen beeinflussen.