„Politische Jugendbildung setzt sich zum Ziel, Jugendliche für gesellschaftliches Engagement zu ermutigen und Politik und Demokratie als veränderbar und gestaltbar zu begreifen. Dabei geht sie davon aus, dass Demokratie niemals abgeschlossen ist, sondern in ihrer Unvollkommenheit immer gestaltet und weiterentwickelt werden muss.“ (16. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung 2020, S. 346)
Außerschulische politische Jugendbildung fußt auf einer gesetzlichen Normierung. Im Sozialgesetzbuch (SGB) VIII, §11 (3) ist bei den Schwerpunkten der Jugendarbeit unter 1. genannt: „außerschulische Jugendbildung mit allgemeiner, politischer, sozialer, gesundheitlicher, kultureller, naturkundlicher und technischer Bildung“. Damit ist außerschulische politische Jugendbildung als zentraler Schwerpunkt der Jugendarbeit genannt und politische Jugendbildung gleich an erster Stelle der besonderen Angebote aufgeführt. Auch das Ausführungsgesetz zum Kinder- und Jugendhilfegesetz (AG KJHG) des Landes Berlin benennt in §6 politische Bildung als eine der zentralen Aufgaben von Jugendarbeit.
Die Ziele der Jugendarbeit beschreibt der SGB VIII §11, (1) wie folgt: „Jungen Menschen sind die zur Förderung ihrer Entwicklung erforderlichen Angebote der Jugendarbeit zur Verfügung zu stellen. Sie sollen an den Interessen junger Menschen anknüpfen und von ihnen mitbestimmt und mitgestaltet werden, sie zur Selbstbestimmung befähigen und zu gesellschaftlicher Mitverantwortung und zu sozialem Engagement anregen und hinführen.“ Diese Formulierung stellt eindeutig klar, dass allen jungen Menschen (das SGB VIII bezieht sich auf die Altersspanne 0-27 Jahre) die Angebote zur Verfügung zu stellen sind, schlicht, weil es zur Förderung ihrer Entwicklung dazugehört, solche Angebote wahrnehmen zu können.
Aber auch für die Jugendhilfe generell ergibt sich aus dem SGB VIII eine unmittelbare Verpflichtung zur politischen Bildung: Nach § 1 SGB VIII hat „(j)eder junge Mensch … ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer selbstbestimmten, eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit.“ Vor allem der Aspekt der gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit verpflichtet die Jugendhilfe explizit zur politischen Jugendbildung.
Die Zielformulierung des SGB VIII ist vollständig kompatibel mit der Zielbeschreibung der politischen Bildung: Ziel politischer Bildung ist politische Mündigkeit. Politische Mündigkeit reicht von der Fähigkeit selbstbestimmt innerhalb des bestehenden gesellschaftspolitischen Rahmens agieren zu können bis hin zur kritischen Infragestellung dieses Rahmens und der – an Demokratie und Menschenrechten orientierten – Suche nach alternativen Entwicklungsmöglichkeiten. Historisch war das Freiheitsversprechen der Mündigkeit allerdings immer auch mit Exklusionsprozessen verbunden, die kritisch reflektiert werden müssen.
Aus dem allgemeinen Ziel der politischen Mündigkeit leiten sich die konkreten Handlungsziele der politischen Bildung ab: Handlungsfähigkeit, Urteilsfähigkeit, Wissen über Zusammenhänge und Erwerb von politischer Kommunikationskompetenz. Diese Handlungsziele müssen für die außerschulische politische Jugendbildung in Berlin angesichts sich verändernder gesellschaftspolitischer Rahmenbedingungen stets neu bestimmt werden. Politisches Handeln zeigt sich durch das Artikulieren eigener Meinungen, im Austausch von Argumenten, im Verhandeln von Lösungsmöglichkeiten und schließlich im Treffen von Entscheidungen. Dies kann an unterschiedlichen Orten und Lebenszusammenhängen geschehen und bezieht sich keinesfalls nur auf staatliche Politik, auch wenn hier viele wichtige Entscheidungen getroffen werden, die die Lebensumstände von Kindern und Jugendlichen betreffen.
Die wichtigsten didaktischen Grundlagen der politischen Bildung werden beschrieben mit den Begriffen:
- Subjektorientierung: Die Bildungsprozesse setzen an den Interessen und den Erfahrungen der Teilnehmer*innen an. Dies bedeutet, zunächst einmal die eigenen Interessen zu klären und ins Verhältnis zu den Interessen anderer zu setzen. Der Lernprozess ist als der der Teilnehmer*innen zu begreifen. Den politischen Bildner*innen kommt die Rolle als Lernbegleitende zu.
- Grund- und Menschenrechtsorientierung: Bei aller Teilnehmer*innenorientierung und Wertschätzung unterschiedlicher Werthaltungen und Lebenskonzepte, die Grund- und Menschenrechte sind nicht verhandelbar. Dies bedeutet auch, die Würde und die Rechte der Kinder und Jugendlichen in pädagogischen Beziehungen jederzeit zu achten.
- Indoktrinationsverbot: Nicht nur Agitation und Propaganda sind tabu, sondern auch das gesamte Lernsetting muss so gestaltet sein, dass die Teilnehmer*innen eine eigene Position entwickeln können.
- Konfliktorientierung: Demokratische Politik ist das friedliche Aushandeln von Konflikten, die auf unterschiedlichen Interessen beruhen. Angebote politischer Bildung müssen diese Interessenskonflikte sichtbar und verstehbar machen.
- Prozessorientierung: Lernprozesse benötigen Orte, Zeit und Anregung, die Teilnehmenden gestalten diese aktiv mit. Ein anregender, offener und demokratischer Lernprozess ist dabei wichtiger als ein messbares Ergebnis.
- Kritikfähigkeit: Politische Bildung will einen Prozess der kritischen Bewusstwerdung fördern. Politische Entscheidungen und Prozesse werden ebenso kritisch hinterfragt wie gesellschaftliche Entwicklungen und die Gestaltung unseres alltäglichen Lebens. Kritik ist immer auch Selbstkritik, eigene Wahrnehmungsweisen, Einstellungen und Handlungen müssen ebenso kritisch reflektiert werden.
Außerschulische politische Jugendbildung als Teil der Jugendhilfe zeichnet sich darüber hinaus durch ein spezifisches Selbstverständnis aus:
- Sie ist offen und flexibel ihren Adressat*innen, Themen und Zielen gegenüber. Sie hat keinen Vermittlungsauftrag sondern ist ein partizipativ gestaltetes Angebot.
- Sie beruht auf Freiwilligkeit. Die Kinder und Jugendlichen entscheiden, was und wieviel sie von sich einbringen wollen. Es geht um gemeinsame Aushandlungsprozesse.
- Selbst- und Mitbestimmung ist ihr Grundprinzip: Kinder und Jugendliche werden als fähig und berechtigt angesehen, aktiv mitzugestalten. Die demokratische Verfasstheit der Jugendhilfe drückt sich auch in autonom selbstverwalteten Räumen und in Form der Selbstorganisation aus.
- Sie ist an der Lebenswelt der Teilnehmer*innen orientiert. Wohnortnähe, Niedrigschwelligkeit, Ressourcen- und Netzwerkorientierung sind dabei wichtige Herangehensweisen.
- Jugendhilfe verortet sich auch im jugendpolitischen Raum als Akteur, der sich im Interesse der Kinder und Jugendlichen aktiv (jugend)politisch einmischt und darüber hinaus seine Adressat*innen ebenso dazu befähigen will.
- Sie ist durch die Pluralität der Träger gekennzeichnet. Diese weisen eine Vielfalt an Wertbegründungen und inhaltlichen Schwerpunkten auf und bieten so den heterogenen Interessen junger Menschen ein angemessenes Wunsch- und Wahlrecht. Im Sinne des Subsidiaritätsprinzips hat der Staat diese Vielfalt zu fördern und wertzuschätzen.
Außerschulische politische Jugendbildung zeichnet sich angesichts der Diversifizierung der Lebenswelten durch eine enorme Vielfalt der didaktischen Konzepte, Methoden, Themen und Zugänge aus. Die Angebotsformate müssen zu den Menschen, den Themen und den konkreten Rahmenbedingungen passen. Desto vielfältiger die Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen werden, desto vielgestaltiger und vor allem desto partizipativer gestaltet müssen die Angebote der politischen Jugendbildung, gerade im außerschulischen Bereich, sein. Die Akteure der politischen Bildung wissen dies in aller Regel sehr genau. Die entscheidende Frage ist, ob die Rahmensetzung der staatlichen Förderung diese inhaltliche und didaktisch-methodische Offenheit und partizipative Angebotsgestaltung in ausreichendem Maße zulässt.
Der 16. Kinder- und Jugendbericht hat deutlich gemacht, das politische Bildung sehr früh beginnen muss: „Kinder verstehen ihre Rechte, die Gremien und Verfahren schon früh genau und können sie auf Nachfrage präzise erklären. Sie befürworten die Demokratie in ihren Einrichtungen: Die Kinder wollen die Entscheidungen treffen, sehen sich in der Gemeinschaft als befähigt an, passende Lösungen zu finden und sind bereit, Folgen von gemeinsamen Lösungsversuchen zu tragen.“ (S. 169)
Eine vielfältige, plurale Gesellschaft ist auf eine diversitätssensible, diskriminierungskritische und inklusive politische Jugendbildung angewiesen. Diversität ist als Ressource und Migration als gesellschaftliche Normalität zu begreifen. Demokratie ist darauf angewiesen, dass die Vielfalt der Perspektiven sichtbar wird. Rassismus ist in seiner strukturellen Dimension in den Blick zu nehmen, eigene Verwobenheit und eigene Privilegien müssen reflektiert werden.
Pädagogische Räume bedürfen zugleich der geschützten und kontroversen Gestaltung. Hierzu sind Räume für Prozesse des self-empowerment erforderlich, insbesondere für Kinder und Jugendliche, die (negative) Zuschreibungen, Voreingenommenheit, Diskriminierung und Ausgrenzung erfahren. Inklusion als Menschenrecht fordert den Abbau von Teilhabebarrieren als menschenrechtliche Verpflichtung in allen gesellschaftlichen Teilbereichen, auch in Bildung, Jugendarbeit, Politik und politischer Bildung. Die volle und gleichberechtigte Teilhabe ist die Voraussetzung für die Anerkennung der Würde der Menschen.
Die Notwendigkeit der Kooperation zwischen Jugendhilfe und Schule ist hinlänglich begründet. Auch für die außerschulische politische Jugendbildung stellt sich nicht grundsätzlich die Frage, ob sie mit Schule kooperieren soll. Die Herausforderung besteht darin, dass es in der Kooperation gelingt die spezifische Qualität außerschulischer politischer Jugendbildung zu erhalten, um derer Willen die Kooperation von Seiten der Schulen gesucht wird.
Um Auszubildende und junge Arbeitnehmer*innen mit Angeboten der außerschulischen politischen Jugendbildung erreichen zu können, bietet das Recht auf Bildungsfreistellung im Rahmen des Berliner Bildungszeitgesetzes eine besondere Chance. Dieses wieder stärker öffentlich bekannt zu machen, erfordert eine gemeinsame Anstrengung von Politik, Tarifpartnern, Anbietern und beruflichen Schulen.
Politische Bildung hat die Förderung von politischer Teilhabe zum Ziel. Sie wirkt dabei insofern präventiv, als dass die Erfahrung eigener demokratischer Selbstwirksamkeit ein wichtiger Garant ist, der vor der „autoritären Versuchung“ bewahrt. Ungeachtet dieser mittelbar präventiven Wirkung ist politische Bildung aber kein Präventionsangebot im engeren Sinne. „Prävention“ hat immer den Zweck, einen künftig befürchteten Zustand zu verhindern und ist auf dieses Ziel ausgerichtet. Im Kontext von politischer Bildung würde ein solches Selbstverständnis den Bildungsanspruch und -inhalt auf die Abwehr befürchteter gesellschaftlicher Zustände verkürzen. Dies würde einen entsprechenden Rechtfertigungsdruck erzeugen und – kaum vermeidbar – in der Umsetzung zu Stigmatisierungen, Problemzuschreibungen und negativer Teilnehmer*innenansprache führen. Das Ziel der politischen Mündigkeit wäre mit einer solchen Herangehensweise nicht erreichbar.
Die Erfahrung politischer Selbstwirksamkeit und Teilhabe ist eine wichtige Grundlage für die außerschulische politische Jugendbildung. An dieser können Lernprozesse anknüpfen und zugleich wird so das Recht junger Menschen auf Teilhabe verwirklicht. Die Erfahrung von Beteiligung ist aber selbst noch keine politische Bildung, hierzu sind ergänzende Angebote der Reflexion und der Bildung notwendig.
Außerschulische politische Jugendbildung ist dann besonders erfolgreich, wenn Sie regelhaft in allen Angeboten der Jugendhilfe vorgehalten wird. Die Orientierungsfragen von Kindern und Jugendlichen verlangen nach einem Angebot, welches schon vorhanden ist, bevor es zu besonderen Problemlagen kommen kann. Politische Bildung als Sonderprojekt ist nur da sinnvoll, wo sie über diese Grundausstattung hinausgehend, neue Ansätze erprobt werden sollen oder sich neue Problemlagen zeigen, die die Regelangebote überfordern würden, da besondere Kenntnisse und Angebote notwendig sind. Regelangebote können nicht durch Sonderprojekte ersetzt werden.
Ohne Zweifel ist angesichts der aktuellen gesellschaftspolitischen Entwicklungen mit Diskursverschiebungen, offenem Rassismus und Rechtsterrorismus politische Jugendbildung dringend erforderlich. Trotzdem sollte sie nicht aus diesen Entwicklungen heraus begründet werden, weil sie sonst ihren eigenen Zweck verleugnen würde. Politische Bildung will jungen Menschen Angebote unterbreiten, die bei der Verarbeitung gesellschaftspolitischer Entwicklungen helfen, die Möglichkeit zur Orientierungsfindung bieten und unterstützen, eigene Haltungen zu entwickeln. So verstanden ist außerschulische politische Jugendbildung unverzichtbarer Teil des demokratischen Gemeinwesens.