Antiziganismus muss ernst genommen werden
Stellungnahme von Amaro Foro zu dem Schuss auf ein Roma-Mädchen in Berlin
In der Friedrichshainer Straße der Pariser Kommune ist es am 18.6. zu massiver Gewalt gegen ein dort lebendes Roma-Mädchen gekommen. Wie verschiedene Medien berichteten, schoss ein Anwohner von seinem Balkon aus auf das Kind. Als Begründung wird in vielen Medienberichten angeführt, dass es in dem Hof des Hauses, in dem das Mädchen wohnt, wegen der spielenden Kinder abends oft sehr lange laut sei, was andere Anwohner*innen störe. Inzwischen gibt es Medienberichte, die in den Vordergrund stellen, dass dieses Haus offenbar eine sogenannte Schrottimmobilie mit viel Müll, Lärm und Kriminalität sei, bewohnt überwiegend von Osteuropäer*innen, darunter viele Rom*nja (vgl. etwa Berliner Zeitung vom 19.6.2018: https://www.berliner-zeitung.de/berlin/polizeieinsatz-in-friedrichshain-das-problemhaus-zwischen-berghain-und-zalando-30650002). Das suggeriert, dass der Vorfall nicht überraschend und der Zorn des Schützen vielleicht sogar verständlich sei. Eine solche Darstellung eines Schusses auf ein Kind finden wir erschreckend.
Die Bewohner*innen leben in diesem Haus unter schwierigen Bedingungen: Das Gebäude ist in verwahrlostem Zustand, notwendige Reparaturen und Renovierungen werden von der Eigentümerin nicht durchgeführt. Die Wohnungen sind überbelegt, was ein Grund dafür ist, dass die Menschen sich gerne im Hof aufhalten – was gerade im Sommer aber im Übrigen ein völlig normales Verhalten ist. Die Müllentsorgung ist nicht ausreichend. All das ist jedoch nicht den Bewohner*innen anzulasten. Gerade Rom*nja und dafür gehaltene Menschen sind auf dem ohnehin äußerst angespannten regulären Wohnungsmarkt massiver Diskriminierung ausgesetzt, so dass ihnen oft keine Wahl bleibt. Auch gewalttätige Angriffe sind für sie in Berlin eine traurige Realität: Bereits vor drei Jahren kam es im selben Haus zu einem Schuss eines Anwohners auf einen Roma-Jungen, dessen Leben im Krankenhaus glücklicherweise gerettet werden konnte (vgl. etwa RBB24 vom 19.6.2018: https://www.rbb24.de/panorama/beitrag/2018/06/berlin-friedrichshain-mann-schiesst-auf-maedchen.html).
Amaro Foro vertritt in Berlin seit sieben Jahren die Interessen eingewanderter Rom*nja. Durch unser Projekt „Dokumentation antiziganistisch motivierter Vorfälle“ kennen wir die allgegenwärtige Diskriminierung und Gefährdung durch tätliche Angriffe, der Rom*nja und dafür gehaltene Menschen ausgesetzt sind. Es erfüllt uns mit Sorge, dass in Zeiten, in denen in der Ukraine tödliche Pogrome gegen Rom*nja stattfinden und in Italien ihre Erfassung gefordert wird, in Berlin Rom*nja und dafür gehaltene Menschen offenbar zunehmend als geradezu vogelfrei behandelt werden.
Unserer Meinung nach handelt es sich hier nicht um ein „normales“ Gewaltdelikt, sondern um einen Fall von antiziganistischer politisch motivierter Kriminalität. Es ist dringend geboten, hier ein Zeichen zu setzen und klarzumachen, dass rassistische Gewalt nicht toleriert wird und auch nicht den Betroffenen in irgendeiner Weise angelastet werden kann. Wir fordern die Polizei auf, diesen Hintergrund in ihren Ermittlungen zu berücksichtigen. Wir fordern Politiker*innen und Medienschaffende aufgrund ihrer besonderen Verantwortung auf, solche Vorfälle zur Kenntnis zu nehmen, in ihren Äußerungen eine größere Sensibilität zu zeigen, bei den Tatsachen zu bleiben und stets deutlich zu machen, dass Rassismus niemals akzeptabel ist.
Wir verweisen in diesem Zusammenhang auch auf unser Informationsvideo zur Wohnsituation eingewanderter Rom*nja in Berlin: https://vimeo.com/84970013
Amaro Foro e.V. ist ein interkultureller Jugendverband von Roma und Nicht-Roma mit dem Ziel, jungen Menschen durch Empowerment, Mobilisierung, Selbstorganisation und Partizipation Raum zu schaffen, um aktive Bürger*innen zu werden. Als junge Roma und Nicht-Roma übernehmen wir gemeinsam Verantwortung in der Gesellschaft für Achtung und gegenseitigen Respekt.
Das Dokumentationsprojekt wird von Amaro Foro seit 2014 umgesetzt und ist bundesweit das einzige Projekt dieser Art. Wir dokumentieren antiziganistische Vorfälle in Berlin in allen Lebensbereichen und veröffentlichen unsere Auswertung jedes Jahr. Mit gezielter Öffentlichkeits- und Bildungsarbeit machen wir auf Antiziganismus aufmerksam und sensibilisieren politische und soziale Akteure ebenso wie die Medien. Das Projekt wird von der Landesantidiskriminierungsstelle gefördert.
- Andrea Wierich, Pressesprecherin
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