Wendekorpus. Eine Audio-Zeitreise in die deutsch-deutsche Vergangenheit
Pressemitteilung vom 21.10.2020
Mit der Materialsammlung Wendekorpus werden Ausschnitte aus authentischen informellen Gesprächen im Zeitraum 1992-1993 der Öffentlichkeit präsentiert.
Zwischen 1990 und 1993 haben Lehrerinnen und Lehrer aus dem Ostteil der Stadt, zu denen damals auch Bezirksstadträtin Cornelia Flader gehörte, Erzählungen über die Zeit nach Mauerfall und Wiedervereinigung auf Tonband aufgenommen und transkribiert. _Norbert Dittmar_, Professor für Linguistik, unterrichtete damals auf der Grundlage eines Beschlusses des Berliner Senats Lehrerinnen und Lehrer unterer Klassen aus der ehemaligen DDR an der Freien Universität Berlin (FU), um sie für das sich wandelnde Schulsystem fit zu machen und zum Staatsexamen zu führen. Eine Aufgabe bestand darin, Ost-West-Befindlichkeiten rund um den Mauerfall zu erheben, egal ob auf der Straße oder unter Freunden und Bekannten.
Bei einer ersten Analyse der Original-Töne konnten die Sprachwissenschaftler schon damals erkennen, dass das Zusammenwachsen der beiden deutschen Gesellschaften nicht einfach werden sollte.
Ziel der Materialsammlung ist es, anhand dieser unterschiedlichen Gemengelagen den jungen Menschen die Probleme und Konflikte dieses beispiellosen gesellschaftlichen und nationalen Umbruchs nahezubringen. In Erzählungen, Berichten, argumentativen Diskursausschnitten, sachlichen und emotionalen Bewertungen usw. spiegeln sich sehr verschiedene Positionierungen der Ost- und West-Berliner zum Mauerfall und zum Vollzug der Wiedervereinigung wider. Beide historischen Phasen werden sehr unterschiedlich erlebt:- Der Mauerfall wird nicht nur euphorisch, sondern auch als unerwartete problematische Herausforderung gesehen.
- Die Wiedervereinigung wird als angemessene Lösung aus westdeutscher, allerdings kritisch als desillusionierende, Angst machende Blaupause des Treuhandvollzuges aus ostdeutscher Sicht betrachtet.
Mit den authentischen Äußerungen werden auch die damals mitten in diesem Umbruch stehenden Erwachsenen angesprochen. Viele ehemalige Ost-Berlinerinnen bzw. Ost-Berliner und Ostdeutsche erleben in den argumentativen und emotionalen verbalen Gemengelagen eigene Positionen wieder, die in ihrem Gedächtnis durch viele andere, neue, rückblickverstellende Ereignisse getrübt sind.
Die Autoren, beide aktive Soziolinguisten, sind stolz auf die breite authentische Dokumentation des Berlinischen durch die (überwiegend) Ost-Berliner Sprecherinnen bzw. Sprecher. Nach 30 Jahren zeigt sich immer deutlicher, dass die einst forsche, frische und kreative Varietät der janusköpfigen Berliner Urbanität des letzten Jahrhunderts schwindet. Anfang der neunziger Jahre war sie noch VOLL da. Sie aber heute großzureden, wie das manche Nostalgikerinnen bzw. Nostalgiker tun, hilft da wenig. Das zeigt sich insbesondere in den vielen emotionalen Ausschnitten, in denen Betroffene sich im Modus der wir-Mentalität mit der abzulehnenden die-da-Lebenswelt der jeweils „Anderen‟, seien es nun „Ossis‟ oder „Wessis‟, auseinandersetzen. So hat das „Wendekorpus“ kraft Umbruchthematik eine sonst rar anzutreffende Qualität: ein breites Repertoire von emotionalen Ausdrücken und Ausdrucksweisen.
Professor Norbert Dittmar meldete sich Ende des Jahres 2019 bei Bezirksstadträtin Cornelia Flader mit den Worten: _„Zuletzt haben wir vermutlich 1993 miteinander gesprochen – das war etwa vor 26 Jahren. Von der Lehrerinnengruppe von damals habe ich lediglich SIE per Namen und “Beruf” im Internet wiedergefunden. Darüber bin ich froh, denn unser damaliges Anliegen, die “gesammelten Daten” für ein “kollektives Gedächtnis” den Schulen zur Verfügung zu stellen, habe ich nun endlich erfüllt.“_
Gemeinsam mit Dr. Christine Paul (Deutschdidaktik FU Berlin) hat Professor Dittmar eine didaktisch aufbereitete Materialsammlung aus den damaligen Aufnahmen zu einem breiten Themenspektrum rund um den Mauerfall und seinen sozialen Folgen im Auftrag der Bundeszentrale für politische Bildung (BPB) fertiggestellt. Diese Text-Audio-Kollektion steht nun für den Unterricht von Schwerpunktthemen im Deutsch- und Geschichtsunterricht zur Verfügung.
Cornelia Flader: _„Ich bin sehr froh, in meinem letzten Amtsjahr als Bezirksstadträtin den Lehrerinnen und Lehrern nicht nur meines Bezirks das Werk von Norbert Dittmar und Christine Paul präsentieren zu dürfen, an dem ich vor 27 Jahren Teil sein durfte. Die Aufarbeitung und Bereitstellung des Materials hat eine Zeitlang gedauert. Die erstellte Datenbank soll in erster Linie dem kollektiven Gedächtnis im Schulunterricht dienen.“_
Das Thema greift auch die Volkshochschule Treptow-Köpenick auf. „Sprechen im Umbruch. Sprachwandel im Berlin der Wende ist eine Veranstaltung, die die Senioren-Universität der Volks-hochschule am Sonnabend, dem 07.11.2020 von 10.30 bis 13.30 Uhr im VHS Lernzentrum, 12437 Berlin, Baumschulenstraße 79-81, VHS-Saal 209a, durchführt. Referent ist Prof. Norbert Dittmar.
_Siehe auch:_- Wendekorpus. Eine Audio-Zeitreise in die deutsch-deutsche Vergangenheit. Deutsche Befindlichkeiten nach dem Mauerfall. Eine Sammlung zeithistorischer Interviews für den Unterricht. Von Norbert Dittmar und Christine Paul (FU-Berlin).
- Das Buch Sprechen im Umbruch. Zeitzeugen erzählen und argumentieren rund um den Fall der Mauer (hrsg. N Dittmar & Christine Paul, IdS Mannheim)
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