In seinem Roman “Frau Jenny Treibel” hat Theodor Fontane 1892 die Gegend um den Halensee am westlichen Ende des Kurfürstendammes noch als “ein von Spargelbeeten durchsetztes Wüstenpanorama” beschrieben. Aber nachdem die Straße erst einmal gepflastert und die Dampfstraßenbahn eröffnet war, verlief die weitere Entwicklung in einem überaus rasanten Tempo. Zunächst wurde der Berliner Teil des Kurfürstendammes, die heutige Budapester Straße zwischen Landwehrkanal und Zoo, mit prächtigen fünfgeschossigen Mietshäusern bebaut, dann in schneller Folge der Charlottenburger Teil zwischen Zoo und Halensee. Auch die Tauentzienstraße gehörte von Anfang an dazu. Einzelne Villen, die in den Jahren zuvor entstanden waren, wurden meist abgerissen, oder sie erhielten noch eine Schonfrist hinter den neuen Häuserzeilen. Nur das heutige Literaturhaus und die Villa Grisebach in der Fasanenstraße zeugen noch von der ursprünglichen Villenbebauung.
Architektur und Bewohner
Bis 1905 war der größte Teil des Kurfürstendammes bebaut, und unter Architekturkri-tikern bürgerte sich der Begriff “Kurfürstendammarchitektur” ein. Er war keineswegs schmeichelhaft gemeint, sondern stand für eine pompöse, überladene, protzende und geschmacklose Architektur, die nur nach außen wirkte. Die individuell sehr un-terschiedlichen Fassaden der einzelnen Häuser wirkten wie angeklebt und hatten mit dem eigentlichen Bauwerk wenig zu tun. Dahinter entstanden hochherrschaftliche Wohnungen mit oft 15 und mehr Zimmern für großbürgerliche und häufig auch prominente Bewohner.
Noch in den 50er Jahren wurde über die “Gemütsarmut dieser Behausungen” ge-klagt. Heute sind die Altbauwohnungen wohl die gefragtesten am Kurfürstendamm, und die restaurierten Stuckfassaden gelten als Schmuckstücke.
Der Anteil jüdischer Bewohner war am Kurfürstendamm von Anfang an mit etwa 25% besonders hoch. Das Charlottenburger Statistische Jahrbuch von 1910 zählte 35.811 Bewohner am Kurfürstendamm, von denen 23.410 “Evangelische Christen”, 8095 “Israeliten” und 3.732 “Römisch-katholische Christen” waren. 1912 wurde in der Fasanenstraße 79/80 unweit des Kurfürstendammes die große Synagoge eingeweiht. Heute befindet sich dort das jüdische Gemeindezentrum.
Kaiserliche Interessen
Aber der Kurfürstendamm sollte natürlich mehr werden als eine Wohnstraße. Dafür sorgte zunächst der Kaiser: Wilhelm II ließ zur Erinnerung an seinen verstorbenen Großvater Wilhelm I auf dem Auguste-Viktoria-Platz die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche bauen. Er nahm persönlich Einfluss auf den von Franz Schwechten entworfenen Bau und sorgte dafür, dass er mehr der kaiserlich-staatlichen Repräsentation diente als einem religiösen Bedürfnis. Mit 113 Meter war es lange Zeit Berlins höchstes Bauwerk überhaupt. Am 1. September 1895 wurde die Kirche mit großem militärischem Zeremoniell eingeweiht.
Für die Kirche selbst und für die gesamte Randbebauung des Auguste-Viktoria-Platzes hatte der Kaiser den romanischen Baustil festgelegt. Das gesamte Areal sollte als romanisches Forum entstehen. Westlich der Kirche zwischen Kurfürstendamm und Kantstraße entstand 1896 das erste Romanische Haus, in das in den 20er Jahren der Gloria-Palast eingebaut wurde, und östlich der Kirche zwischen Kurfürstendamm und Tauentzienstraße 1901 das zweite Romanische Haus, in dem in den 20er Jahren das legendäre Romanische Café eröffnet wurde. Heute zeugt vom romanischen Forum außer der Ruine der Gedächtniskirche nur noch der 1915 entstandene Rundbau des “Kaiserecks” am Kurfürstendamm 237 Ecke Rankestraße.
Intellektuelle Avantgarde
Der kaiserlichen Repräsentation trat respektlos die intellektuelle und künstlerische Avantgarde entgegen. An der Stelle der heutigen Kranzlerecke eröffnete in einem 1895 gebauten Haus am Kurfürstendamm 18-19 Ecke Joachimstaler Straße ein “Kleines Café”, das seit 1898 als “Café des Westens” firmierte. Hier trafen sich Künstler, Schriftsteller, Schauspieler, Kabarettisten und ihre Mäzene. Konservative Kritiker nannten es “Café Größenwahn”, aber die Besucher machten sich den als Schimpfwort gemeinten Namen zu eigen, und es wurde eine internationale Berühmtheit. Stammgäste waren Richard Strauss, Alfred Kerr, Maximilian Harden, Christian Morgenstern, Frank Wedekind, Carl Sternheim, George Grosz, John Heartfield, Else Lasker-Schüler und viele andere. Hier wurden Kabaretts und Zeitschriften gegründet, Autorenverträge geschlossen, Pamphlete verfasst und Künstlerportraits gemalt. Im Ersten Weltkrieg trafen sich hier die Kriegsgegner
und Pazifisten um Wieland Herzfelde, der seinen Malik-Verlag hier gründete und in seiner Dachatelier-Wohnung am Kurfürstendamm 76 ansiedelte.
In den Feuilletons tobte der Kampf, und in der monarchistischen Presse wurde neben dem “verkommenen Literatentum” auch gegeiselt, wie hier “emanzipierte Weibchen ihre Losgelöstheit von aller bürgerlichen Gesittung schamlos zur Schau stellten”.
Moderne Kunst
Ähnliche Angriffe galten den Malern der Berliner Secession um Max Liebermann und Walter Leistikow, die 1905 von der Kantstraße in ihr neues Ausstellungsgebäude am Kurfürstendamm 208/209 zogen. Kaiser Wilhelm II hatte ihre Werke als “Rinnstein-kunst” tituliert, und der Berliner Stadtkommandant hatte angeordnet, dass Offiziere das Gebäude nur in Zivil betreten durften, womit er die Secession mit Etablissements von zweifelhaftem Ruf auf eine Stufe stellte.
Unterstützt wurden die Maler von Geldgebern wie Walther Rathenau, Richard Israel, Julius Stern und Carl Fürstenberg. Ohne das Mäzenatentum des liberalen, oft jüdischen Berliner Großbürgertums wäre die Entwicklung der modernen Kunst in Berlin undenkbar gewesen. Gegen den kaiserlichen Geschmack wurde die Secession zu einem weltweit bekannten Anziehungspunkt. Hier wurden die Werke von Käthe Kollwitz, Heinrich Zille, Lovis Corinth, Max Slevogt, Max Beckmann, Emil Nolde, Wassily Kandinsky, Paul Klee, Oskar Kokoschka, Claude Monet, Edouard Manet, Edvard Munch und – in der Sommerausstellung 1912 erstmals in Deutschland von Pablo Picasso gezeigt. Am Kurfürstendamm wurde Berlin im Kaiserreich zur modernen Kunstmetropole.
Kultur und Unterhaltung
Aber der Kurfürstendamm wäre kein Boulevard geworden, wenn er nur den Eliten vorbehalten gewesen wäre. Im Gegenteil: Um die Jahrhundertwende entstanden un-zählige Cafés, Vergnügungslokale, Kabaretts, Theater, Kinos und Geschäfte, von denen die Massen aus allen Teilen Berlins aber auch Touristen aus aller Welt angezogen wurden. Bereits am Ende des 19. Jahrhunderts wurde der Kurfürstendamm schlagartig zur City-Filiale und machte der alten Mitte Berlins Konkurrenz. Hier ver-banden sich Kommerz und Kultur, Witz und Unterhaltung, Turbulenz und Internationalität, Sensation und Avantgarde zu einer unwiderstehlichen Mischung.
Die Vergnügungsindustrie machte sogar in den noch vorhandenen Baulücken gute Geschäfte und bot in den bis zur Bebauung verbleibenden Jahren Sportparks, Transvaal- und andere Ausstellungen, Zirkus, Flottenspiele, den Untergang von Pompeji, Velodrome und andere Volksbelustigungen an. Theater und Kinos wurden rund um den Kurfürstendamm in der City West gebaut: 1896 das Theater des Wes-tens an der Kantstraße, 1902 das Renaissance-Theater an der Hardenbergstraße, 1907 das Schiller Theater und 1912 das Deutsche Opernhaus an der Bismarckstraße; 1913 das Marmorhaus am Kurfürstendamm 236 und der Union-Palast am Kurfürstendamm 26.
Vergnügungspark
Am westlichen Ende in Halensee eröffneten der Gastronom August Aschinger und der ehemalige Küchenchef bei Kempinski, Bernhard Hoffmann, 1904 die “Terrassen am Halensee”, die 1909 in “Lunapark” umbenannt wurden und bereits 1910 den millionsten Besucher zählten. Nach dem Vorbild von Coney Island in New York war ein Vergnügungspark entstanden, der Sensationen, Abenteuer, Gefahr, die Illusion der großen weiten Welt und das Erlebnis der scheinbar grenzenlosen Möglichkeiten der Technik anbot. Völkerschauen, die erste Rolltreppe, jede Nacht ein großes Feuerwerk, Theater, Revuen, Jazzmusik, Kabarett und vieles mehr wurden hier in konzentrierter Form geboten. Das berühmte Wellenbad wurde abschätzig als “Nuttenaquarium” beschimpft, weil sich hier die Damen den genießerisch am Beckenrand sitzenden Herren in der neuesten Bademode präsentierten. Für frivole Volksbelustigung sorgte auch eine Wackeltreppe, an deren Ende ein Gebläse die Röcke
der Damen hob. Billy Wilder, der damals im Edenhotel am Kurfürstendamm bei den Five o’clock-Teas als Eintänzer arbeitete hat hier sicher einige Anregungen für seine späteren Filme erhalten.
Im Lunapark und in den unzähligen Tanzcafés und Hotels wechselten jedes Jahr die jeweils aktuellen Modetänze: Cake Walk, Ragtime und Tango waren vor dem Ersten Weltkrieg beliebt. Die Reiseführer betonten, dass die meisten Cafés am Kurfürstendamm auf Nachtbetrieb eingestellt waren.
Shopping und Kommerz
Von seinem östlichen Ende her, nämlich vom Wittenbergplatz und Tauentzien entwickelte sich der Kurfürstendamm – ebenfalls noch im Kaiserreich – auch als Shoppingmeile. Die Initialzündung dafür gab Adolf Jandorf, der am 21.3.1907 sein Kaufhaus des Westens eröffnete. Acht große, pompöse Mietshäuser mussten dafür abgerissen werden, obwohl sie erst 12 Jahre zuvor gebaut worden waren. Die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche wurde jetzt spöttisch zum “Taufhaus des Westens” degra-diert. Viele zweifelten an dem Mut Jandorfs, ausgerechnet in dem noch immer relativ ruhigen Vorort im Westen Berlins ein riesiges Kaufhaus zu errichten, aber der Erfolg war überwältigend, machte Tauentzien und Kurfürstendamm nun auch zur Geschäftsstraße und damit endgültig zur City-Filiale. Dieser Begriff bürgerte sich schnell in den Zeitungen ein, und er traf zu, denn viele Traditionsbetriebe des alten Berliner Zentrums eröffneten jetzt Filialen im Westen, und
präsentierten sich hier in moderner, offener und oft internationaler Form. Die City-West war endgültig geboren, oder wie es damals hieß: Berlin W war jetzt kein Geheimtipp mehr.
Der Boulevard als Bühne
Die Offiziere der kaiserlichen Armee präsentierten sich in der festlichen Galauniform neben der seit 1899 elektrifizierten Straßenbahn auf dem Reitweg der Mittelpromenade den vornehm herausgeputzten Damen in den feinen Cafés. Auf den Gehwegen promenierten Dienstmädchen, Handwerksburschen und Touristen aus aller Welt, die sich für den Besuch des Boulevards ebenfalls in Schale geschmissen hatten. Stolz wurden die glänzend polierten Automobile vorgeführt. Der Kurfürstendamm war nicht zuletzt ein Laufsteg, wo Akteure und Zuschauer wechselseitig ihre Rollen tauschten.
Getragen und geprägt aber wurde der Kurfürstendamm mit seinen gepflegten Vor-gärten und eindrucksvollen Fassaden von seinen Bewohnern, einem liberalen Bürgertum, das zwar manchmal gegen den unvermeidlichen Lärm und gegen zweifelhafte Lokalitäten protestierte, alles in allem aber doch stolz war auf die Adresse Kurfürstendamm, Berlin W.
Fehlkalkulationen und Erster Weltkrieg
Auch die erste Baupleite erlebte der Kurfürstendamm bereits im Kaiserreich. 1912 baute der Regierungsbaumeister a.D. Robert Leibnitz zwischen Lietzenburger Straße und Kurfürstendamm 193/194 ganz im amerikanischen Stil ein “Boarding-House”, ein riesiges Appartementhaus mit 600 Zimmern in Luxusausstattung. Vor allem für Gäste, die längere Zeit in Berlin bleiben wollten, aber auch für alleinstehende ältere Damen und Herren oder junge Ehepaare, die zunächst noch keinen eigenen Haushalt gründen wollten, wurden Privatwohnungen angeboten mit Bedienung, einer Badeanstalt, elektrischem Licht, Mahlzeiten, Schreib- und Lesezimmer, großen Wandelhallen, American-Bar, Festsaal, Café, Confiserie und vor allem mit einer exzellenten Lage am Kurfürstendamm.
Aber die Bauherren hatten sich übernommen, und statt der im Oktober 1912 geplanten Eröffnung musste die Versteigerung des Inventars durchgeführt werden. Ein neuer Interessent eröffnete zwar im Frühjahr 1914 das Haus als “Hotel Cumberland”, aber auch dieses musste bereits nach 8 Monaten Konkurs anmelden.
Während des Ersten Weltkriegs residierte hier das “Wumba” (Waffen- und Munitionsbeschaffungsamt), danach bis 1922 das Reichswirtschaftsministerium, dann bis 1928 die Oberpostdirektion, bis 1935 das statistische Reichsamt und danach das Landesfinanzamt Berlin, seit 1966 Oberfinanzdirektion Berlin. Seit 2002 steht das Gebäude leer und wird von Zeit zu Zeit für Film- und Fernsehproduktionen vermietet.
Der Erste Weltkrieg unterbrach die stürmische Entwicklung, die der Kurfürstendamm in den letzten Jahren des Kaiserreichs erlebt hatte. Ein paar Großprojekte von Kaufhauskonzernen konnten nicht verwirklicht werden, die Vergnügungsangebote wurden mehr und mehr eingeschränkt, im Lunapark wurde eine Fleischkonservenfabrik zur Versorgung des Heeres und ein Lazarett eingerichtet. Der Kohlrübenwinter 1917/18 machte sich auch am Kurfürstendamm bemerkbar.
City-Filiale
Aber die City-Filiale war geboren. Das wilhelminische Kaiserreich brachte den ver-späteten Durchbruch der Moderne in Deutschland. Am Kurfürstendamm wurde das besonders deutlich und deshalb hier auch von vielen als besonders krass empfun-den. Was für die einen als Befreiung wirkte, war für die anderen ein Angriff auf ihr Weltbild und ihr Selbstverständnis. Die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche und die Berliner Secession standen sich am Kurfürstendamm als Ausdruck zweier Epochen unversöhnt gegenüber.