09/2024 – Steglitzer Schüler an griechisch-deutschem Ausstellungsprojekt beteiligt

Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit in Niederschöneweide

Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit in Niederschöneweide

September 2024

In Griechenland gilt Karya als Synonym deutscher Brutalität und deutschen Terrors während der nationalsozialistischen Besatzung in der ersten Hälfte der 1940er Jahre. Nicht so in Deutschland: Die Ausbeutung jüdischer Zwangsarbeiter, die bei umfangreichen Gleisbauarbeiten auf einer schwer zugänglichen Eisenbahnbaustelle in Mittelgriechenland eingesetzt wurden, ist in der deutschen Erinnerungskultur ein weißer Fleck. Denkt man an Griechenland, dann zumeist an Ouzo, Tzatziki, blauen Himmel und weißgetünchte Häuser. Griechenland-Urlaube sind Wohlfühl-Urlaube mit viel Sonne, endlosen Stränden, malerischen Inseln und Prachtbauten antiker Hochkultur. Das überaus harte nationalsozialistische Besatzungsregime ist hingegen – wenn überhaupt – nur ein Randthema.

Dass die Geschichte der Besatzung Griechenlands hierzulande kaum aufgearbeitet ist, wurde jahrzehntelang klaglos hingenommen. Sich damit auseinandersetzen, hätte ja das himmelblaue, nicht selten verklärte Griechenlandbild unserer Bildungsreisenden trüben können.

Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit in Niederschöneweide

Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit in Niederschöneweide

Was verbirgt sich unter der Chiffre Karya?

Unter katastrophalen Bedingungen mussten 300 bis 500 jüdische Männer aus Thessaloniki 1943 in Karya ein Ausweichgleis für Wehrmachtzüge errichten, ehe die meisten von ihnen nach Auschwitz deportiert wurden. Eine funktionierte Bahnverbindung zwischen den Metropolen Thessaloniki und Athen galt als kriegswichtig und wurde rücksichtlos vorangetrieben. Um das Projekt möglichst rasch und kostengünstig umzusetzen, bedienten sich die Nationalsozialisten griechisch-jüdischer Zwangsarbeiter. Viele von ihnen lebten in Thessaloniki, einer multikulturellen Stadt, in der Jüdinnen und Juden bis zur Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert die Bevölkerungsmehrheit stellten.

Überlebende schilderten die unmenschlichen Zustände, die auf der Baustelle herrschten, als Hölle auf Erden. Einer glücklichen Fügung ist es zu verdanken, dass nun endlich Licht ins Dunkel dieses unrühmlichen Kapitels deutscher Besatzungsgeschichte kommt: Vor rund 20 Jahren stieß Andreas Assael, Sohn eines jüdischen Überlebenden aus Thessaloniki, bei einem Flohmarktbesuch in München auf eine Reihe von Fotos, die das Geschehen rund um die Eisenbahnbaustelle in Karya dokumentieren. Die aus Täterperspektive aufgenommenen Zeugnisse erwiesen sich als segensreich für die Aufarbeitung der Geschichte von Karya. Der Finder hatte die Brisanz der Bilder und ihren Wert als bedeutsame historische Quelle sofort erkannt.

Es schloss sich ein umfangreiches griechisch-deutsches Bildungsprojekt an, dessen Ergebnis die multimediale und partizipative Wanderausstellung „Karya 1943 – Zwangsarbeit und Holocaust“ auf dem Gelände des Dokumentationszentrums NS-Zwangsarbeit in Berlin-Schöneweide (Bezirk Treptow-Köpenick) ist. Herz und Mitte der Ausstellung bildet der Zufallsfund historischer Fotos. Einige Überlebende und Zeitzeugen des Grauens von Karya erhalten ihr Gesicht – und damit ihre personale Würde – zurück. Bebilderte Aufsteller erinnern an ihre höchst unterschiedlichen Lebensläufe und das gemeinsam erlittene Unrecht.

4. September 2024: Kulturstaatssekretärin Claudia Roth (1.v.l.) auf der Bühne u.a. mit Dr. Christine Glauning (mit blauem Schal), Leiterin des Dokumentationszentrums NS-Zwangsarbeit, Panagiota Constantinopoulou (2.v.r.), Gesandte der griechischen Botschaft, sowie Oliver Friederici (1.v.r.), Staatssekretär für Gesellschaftlichen Zusammenhalt im Land Berlin

4. September 2024: Kulturstaatssekretärin Claudia Roth (1.v.l.) auf der Bühne u.a. mit Dr. Christine Glauning (mit blauem Schal), Leiterin des Dokumentationszentrums NS-Zwangsarbeit, Panagiota Constantinopoulou (2.v.r.), Gesandte der griechischen Botschaft, sowie Oliver Friederici (1.v.r.), Staatssekretär für Gesellschaftlichen Zusammenhalt im Land Berlin

Unter prominenter Beteiligung wurde die Ausstellung am 4. September 2024 mit einem Festakt eröffnet. Unisono wiesen Claudia Roth, Staatsministerin für Kultur und Medien, Panagiota Constantinopoulou, Gesandte der Botschaft der Hellenischen Republik, sowie Oliver Friederici, aus Lankwitz stammender Staatssekretär für Gesellschaftlichen Zusammenhalt in der Senatsverwaltung für Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt, darauf hin, dass die Aufarbeitung dieses wichtigen historischen Kapitels überfällig gewesen sei. Gastgeberin Dr. Christine Glauning, die das Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit leitet, freute sich ganz besonders, Angehörige und Nachfahren von Karya-Überlebenden sowie Andreas Assael, den Entdecker und Erforscher der historischen Fotosammlung, willkommen heißen zu dürfen.

Ausstellung "Karya 1943 - Zwangsarbeit und Holocaust", Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit in Niederschöneweide

Ausstellung "Karya 1943 - Zwangsarbeit und Holocaust", Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit in Niederschöneweide

Wanderausstellung "Karya 1943 - Zwangsarbeit und Holocaust", Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit

Wanderausstellung "Karya 1943 - Zwangsarbeit und Holocaust", Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit

Am 30. März 2025 schließt die Ausstellung in Niederschöneweide ihre Pforten. In Kooperation mit dem Jüdischen Museum von Griechenland ist eine Zweitversion ab 16. Oktober 2024 auch im Athener Benaki-Museum zu sehen. Danach zieht sie weiter nach Thessaloniki. Ob es weitere Ausstellungsorte geben wird, ist noch offen. Kooperationspartner des Dokumentationszentrums mit seinen beiden Kuratoren Iris Hax und Dr. Iason Chandrinos sind die Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas, die Universität Osnabrück, die Aristoteles-Universität Thessaloniki, sowie das Jüdische Museum Griechenlands in Athen.

Logo Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit
23. Januar 2024: Schülerinnen und Schüler der Staatlichen Europaschule Neugriechisch in Steglitz besuchen zusammen mit ihren Lehrerinnen das Berliner Abgeordnetenhaus

23. Januar 2024: Schülerinnen und Schüler der Staatlichen Europaschule Neugriechisch in Steglitz besuchen zusammen mit ihren Lehrerinnen das Berliner Abgeordnetenhaus

Schülerinnen und Schüler aus Steglitz leisten Beitrag

Wichtige Anstöße zum Gelingen des Ausstellungsprojekts lieferten Schülerinnen und Schüler des Neugriechisch-Zweigs der Staatlichen Europaschule Berlin. Im Vorfeld der Wanderausstellung hatten sie sich intensiv mit der Geschichte Griechenlands im Zweiten Weltkrieg und der Zwangsarbeit in Karya auseinandergesetzt. Im Rahmen von Workshops und Exkursionen zum Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit beschäftigten sich drei Klassen mit der spannungsreichen Geschichte Thessalonikis, der deutschen Besatzungsgeschichte, dem Holocaust in Griechenland, sowie ihrer eigenen Familiengeschichte. Mit der Kuratorin diskutierten sie ihre Erwartungen an die Ausstellung und machten sich Gedanken über deren Ausgestaltung.

Ein erstes digitales Kennenlern-Gespräch mit Andreas Assael fand bereits am 29. Mai 2023 statt. Am 9. November desselben Jahres, einem in vielerlei Hinsicht geschichtsträchtigen Tag, stattete der Entdecker der Karya-Fotos der Staatlichen Europaschule Berlin in Steglitz einen Besuch ab. Dabei berichtete er von seinen Recherchen und erläuterte anhand ausgewählter Fotos die miserablen Lebens- und Arbeitsbedingungen jüdischer Zwangsarbeiter auf der Eisenbahnbaustelle.

Logos des Gymnasiums Steglitz und der Staatlichen Europaschule Berlin für Neugriechisch (Steglitz)

In der Folge widmeten sich Schülerinnen und Schüler den Biographien der Zwangsarbeiter. Sie prüften erste Entwürfe der Ausstellungstexte auf Verständlichkeit und entwickelten daraus eigene, gekürzte Textvorschläge. Wie tief sie sich in das Thema eingearbeitet und vertieft hatten, wurde beim Tag der offenen Tür der Schule im Januar 2024 deutlich. Darüber hinaus beteiligten sie sich mit einem eigenen Projekt am Jugendforum „denk!mal“, das anlässlich des Gedenktages der Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz vom Abgeordnetenhaus von Berlin veranstaltet wurde. Parlamentspräsidentin Cornelia Seibeld lud die Schülergruppe am 23. Januar 2024 ins Abgeordnetenhaus ein, wo sie ihr Projekt „Karya – Brücken bauen durch die Auseinandersetzung mit der gemeinsamen Vergangenheit“ vorstellten. Zusammen mit dem Dokumentationszentrum hatte sich die Schule mit ihrem Projekt erfolgreich beim Jugendforum des Abgeordnetenhauses beworben.

„Die kontinuierliche Auseinandersetzung der Schülerinnen und Schüler mit dieser Geschichte lieferte (…) wertvolle Impulse für die Ausstellungsgestaltung, die ausstellungsbegleitende Homepage und die Bildungsarbeit des Dokumentationszentrums NS-Zwangsarbeit“, bilanziert Christian Weber, pädagogischer Mitarbeiter des Dokumentationszentrums.

Ausstellung "Karya 1943 - Zwangsarbeit und Holocaust", Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit in Niederschöneweide

Ausdrücklich hoben Dr. Christine Glauning, Leiterin des Dokumentationszentrums, und Staatssekretär Oliver Friederici das Engagement der Steglitzer Schülerinnen und Schüler in ihren Eröffnungsgrußworten am 4. September hervor. Die Einbindung der jungen Generation ist den Ausstellungsmachern von Beginn an ein Herzensanliegen gewesen.

Wer die Vergangenheit nicht auf sich beruhen lässt, sondern sich aktiv mit ihr auseinandersetzt und seine Lehren daraus zieht, kann eine Zukunft gestalten, in der sich alle versöhnt und auf Augenhöhe begegnen. Den Schülerinnen und Schülern aus Steglitz kommt das Verdienst zu, noch vor Ausstellungseröffnung auf das weitgehend unbekannte Thema jüdischer Zwangsarbeit im besetzten Griechenland aufmerksam gemacht zu haben.

Fachbereich Neugriechisch der Staatlichen Europaschule

Als Teil des Gymnasiums Steglitz werden die SESB-Schüler bis zum Abitur zweisprachig auf Deutsch und Griechisch unterrichtet. „Darüber hinaus erhebt der Neugriechischunterricht die Forderung, junge Menschen durch Kenntnis der Kultur des Mutter- bzw. Partnerlandes zu bewussten europäischen Bürgerinnen und Bürgern zu erziehen und ihnen am Beispiel Griechenlands die europäische Dimension konkret erfahrbar zu machen“, heißt es programmatisch auf der Webseite des Gymnasiums.

Damit ist die Staatliche Europaschule eine wichtige Klammer zwischen griechischer Community und der Mehrheitsgesellschaft ohne Migrationshintergrund, mithin zwischen Deutschland und Griechenland. Als Standort des SESB-Fachbereichs Neugriechisch ist Steglitz ideal gewählt: Der Bezirk Steglitz-Zehlendorf beherbergt mit der Hellenischen Gemeinde zu Berlin e.V. den zentralen, gesamtstädtischen Anlaufpunkt für Griechen bzw. Deutsch-Griechen. Mehr noch: Steglitz-Zehlendorf ist berlinweit der einzige Bezirk, der eine Städtepartnerschaft mit einer griechischen Kommune unterhält. Seit 1993 bestehen freundschaftliche Kontakte mit dem zentralmakedonischen Sochos-Langadas.

Zusammen mit Walter Stechel, deutscher Generalkonsul a.D. in Thessaloniki, und Maria Vassiliadu, Büro Thessaloniki der Deutsch-Griechischen Versammlung (DGV), wohnte eine Delegation aus unserer griechischen Partnerstadt am 26. Mai 2023 einer SESB-Unterrichtsstunde in Steglitz bei.

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