Am 12. Oktober 1989 fand im Rathaus Pankow die 11. und zugleich letzte Sitzung des Rates des Stadtbezirkes statt. Die umfangreiche Tagesordnung sollte eine Normalität demonstrieren, die es in Wirklichkeit nicht mehr gab.
Für die Zeit danach äußerte sich Herr Superintendent Werner Krätschell: “Nach dem Fall der Mauer in der Nacht vom 9. zum 10. November 1989 zerfiel die Macht der bis dahin “allmächtigen” Sozialistischen Einheitspartei in einem geradezu rapiden Prozess, der überall sichtbar und spürbar war. Die Folge war ein Machtvakuum, das in einer anderen Region der Welt sicher zu chaotischen Verhältnissen geführt hätte. Nicht so im östlichen Deutschland. Einer dieser verhindernden Faktoren war die Bildung von ungezählten “Runden Tischen” im Land.
An ihnen versammelten sich, dem polnischen Vorbild entsprechend, die neuen politischen Parteien, Gruppierungen und Bürgerbewegungen mit den Kräften des alten Machtapparates.
Die Evangelische Kirche war Initiator des ersten Runden Tisches für die Ebene des ganzen Landes, dessen Sitzungen regelmäßig in Pankow auf dem Gelände des Schlosses Schönhausen stattfanden und vom Fernsehen live übertragen wurden. Offensichtlich wollte die Parteiin einer letzten Regung ihrer bisherigen Machtstellung nicht den Kirchen oder gar anderen Kräften die Initiative auf diesem Gebiet überlassen und gab für die kommunalen politischen Ebenen grünes Licht für die Bildung von Runden Tischen.
So erschien bei mir aus dem Pankower Rathaus aus der Abteilung “Inneres” die Referentin für Kirchenfragen, Frau Schemm, um mir diese Absicht der Bildung eines Runden Tisches für den Stadtbezirk Pankow mitzuteilen und mich um Rat zu fragen, welche neuen Parteien und Gruppierungen einzuladen wären. Wir kannten uns von unzähligen Gesprächen der zurückliegenden Jahre, in denen sie die staatliche, ich die kirchliche Seite vertrat und bei denen es sehr oft um Spannungen ging.
Vor allem der “Friedenskreis Pankow” unter der Leitung meiner Kollegin, Pfarrerin Misselwitz, und ihres Mannes, waren ständig ein Dorn im Auge der Partei, wurde mit übelsten Mitteln bekämpft und bedurfte der eindeutigen Verteidigung in solchen Gesprächen. Allerdings gab es auch ganz normale und hilfreiche Kontakte, durch die Menschen geholfen werden konnte.
Bürgermeister Heinz Mohn war schon seit Wochen nicht mehr in Pankow zu sehen. Es wurde gemunkelt, er sei wegen des Wahlbetrugs vom Mai 1989 und anderer Machenschaften aus dem Verkehr gezogen worden. Sein Stellvertreter war ein Genosse Uwe Hauser.
Nach einer Debatte über die Frage, wer den Runden Tisch leiten solle, wurde ich als einer der genannten Kandidaten zum Vorsitzenden gewählt. Ich sehe noch das versteinerte Gesicht von Herrn Hauser, als er mir nach dieser Entscheidung das Standmikrophon übergeben musste. Die Beiträge, Vorschläge und Entscheidungen aller Teilnehmer waren ausgesprochen konstruktiv. Wir bildeten eine Reihe von Arbeitsgruppen und beauflagten die zukünftig zur Anwesenheit verpflichteten Ratsmitglieder mit der Schaffung der materiellen und technischen Voraussetzungen der Arbeit des Rundes Tisches. So atmet das Protokoll dieser ersten Sitzung noch ganz die Sprache und Vorstellungswelt des untergehenden Systems.
Mir ist besonders eindrücklich gewesen, wie mühsam es anfangs war, demokratische Verhaltensweisen einzuüben, wie schnell dann aber die in den Jahren der Diktatur unmündig gemachten Menschen lernten, frei zu sprechen, Streitgespräche zu führen und die Prozedur von Abstimmungen immer besser zu beherrschen. Ich bin dankbar, dass ich mit vielen anderen Kolleginnen und Kollegen aus dem kirchlichen Raum habe helfen dürfen, diese ersten kleinen Schritte eines demokratischen Gemeinwesens so zu gestalten, dass sie zu einem Gewinn für die Beteiligten und für das Gemeinwohl führten.
Wenn man heutzutage die zählebigen, von lauter Partei-Kalkül bestimmten, mühsamen Entscheidungsprozesse beobachtet, denkt man etwas nostalgisch an jene freiheitliche, begeisterte und konstruktive Zeit der Runden Tische zurück.
Am ersten Runden Tisch im Pankower Rathaus am 9. Dezember 1989 nahmen 30 Vertreter aus ehemaligen und neugegründeten gesellschaftlichen Organisationen teil.
Am 31. Mai 1990 eröffnete der Alterspräsident, Herr Helmut Deutschmann (SPD), die erste konstituierende Tagung der Bezirksverordnetenversammlung von Berlin-Pankow. Von 100 Bezirksverordneten waren 94 anwesend. Damit war die Versammlung beschlussfähig, und es konnte auf der Grundlage der Wahlergebnisse vom 6.5.1990 die Wahl des Bürgermeisters und der weiteren Mitglieder des Bezirksamtes erfolgen:
Harald Lüderitz (SPD) Bezirksbürgermeister und Leiter der Abteilung Personal und Verwaltung
Martin Federlein (CDU), stellv. Bürgermeister, Bezirksstadtrat für Finanzen, Wirtschaft und Wohnungswesen
Kirstin Fussan (SPD), Bezirksstadträtin für Jugend, Familie und Sport
Dr. Dietrich Hölzer (Bündnis 90), Bezirksstadtrat für Gesundheit
Rolf Horn (Bündnis 90), Bezirksstadtrat für Umwelt und Naturschutz,
Georg Karolewski (SPD), Bezirksstadtrat für Bauwesen
Alex Lubawinski (SPD), Bezirksstadtrat für Bildung und Kultur
Peter Tiedt (CDU), Bezirksstadtrat für Sozialwesen.
Anschließend konstituierte die BVV ihre Ausschüsse für Kultur, Volksbildung, Stadtentwicklung, Bau, Verkehr usw., die sich mit speziellen Aufgaben befassen. Die ersten Jahre waren nach Auskunft der ehemaligen BVV-Vorsteherin Ursula Tabbert für die “neuen” Kommunalpolitiker eine interessante, aber auch anstrengende Lehrzeit.
Anlässlich des Tages der deutschen Einheit am 3. Oktober 1990 fand ein bezirksübergreifender Festakt der Bezirksverordnetenversammlung Pankow und Reinickendorf statt, zu der Pfarrer Konrad Hüttel von Heidenfeld die Ansprache hielt.
Mit einigen Erfahrungen mehr gingen die Parteien in die Wahlen vom Mai 1992. Inzwischen war die Einrichtung der BVV in Arbeit und Umfang denen der Westberliner Bezirke angeglichen worden, d. h., es gibt nur 45 Bezirksverordnete, die in Pankow von fünf Fraktionen gestellt werden. Die SPD als stärkste Fraktion schlug wieder eine Vorsteherin vor, es wurde Ursula Tabbert gewählt, die uns weiter berichtet: “Bis die Wahl des Bezirksamtes, also des Bürgermeisters und dieses Mal der sechs Stadträte, durchgeführt war, gab es einige Verzögerungen, aber inzwischen konnte zu kontinuierlicher Arbeit übergegangen werden. Die jetzige BVV hat wieder ihre Ausschüsse, die in der Regel aus neun Bezirksverordneten bestehen, zu denen noch Bürgerdeputierte hinzugewählt wurden. Diese haben die gleichen Rechte wie die Verordneten und sollen mit ihrem Sachverstand, der zumeist aus ihren beruflichen Erfahrungen kommt, die Ausschussarbeit unterstützen. Das ist sehr wichtig, denn in den Ausschüssen werden die Empfehlungen für die BVV zu den Problemen erarbeitet. Falls es notwendig ist, werden auch Sachverständige eingeladen. Außerdem besteht auch ständiger Kontakt zu dem zuständigen Bezirksstadtrat. Die BVV hat den Wählerauftrag, sich für das Wohl der Pankower Bürger und des Bezirkes einzusetzen. Deshalb regt sie mit diesen Empfehlungen, mit Ersuchen und Anträgen Verwaltungshandeln an und kontrolliert dieses.”
Gleich nach der Wende hat das Bezirksamt Reinickendorf partnerschaftliche Hilfe beim Aufbau der Pankower Verwaltung geleistet. Die Bezirksbürgermeister von Pankow, Weißensee, Reinickendorf und Wedding haben vereinbart, ?künftig bei allen Fragen, die die Entwicklung der Region betreffen, eng zusammenzuarbeiten?. Diese Kooperation könnte vielleicht schon ein Ansatz sein für die vom Senat von Berlin angedachte Veränderung der Verwaltungsstruktur, der Verringerung der Anzahl der Bezirksämter.
Täglich schauen viele Bürger auf das Rathaus, oder sie besuchen das repräsentative Amtsgebäude zur Klärung von persönlichen Angelegenheiten. In den Fluren und Foyers gibt es regelmäßig interessante Ausstellungen zu sehen. Und immer noch wird gern im bekannten historischen Trauzimmer geheiratet, wohin die Brautpaare nicht nur aus Pankow kommen. Viele kommunale und kulturelle Veranstaltungen finden im Ratssaal statt.
Nun soll über einige dieser Veranstaltungen berichtet werden. Am 22. April 1993 fand im Grossen Saal des Rathauses Pankow der Festakt zum 90. Jubiläum dieses Hauses statt. Dazu hatte der damalige Bezirksbürgermeister Dr. Jörg Richter eingeladen. Der bekannte Pankower Schriftsteller Heinz Knobloch hielt eine interessante Festansprache, nahm dabei historische Rückschau und beeindruckte damit die anwesenden Gäste.
Zur Ehrung verdienstvoller jüdischer Bürger aus Pankow schlug die Arbeitsgruppe Straßenumbenennung im Kulturausschuss Pankow im Juni 1994 der Bezirksverordnetenversammlung vor, folgende Strassen umzubenennen: die Strasse 22 in Pankow in Benjamin-Vogelsdorff -Straße und die Straße 52 in Buchholz in Dr.-Markus-Straße.
Benjamin Vogelsdorff war von 1926 ? 1938 Vorsitzender der jüdischen Gemeinde in Pankow; Dr. Markus sollte für seine aufopferungsvolle Tätigkeit als Buchholzer Arzt gewürdigt werden. Nach Bestätigung der Vorschläge durch die BVV im Oktober 1994 erfolgte die feierliche Umbenennung beider Strassen am 9. November 1994. Im Anschluss daran fand ein bewegender Empfang im Großen Ratssaal statt.
Zum 60. Jahrestag des faschistischen Pogroms gegen die jüdischen Mitbürger in Deutschland gestaltete der Bund der Antifaschisten Berlin Pankow e.V. zwei Ausstellungen im 1.Obergeschoss des Rathauses zu den Themen: “Jüdisches Leben in Pankow vom Anbeginn zum Neubeginn” und “Wider das Vergessen” Auschwitz!? (Foto-Ausstellung). Die feierliche Eröffnung dieser Ausstellungen fand am 12. November 1998 statt. Bezirksbürgermeister Dr. Jörg Richter begrüßte im gut besuchten Ratssaal die Gäste und dankte vor allem dem Veranstalter für seine Initiativen. Seine Worte waren eine Verpflichtung: “So etwas darf nie wieder passieren!” Die beeindruckende und zugleich besinnliche Festrede hielt der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, Dr. Andreas Nachama.
Einige Tage später, am 20. November, erinnerten Schülerinnen und Schüler des Friedrich- List-Gymnasiums im Rathaus mit ihrem Programm an den ehemaligen jüdischen Lehrer ihrer Schule., Dr. Rudolf Majut. Erfreulich, dass sich junge Menschen fanden, ein dunkles Kapitel deutscher Geschichte aufzuarbeiten.
Mitteilenswert ist an dieser Stelle die Geschichte des ältesten Berliner Kinos, des Tivoli, in der Berliner Straße. Im Jahre 1994 mussten sich die Verantwortlichen im Rathaus mit diesem geschichtsträchtigen Ort beschäftigen. Sie konnten leider nicht erreichen, dass dieses Kino erhalten bleibt. Es wurde für 1, 68 Millionen DM versteigert. Seitdem erinnert nur noch eine Ruine an vergangene Zeiten.
Erwähnenswert ist die Tatsache, dass 1998 für drei Persönlichkeiten Pankows Gedenktafel angebracht wurde: für den Filmpionier Max Skladanowsky (Waldowstr. 28); für Reinhold Burger, den Erfinder der Thermosflasche (Wilhelm-Kuhr-Straße 3) sowie für Paul Nipkow, den Entdecker der Grundidee des Fernsehens (Parkstraße 5).
Pankow an der Panke und Kolobrzeg an der polnischen Ostseeküste nahmen 1994 Verbindung miteinander auf. Kulturstadtrat Alex Lubawinski, organisierte eine Städtepartnerschaft, die sich in den Folgejahren gut entwickelte.
Nach einer Amtszeit von sieben Jahren schied Bezirksbürgermeister Dr. Jörg Richter aus gesundheitlichen Gründen im September 1999 aus dem Amt. Ihm konnte man große Bürgernähe bescheinigen. Sehr beliebt waren seine Kiezspaziergänge, bei denen man Sehenswürdigkeiten des Bezirkes erläutert bekommen konnte.
Auf eine besondere Veranstaltung aber außerhalb des Rathauses, sei hier noch hingewiesen. Die Pankower Schriftstellerin Christa Wolf lud im November 1999 Nobelpreisträger Günter Grass zu einem Vortrag in die Pankower Kirche am “Anger” ein. Grass las aus seinem neuesten Buch “Mein Jahrhundert”. Der Autor bevorzugte deshalb die Kirche, weil sie auch in seinem Buch Erwähnung fand. Vor seinen etwa 800 Zuhörern sagte er: “Ich lese nicht in Kirchen, weil ich ein gläubiger Mensch bin, aber dort ist die Akustik meistens gut”. Christa Wolf meinte zur Begrüßung: “So voll habe ich die Kirche noch nicht gesehen”. Vor der Lesung hatte Grass bereits eine Ausstellung seiner Aquarelle, Grafiken und Lithographien in der Galerie “Forum Amalienpark” eröffnet.
(Aus: Rathaus Pankow 1903-1993, Arwed Steinhausen, Dieter Geisthardt, Hans Klockmann. Herausgegeben vom Freundeskreis der Chronik Pankow e.V., 1993. Aktualisierte Fassung. Für das Internet überarbeitet und gekürzt. Foto: Pressestelle BA Pankow/Das Rathaus)