Die Familie Tradelius war Anfang des 20. Jahrhunderts eine jüdische, moderne, bewusst deutsche Familie in Berlin. Der Vater Moritz Tradelius (1849-1927) hatte vorher eine Papiermühle in Woldenberg/Neumark (heute Dobigniew/Polen) betrieben, einer alten Kleinstadt etwa 50 Kilometer nordöstlich von Landsberg/Warthe. Die Mutter Johanna geb. Lebbin (1857-1935) schenkte zwischen 1880 und 1895 neun Kindern das Leben. Kurz nach 1900 siedelten sie aus Westpreußen in das aufblühende Berlin um und standen ab 1906 im Adressbuch.
Ihr ältester Sohn Siegfried (1880-1943) betrieb ab 1909 in Berlin einen Großhandel mit Spitzen. Ulrich Tradelius, geboren am 8. Februar 1889 in Woldenberg, einer der vier jüngeren Brüder, betrieb ab 1913 in Berlin eine Handlung für Badeartikel. Siegfried, Ulrich und der jüngste Bruder Fritz dienten als Soldaten im Ersten Weltkrieg, Fritz fiel schon 1914. Nach dem Krieg trat Ulrich ab 1920 in die en-gros und Konfektions-Firma seines Bruders ein, die ab dann “Siegfried Tradelius & Co” hieß. Sie lag 1915-1925 nahe dem Spittelmarkt im damaligen Mode- und Textil-Viertel, in der Kommandantenstraße 17, wo heute die Bundesdruckerei ist.
Ulrich Tradelius heiratete Grete Quittmann, geboren am 13. April 1896 in Berlin. Auch sie gehörte zu einer deutschen jüdischen Familie. Ihre Eltern, Salo Quittmann (1863-1905) und Rosalie Quittmann geb. Rothenberg (1865-1941), waren ebenfalls Kaufleute in der Textilbranche, zunächst in Berlin, ab etwa 1903 in Hammerstein/Pommern (heute Czarne/Polen). Salo war dort schon 1905 gestorben, aber Rosalie scheint erst um 1920 mit der Tochter Grete nach Berlin zurückgekehrt zu sein. Aus der Ehe von Ulrich und Grete Tradelius gingen zwei Kinder hervor: Ein Sohn wurde am 7. Mai 1923 in Berlin geboren und erhielt den Vornamen Hans, wie der 1918 gefallene Bruder von Grete geheißen hatte, und am 3. April 1927 wurde die Tochter Steffi geboren.
Ulrich Tradelius erschien bis 1939 als Kaufmann oder Fabrikant im Adressbuch von Berlin neben seinem Bruder Siegfried (bis 1938). Von 1935 an wohnten sie in der Bayerischen Straße 9, übrigens mit Gretes Mutter Rosalie.
Aber schon ein Jahr nach dem Machtantritt der Nazis (30. Januar 1933) erreichte die Judenverfolgung die Familie Tradelius: Am 14. Februar 1934 wurde Siegfrieds Tochter Hilde Singer verhaftet und zu 1 Jahr Gefängnis verurteilt, ihr Mann Kurt Deutsch Singer konnte aber noch nach Schweden fliehen; 1935 gelang das auch Hilde.
Am 4. Juli 1938 zeigte die Hausangestellte der Tradelius’, Klara Hansen, die seit 1935 im Dienst der Familie stand, ihre Dienstherrschaft bei der Polizei an; wie Siegfried notierte: wegen eines politischen Gesprächs. Am 29. Oktober 1938 wurden Ulrich, Alice und Siegfried festgenommen und verhört wegen angeblichen “Devisenvergehens”, eine Anschuldigung, derer sich die Nationalsozialisten gegenüber Juden oft bedienten. Alice nahm sich im Polizeigefängnis das Leben, Ulrich und Siegfried kamen am 4. November in das Untersuchungsgefängnis Moabit. Ein Devisenvergehen wurde ihnen nicht nachgewiesen. Beide erreichten am 21. November Verschonung von der Haft, gegen eine Kaution von je 10 000 Reichsmark. Diese Kautionssummen waren mit Hilfe von Verwandten und Freunden zusammen gekommen, denn sie selbst konnten als Juden nur noch begrenzt über ihr Vermögen verfügen.
Daraufhin floh Ulrich mit seiner Familie am 4. Januar 1939 nach Belgien, ebenso Siegfried, der sogleich weiter nach Schweden zu seinen Töchtern floh. Ulrich und Grete mit den 15 und 11 Jahre alten Kindern Hans und Steffi schienen also zunächst alle in Belgien in Sicherheit. (Diese schlimmen Ereignisse, die Siegfried, Ulrich und der Bruder Günther Tradelius und Siegfrieds Frau Alice in Verhaftungen, Verhören, Flucht durchgemacht haben, hat die Historikerin Dr. Micaela Haas anhand der Akten recherchiert.)
Aber nach dem deutschen Angriff auf Frankreich und dem Einmarsch in Belgien konnte Ulrichs Familie doch nicht entkommen, alle vier wurden aufgegriffen. Ulrich kam schon 1940 in die französischen Lager Saint Cyprien und Gurs, wurde im August 1942 von Drancy aus nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Sein Todesdatum ist nicht bekannt. Der Sohn Hans wurde ebenfalls 1940 im Lager Gurs interniert und starb am 23. August 1940 im Krankenhaus Perpignan, vermutlich aufgrund einer im Lager ausgebrochenen Typhusepidemie.
Grete und Steffi wurden 1942 in dem SS-Sammellager im belgischen Mechelen interniert. Die einzigen Bilder dieser Familie sind die beiden Fotos von Grete und Steffi, die in Mechelen archiviert wurden (Grete wurde hier mit ihrem Geburtsnamen Quittmann geführt – und der war auffälligerweise nur mit einem t geschrieben). Beide wurden von Mechelen nach Auschwitz deportiert und dort umgebracht. Das Todesdatum war der 1. September 1942.
Damit war dieser Zweig der Familie Tradelius ausgelöscht.
Nach Informationen von Yad Vashem sind von den anfangs erwähnten neun Geschwistern Tradelius vier im Holocaust umgekommen, nämlich Walter, Ulrich (s.o.), Ilse und Edith. Außerdem fielen auch mindestens fünf der Ehepartner dem Holocaust zum Opfer: Alice Cohn (s. o.), Katharina Lappe (Stolperstein in Hamburg), Leo Wald, Grete Quittmann (s.o.), Kurt Kaminsky.
Heute leben Nachkommen dieser Tradelius-Familie in USA, Australien, Frankreich, Großbritannien, Israel, Niederlanden – keine in Deutschland.
Stolpersteine zum Gedenken an Siegfried und Alice Tradelius sind am 21.3.2014 an der Jenaer Straße 21, ebenso zum Gedenken an Hilde und Kurt Deutsch Singer am 19.5.2015 an der Jenaer Straße 9 verlegt worden.
Text: Dr. Dieter Quitmann, Berlin
Quellen:
Dr. Micaela Haas: Verfahren gegen Siegfried und Ulrich Tradelius 1938/39; Private Mitteilung an D.Q. 2015
Dieter Quitmann und Bärbel Lutt: Salo und Rosalie Quittmann – das Schicksal einer jüdischen Quittmann-Familie; Mitteilungen der Familienforschung Quitmann-Quitman-Quittmann, Heft 17, 2007, Privatdruck.
Yad Vashem, www.yadvashem.org