Alice Tradelius geb. Cohn kam am 8. April 1887 in Biniew (Region Posen/Poznan), zur Welt. Ihre Eltern Johanna Cohn geb. Schweitzer und Bruno Cohn stammten aus Krotoschin (Krotoszin, Region Posen) und wohnten spätestens seit 1906 in Berlin, das Adressbuch gibt den Beruf von Bruno Cohn als „Kaufmann“ an. Alice blieb ihr einziges Kind.
Wie und wann sie Siegfried Tradelius kennen lernte, bleibt unklar, vielleicht über die jüdische „Berthold-Auerbach-Loge“, bei der Alice Kassiererin war. Sie heiratete Siegfried am 15.März 1910 in Charlottenburg. Siegfried Tradelius war am 2. Juni 1880 in Woldenberg (Neumark) als ältester von neun Geschwistern geboren worden. Sein Vater Moritz Tradelius wird im Berliner Adressbuch erstmals 1906 auch als Kaufmann bezeichnet, mit Wohnsitz in der Wielandstrasse 4; in Woldenberg besaß er eine Papiermühle. Verheiratet war er mit Johanna Tradelius, geb. Lebbin.
Alice und Siegfried hatten zwei Töchter: Am 27. Mai 1911 wurde ihre Tochter Hilde geboren, zehn Jahre später, am 15. Januar 1921, die zweite Tochter, Ellen. Das Ehepaar wohnte bis Anfang der 1930er Jahre in der Motzstrasse 75. Etwa 1931 zog die Familie in die Jenaer Strasse 21.
Siegfried Tradelius hatte ein Textilgeschäft „Tüllen, Spitzen, Strickwaren“, zunächst in der Rossstraße 4 (heute in „Fischerinsel“ umbenannt), zuletzt in der Markgrafenstraße 33, Ecke Mohrenstraße. Während des Ersten Weltkrieges war er Soldat und Alice Tradelius führte das Geschäft und arbeitete auch später in der Firma mit. 1919 gründete Siegfried Tradelius eine Gesellschaft zusammen mit seinem Bruder Ulrich und nannte die Firma fortan „Siegfried Tradelius & Co“. Sie vertrieben weiterhin Kurzwaren und Stoffe und stellten auch Kinderkleidung her. Die Firma arbeitete viel für den Export, u.a. nach Südafrika, Norwegen und Schweden.
Alice und Siegfried Tradelius gehörten der jüdischen Reformgemeinde an. Sie verstanden sich als deutsche Staatsbürger und lehnten zunächst eine Emigration trotz der nationalsozialistischen Verfolgung ab. Auch dann, als 1934 ihre Tochter Hilde, inzwischen verheiratete Deutsch, verhaftet wurde, weil sie antifaschistische Flugblätter gedruckt und verbreitet hatte. Dank eines im Nationalsozialismus gut vernetzten Anwalts erhielt Hilde Deutsch „nur“ ein Jahr Gefängnis und konnte nach ihrer Entlassung 1935 nach Schweden zu ihrem Mann Kurt Deutsch fliehen, der ein Jahr zuvor rechtzeitig Deutschland hatte verlassen können. Später änderte er seinen Familiennamen in Kurt Singer, um seine Familie in Deutschland zu schützen. Die Eltern Alice und Siegfried besuchten das junge Ehepaar im Januar 1936 in Stockholm, kehrten dann aber nach Deutschland zurück. Ein Auswanderungsplan nach Palästina wurde wieder fallen gelassen. „Ich mag mich nicht mehr umstellen & ich möchte in
Deutschland mein Leben beenden“ hatte Siegfried Tradelius in einem Tagebuch notiert.
1938 bekam Siegfried Tradelius Probleme mit der Zollfahndungsstelle wegen „Devisenvergehens“, eine Anschuldigung, derer sich die Nationalsozialisten gegenüber Juden sehr oft bedienten. Am 29.9. wurde Tradelius „aufgrund einer Denunziation unseres Mädchens Klara“ verhaftet, aber am nächsten Tag wieder freigelassen. Klara Hansen, seit 1935 im Dienst der Familie Tradelius, hatte bereits 1936, als Alice und Siegfried ihre Tochter in Stockholm besuchten, gegen sie Anzeige wegen „Flucht“ erstattet. Am 4. Juli 1938 erschien sie wieder – „unaufgefordert“, wie das Vernehmungsprotokoll festhält – bei der Polizei und zeigte ihre Dienstherrschaft wegen angeblichen Geldtransfers nach Holland an. Am 29. Oktober wurden Alice, Siegfried und dessen Bruder Ulrich festgenommen, auch der in Hamburg ansässige Bruder Günther, der schon vorher verhört worden war, wurde dort verhaftet. Siegfried und Ulrich kamen am 4. November in das Untersuchungsgefängnis Moabit.
Alice kam nicht mehr in Untersuchungshaft: in der Nacht zum 4. November nahm sie sich das Leben in ihrer Zelle im Polizeigefängnis in der Alexanderstraße 10. Die Akten vermerken, dass sie dort „tot aufgefunden“ wurde. Sie war fast täglich verhört worden und wurde immer wieder mit neuen Anschuldigungen und mit Zeugenaussagen gegen sie und ihren Mann konfrontiert, um sie in Widersprüche zu verwickeln. „Sie war den Aufregungen nicht mehr gewachsen“ notierte ihr trauernder Ehemann. „Dieser furchtbare Schlag war das Schlimmste, was mich treffen konnte“. Auf der Gefangenenkarte Siegfried Tradelius’, laut der er am 4.11.38 um 15:00 Uhr in das Untersuchungsgefängnis Moabit überführt wurde, ist er bereits als Witwer registriert. Siegfried und Ulrich wurden am 21. November gegen Kaution von der Haft verschont: 20 000 RM für beide. Die Kautionssumme war mit Hilfe von Verwandten und Freunden zusammengekommen, da sie als Juden nur noch begrenzt über ihr Vermögen
verfügen konnten. Zu bereits bestehenden diskriminierenden Abgaben wie die „Reichsfluchtsicherheitssteuer“ war nach der Pogromnacht vom 9. November noch die „Judenvermögensabgabe“ als sog. „Sühneleistung“ in Höhe von 25% des Vermögens hinzugekommen.
Die eigentliche Verhandlung fand im Mai 1939 statt. Siegfried Tradelius wurde vorgeworfen, zusammen mit seinen Brüdern Ulrich und Günther, Geld ins Ausland verschoben oder dies versucht zu haben. Bei Siegfried ging es um 750 RM. Außerdem habe er schon früher größere Summen sowie Wertpapiere ins Ausland „verbracht“, was er „energisch in Abrede“ stellte, heißt es im Bericht des Zollinspektors. Bedauernd fügte dieser hinzu: „Seine Überführung in dieser Hinsicht war nicht möglich.“ Siegfried Tradelius wurde zu vier Monaten Haft und 5000.- RM Strafe verurteilt. Dieses vergleichsweise „milde“ Urteil wartete er nicht mehr ab. Am 4. Januar 1939 reiste er mit einem von Tochter Hilde besorgten falschen Pass nach Belgien aus und erreichte seine Kinder – auch Ellen war seit 1938 in Schweden – am 10. Januar in Stockholm. Dort ist er am 25. August 1943 in der Emigration gestorben.