Was ist das, ein „Kulturbahnhof“? Zunächst fällt einem keine vergleichbare Einrichtung ein. Wer die Gedanken schweifen lässt, bleibt vielleicht bei „Bio’s Bahnhof“ hängen, die von* Alfred Biolek* zwischen 1978 und 1982 in einem ehemaligen Eisenbahndepot präsentierte WDR-Musikshow. In Lichterfelde West ist es kein lebloses Depot, sondern ein lebendiger Bahnhof, in dem täglich Hunderte Menschen ankommen und abfahren – verkehrstechnisch eine der Hauptschlagadern zwischen Steglitz und Zehlendorf, Lichterfelde und Wannsee.
Dass der Bahnhof durch ein attraktives Kulturprogramm bereichert wird, ist dem segensreichen Wirken des im Oktober 2003 gegründeten „Fördervereins Bürgertreffpunkt Bahnhof Lichterfelde West e.V.“ (https://www.lichterfelde-west.net/) zu verdanken. „Der Verein trägt zur Erhaltung und Modernisierung des Bürgertreffpunkts und zur Weiterentwicklung des abwechslungsreichen Kulturangebots bei“, heißt es in einer Festschrift, die anlässlich des 140. Bahnhofsgeburtstags im Jahre 2012 herausgegeben wurde. „Das Verhältnis zum Förderverein ist definitiv sehr harmonisch“, schwärmt Andreas Ohrt. Der Verein zählt aktuell rund 90 Mitglieder. Dienstags trifft sich der Vorstand, mittwochs ist Veranstaltungstag. „Wenn ich den Förderverein anrufe und um Unterstützung bitte, sind sie sofort
da“, bringt Ohrt seine Wertschätzung des seit Januar 2012 von Diplom-Geograph Harald Hensel geleiteten Vereins auf den Punkt.
Ein Kulturbahnhof ist ein Ort, in dem Kunst und Kultur zuhause sind. Bei den Planungen orientiert sich Andreas Ohrt gerne an musikalischen Jubiläen – in enger Abstimmung mit dem Förderverein: 2019 stand der 200. Geburtstag des Komponisten Jacques Offenbach (1819-1880) auf dem Spielplan, 2020 der „König der Wiener Operette“, Franz Lehár (1870-1948), dessen Geburtstag sich zum 150. Mal jährte. Eine durch und durch ehrliche „Mucke“ liefern die „Dixties aus dem Bahnhof“ mit ihrem Dixieland-Jazz ab: Trompete, Klarinette und weitere Instrumente kommen zum Einsatz, wann immer die „hauseigene“ Combo zu Konzerten einlädt. Ihre regelmäßigen Proben hält sie in den Räumen der Freizeitstätte ab, gehört damit also fast schon zum Inventar.
Aus der großen Vielfalt des musikalischen Angebots ragt der „Gofenberg-Chor“ heraus: Ursprünglich ins Leben gerufen und geleitet von* Josif Gofenberg (1949-2022)*, ukrainisch-deutscher Akkordeonist, Dozent jüdischer Musik und Träger des Bundesverdienstkreuzes (2020), tritt der Chor heute unter neuer Leitung auf. In unnachahmlicher Weise interpretiert das von Konstantin Nazarov dirigierte Vokalensem*ble die melancholischen Klänge der* jiddisch-hebräischen Klezmer-Tradition.
Was gibt es darüber hinaus auf die Ohren? „Bahnhofsserenaden“ stehen ebenso auf dem Programm wie „Swing, Charme und Trompeten“, italienische Schlagergranaten, argentinische Tangoklänge, unvergessliche Evergreens der Wirtschaftswunderzeit. Hinzu kommt die unvergleichliche Windjammer-Romantik des Shanty-Gesangs, erklingt das „sexy Saxophon“, lässt ein besonders „bissiges Musikkabarett“ aufhorchen. Für den nötigen Kontrast sorgen ein „heiterer Operettenreigen“, schwungvolle Walzerklänge oder gefühlvoll vorgetragene französische Chansons. Kurzum: Fast kein musikalisches Genre wird ausgelassen, alle kommen auf ihre Kosten.
Gern arbeitet Andreas Ohrt mit der von Gisela M. Gulu geleiteten musikalisch-literarischen Künstlergruppe „Kalliope“ zusammen (http://www.kalliope-team.de/). Die frühere Rundfunk- und Printjournalistin begründete ihr Team im Jahre 2004 – „aus Liebe zur Literatur“, wie es auf der Internetseite heißt. Als künstlerischer Kopf führt sie „immer wieder charmant und kenntnisreich zu spannenden Entdeckungsreisen in literarische Lebenswelten“.
Großen Anklang genießen die vom Förderverein organisierten „Kulturbusfahrten“, die nach überwundener Pandemie wiederaufgenommen werden. Kultur pur gibt es auch am 19. Juli 2023, wenn ein vom Förderverein gechartertes Schiff in See sticht: Bei einer fröhlichen Dampferfahrt wird auf dem Wannsee nicht nur „Seemannsgarn“ gesponnen, sondern zu flotter Dixieland-Musik getanzt. Ein sommerlicher Höhepunkt der besonderen Art!
Wo getrommelt wird, fallen zumindest keine Späne: Seit 17. Januar 2023 werden auf der sogenannten „Djembe“ westafrikanische Rhythmen erzeugt. Das Trommeln lässt „gestaute Energien wieder fließen“ und stärkt das Herz – davon zeigt sich die Kursleiterin der neuen Perkussion-Gruppe überzeugt. Ohne selbst Teil des offiziellen Kulturprogramms im Bürgertreffpunkt zu sein, trägt das neue Gruppenangebot doch zur kulturellen Belebung des Hauses bei.
Ergänzt wird das kulturelle Angebot des Bürgertreffpunkts durch Dichterlesungen oder – ein Geheimtipp – exotische Erlebnisberichte des Weltreisenden Hans Neumann.
Es gibt eine Menge im Kulturbahnhof zu entdecken. Der halbjährlich erscheinende Veranstaltungskalender liegt u.a. an den Pförtnerlogen der Rathäuser Steglitz, Zehlendorf und Lankwitz, in den Bürgerämtern, sowie in kulturellen Einrichtungen zur kostenlosen Mitnahme aus.