197. Kiezspaziergang

Von der Wilmersdorfer Str. 141 zur Gedenkstele für Magnus Hirschfeld in der Otto-Suhr-Allee

Kartenskizze 197. Kiezspaziergang am 12.05.2018

Mit Bezirksbürgermeister Naumann

Treffpunkt: Wilmersdorfer Straße 141/ vor der Toreinfahrt
Länge : ca. 1,8 km

Herzlich willkommen zu unserem 197. Kiezspaziergang, der uns durch einen Teil der Altstadt von Charlottenburg führen wird. Wir haben einen Halt bei Rogacki und einen weiteren bei der Traditionsgaststätte Wilhelm Hoeck, dann geht es durch die Thrasoltstraße zum Gierkeplatz mit der Luisenkirche und dem alten Schulhaus. In der Behaimstraße besuchen wir das Café Theater Schalotte, ehe wir wieder zur Wilmersdorfer Straße mit den Bauzeugnissen aus drei Jahrhunderten kommen. Weiter geht es durch die Haubachstraße über die Richard-Wagner-Straße zu unseren Hallenbädern. In der Otto-Suhr-Allee gegenüber dem Rathaus steht die Gedenkstele für den Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld, der am 14. Mai 1868 geboren wurde. Zum Schluss kann noch die alte Magistratsbibliothek zu Charlottenburg (heute: Verwaltungsinformationszentrum) im Rathaus besichtigt werden.

Doch bevor wir beginnen, möchte ich Ihnen Ort und Zeit des Juni-Spaziergangs mitteilen, den Bezirksstadtrat Schruoffeneger mit Ihnen gehen wird. Treffpunkt ist am Samstag, den 9. Juni, um 14 Uhr vor dem S-Bahnhof Grunewald auf dem Karmielplatz. Der Spaziergang führt Sie durch Grunewald über die Douglasstraße mit ihren prächtigen Villen zum Hundekehlesee. Enden wird der Spaziergang nach knapp 4 km wieder am S-Bahnhof Grunewald.

Station 1: Wilmersdorfer Straße 141

Station 1.1: Wilmersdorfer Straße / Geschichte

Wir sind hier in der Wilmersdorfer Straße. Sie geht vom Adenauerplatz bis zur Otto-Suhr-Allee und hat bereits vor 1824 ihren Namen erhalten, weil sie von Charlottenburg nach Wilmersdorf führt. Früher ging die Straße noch über die Otto-Suhr-Allee hinaus. Die Wilmersdorfer Straße gehört mit der Schloß- und der Richard-Wagner-Straße zu den drei von dem Hofbaumeister des Königs Friedrich I. Johann Friedrich Eosander von Göthe geplanten Parallelstraßen. Hier wurden auch die von Eosander als Modellhaus entworfenen eingeschossigen Häuser gebaut, die wir nachher noch sehen werden.

Die Wilmersdorfer Straße kann man ungefähr in drei Teile gliedern. Der Abschnitt zwischen Krumme Straße und Schillerstraße wurde im Herbst 1978, also vor 40 Jahren, als autofreie Fußgängerzone eröffnet. Hier konzentrieren sich Einzelhandel und Warenhäuser. An der Wilmersdorfer Straße 118 steht auch das älteste Kaufhaus Charlottenburgs: 1906 von Adolf Jandorf an der Pestalozzistraße gegründet, beherbergt es heute eine Karstadt-Filiale. Nach dem optischen Niedergang der Fußgängerzone wurden 2001 im Rahmen einer Neugestaltung zur Verbesserung des Ambientes die Pavillons und Überdachungen der U-Bahnabgänge entfernt. Seither hat die Wilmersdorfer Straße als Einkaufsstraße wieder ein gutes Image – nicht zuletzt auch durch die Aktivitäten der Arbeitsgemeinschaft Wilmersdorfer Straße e.V. 2005 eröffnete das Kant-Center mit Media Markt, Peek & Cloppenburg, Fitness Company u.a. Es setzte einen starken Akzent für den Wiederaufschwung der Fußgängerzone, desgleichen die Wilmersdorfer Arcaden, die im September 2007 eröffnet wurden.

Station 1.2: Friedenskirche

Wenn Sie durch den Hofeingang nach links schauen, können Sie die Friedenskirche sehen. Sie wurde zwischen 1897 und 1898 als katholisch-apostolische Kirche nach dem Entwurf von Carl Moritz im historisierenden Stil der Backsteingotik gebaut. Von 1908 bis 1918 wurde sie als Synagoge genutzt, danach als Kirche einer Pfingstgemeinde. 1920 erwarb die Baptistengemeinde die Kirche und baute sie um.

Im Zweiten Weltkrieg wurde sie stark beschädigt und von 1946 bis 1949 wieder aufgebaut. Neben dem Kirchengebäude gehört auch ein Wohnhaus aus dem gleichen Baujahr (1898) zum Gebäudebestand auf dem Grundstück. Die Friedenskirche steht unter Denkmalschutz. Heute gehören ca. 130 Mitglieder zur Gemeinde der Friedenskirche. Die Friedenskirche engagiert sich stark in der Jugendarbeit. So betreut sie zum Beispiel das Spielhaus in der Schillerstraße.

Der Haupteingang befindet sich in der Bismarckstraße 40 hinter einem Wohnhaus, die Kirche liegt im Hinterhof und heißt deshalb im Volksmund manchmal auch Hinterhofkirche.

Station 1.3: Wilmersdorfer Straße 141 / Asanta

Im Hof direkt vor uns steht die ehemalige Kirche der Neuapostolischen Gemeinde Charlottenburg. Sie wurde 1909 gebaut. Auch sie war eine Hinterhofkirche, denn davor stand ein Berliner Mietshaus mit zwei Seitenflügeln. Dieses wurde im Zweiten Weltkrieg stark beschädigt und in den 1970er-Jahren abgerissen. Die Gemeinde baute dann das Torgebäude, worin sich der Gemeindesaal befand. Der Hof hat eine Länge von 55 m. 2010 wurde das Gelände einschließlich der Kirche von einem privaten Investor gekauft. Er baute die ehemalige Kirche zu einem Veranstaltungsort namens Asanta um mit einem ausgeklügelten Lichtkonzept und neuester Konferenztechnik. Asanta kann für Konferenzen und Festlichkeiten gemietet werden. 95 % der Veranstaltungen werden von Firmen gebucht.

Rogacki, Wilmersdorfer Str. 145, Kiezspaziergang 12.05.2018

Station 2: Wilmersdorfer Straße 145/146 / Rogacki

Ich begrüße ganz herzlich Herrn Harz, den stellvertretenden Ladenchef der ersten Charlottenburger Aal- und Fischräucherei, wie sie offiziell heißt, die dieses Jahr 90 Jahre alt wird. Herr Harz sagt Ihnen nun etwas zu der Geschichte des Unternehmens:

1928 eröffneten Paul und Lucia Rogacki einen Räucherwarenhandel im Wedding. 1932 zogen sie dann in die Wilmersdorfer Straße 145/146. Auch heute noch stammen 98 % der Räucherware aus eigener Produktion. Geräuchert wird über Buchenholz.

1944 zerstörte eine Bombe den Laden vollständig und 1951wurden dann auf dem Hinterhof in der Wilmersdorfer Straße wieder erste Waren verkauft. 1955 wurde das Geschäft vergrößert und das Sortiment um Wild, Geflügel und Wurst erweitert. Die Fischbraterei kam 1958 dazu, außerdem konnte man dann auch Fleisch-, Fisch- und Geflügelsalate kaufen. Ein neuerlicher Umbau erfolgte zum 50-jährigen Geschäftsjubiläum. Neu hinzu kamen die Käse- und die Brotabteilung, und für viele Berliner und Berlinerinnen ganz wichtig die Feinschmeckerstände. Heute hat der Laden etwa 1000 m² Verkaufsfläche. Er wird von Dietmar Rogacki, dem Enkel, und Nicolai Rogacki, dem Urenkel von Paul und Lucia Rogacki, geleitet. Rogacki hat etwa 90 Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, etwa die Hälfte ist im Verkauf beschäftigt, die andere arbeitet in der Produktion.

Vielen Dank, Herr Harz!

Wir gehen nun ein paar Schritte weiter bis zur Nummer 149, zum Gasthaus Wilhelm Hoeck.

Wilhelm Hoeck, Wilmersdorfer Str. 149, Kiezspaziergang 12.05.2018

Station 3: Wilmersdorfer Straße 149 / Wilhelm Hoeck 1892

Das älteste noch bestehende Restaurant Charlottenburgs wurde 1892 von Wilhelm Hoeck als Wein- und Sekthandlung eröffnet. Bald danach wurde es erweitert und es kam eine Großdestillation, Likörfabrik und eine Probierstube hinzu. Die Probierstube ist heute der Schankraum. Likörfabrik und Destillation wurden im Zweiten Weltkrieg zerstört, der Schankraum blieb glücklicherweise erhalten. 1954 wurde dann eine Speisegaststätte angebaut, die heute noch neben dem Schankraum weitergeführt wird. Ende der 1970er-Jahre wurde hier Ein Mann will nach oben von Hans Fallada mit Manfred Krug verfilmt.

2010 hat ein neuer Pächter das traditionsreiche Restaurant umgestaltet und ausgebaut, die Speisekarte modernisiert und neu eröffnet. Im Januar 2017 wurde die 125 Jahre alte Berliner Kneipe wegen eines Streits der damaligen Pächterin mit den Vermietern geschlossen. Zum Glück für Charlottenburg konnte das Wilhelm Hoeck am 4.2.2017 vom neuen Wirt Marko Tobjinski wieder eröffnet werden, den ich ganz herzlich neben mir begrüße und der uns das Konzept seiner Traditionsgaststätte vorstellen wird.

Vielen Dank, Herr Tobjinski!

Beim Hoeck beginnt der historische Abschnitt der Wilmersdorfer Straße. Ab hier ist sie Teil der Altstadt Charlottenburg, die seit der Stadtgründung 1705 in dem Dreieck zwischen Schloßstraße, Zillestraße (damals Wallstraße) und Otto-Suhr-Allee (damals Berliner Straße) entstand. Die damalige Wallstraße bildete lange Zeit eine natürliche Grenze der Bebauung, weil an ihrer Südseite der Schwarze Graben oder auch Lietzengraben verlief. Er wurde um 1860 zugeschüttet. Erst danach konnten die Schloßstraße und die Wilmersdorfer Straße bis zur Bismarckstraße und darüber hinaus verlängert werden.

Wir gehen nun durch die Thrasoltstraße zum Gierkeplatz und treffen uns an der Ecke Gierkezeile wieder. Auf dem Weg dorthin werden Sie drei interessante Häusertypen sehen, über die wir später noch sprechen werden. In der Thrasoltstraße 15 ist der zweigeschossige Haustyp, der zwischen 1840 und 1870 gebaut wurde. In der Thrasoltstraße 25 steht der eingeschossige Haustyp. Das Haus wurde um 1823 von L. Mertens und Ludwig Grünberg gebaut. In der Haubachstraße 26 steht der viergeschossige Haustyp. Dieses Haus wurde 1887/1888 von Otto Harnisch und Paul Bratring gebaut.

Station 4: Gierkeplatz

Station 4.1: Thrasoltstraße / Herkunft des Namens

Die Thrasoltstraße wurde 1953 nach dem Dichter Matthias Tressel benannt, der sich Ernst Thrasolt nannte. Er wurde 1868 in Trier geboren und starb 1945 in Berlin. Thrasolt war ein katholischer Priester, der auf Grund eines Verstoßes gegen das Zölibat 1915 emeritiert wurde. Er meldete sich daraufhin als Kriegsfreiwilliger. Die Erlebnisse im Ersten Weltkrieg, in dem auch zwei seiner Brüder starben, führten ihn zum Pazifismus. Der Haltung der katholischen Kirche gab er eine Mitschuld an dem Kriegsausbruch. Hier ein Zitat:

Schuld daran, dass die Katastrophe (1914) überall grade auch die Katholiken nicht vorbereitet und nicht gefeit traf, hatte überall der Staatskatholizismus, die kleine kurzsichtige Hingabe des Christen an den Staat, die Selbstaufgabe ihres christlichen Bürgerrechtes um das Linsenmus des Staatsbürgerrechtes, der Verzicht auf Christenehre für nationale Ehre, der Verrat des Taufeides um des Fahneneides willen, der Untergang des eigenen persönlichen Gewissens in die gewissenlose öffentliche Meinung.

1908 veröffentlichte Thrasolt seinen ersten Gedichtband und wurde Mitherausgeber mehrerer katholischer Jugendzeitschriften. Dadurch wurde er auch Mitbegründer der katholischen Jugendbewegung. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde Thrasolt Hausgeistlicher im Kloster der Karmelitinnen in Weißensee. In der Zeit des Nationalsozialismus wurden Thrasolts Werke zum Teil verboten, die Zeitschriften eingestellt. Als einer der „berüchtigtsten Pazifisten Deutschlands“ erhielt Thrasolt Schreibverbot. Er stand unter ständiger Beobachtung der Gestapo. Ab 1934 lebte er in einer einsamen Blockhütte in Schildow, nördlich von Berlin. Dort bot er politisch Verfolgten und Juden Unterschlupf und versorgte sie mit Lebensmitteln. Einigen Juden konnte er zur Flucht in die Niederlande verhelfen. Am 6. Dezember 1944 wurde Thrasolts Blockhütte ein Opfer von Brandbomben. Zahlreiche Werke und Manuskripte gingen unwiederbringlich verloren. Schon bald darauf starb Thrasolt. Sein Nachlass befindet sich im Diözesanarchiv Berlin. Ernst Thrasolt gilt als Erneuerer der religiösen Lyrik.

Station 4.2: Gierkezeile / Gierkeplatz / Herkunft des Namens

Wir sind durch die Gierkezeile gelaufen und stehen jetzt auf dem Gierkeplatz. Die Gierkezeile ist eine der ältesten Straßen Charlottenburgs. Sie hieß bis 1824 Brettergasse und bis 1950 Kirchstraße. Danach wurde sie nach der 1874 geborenen Sozialpädagogin Anna von Gierke benannt. Anna von Gierke leitete das Jugendheim Charlottenburg, eine Einrichtung zur Ausbildung von jungen Frauen in den unterschiedlichsten Berufen. In dem Jugendheim in der Goethestraße 22 gab es aber auch, besonders für Kinder aus armen Familien, eine Kinderkrippe, einen Kindergarten und einen Schulhort. 1922 gründete sie das Landjugendheim Finkenburg in der Nähe von Falkensee. Dort konnten die Auszubildenden des Jugendheims Charlottenburg Praktika absolvieren. Gleichzeitig war es Erholungsheim für die Großstadtkinder und später Fluchtort für jüdische Kinder und manchmal auch für ihre Familien. 1933 wurde sie von den Nationalsozialisten wegen der jüdischen Abstammung ihrer Mutter aus allen Ämtern entlassen. Sie veranstaltete aber weiterhin regelmäßig Vortrags- und Literaturabende in der Goethestraße 22. Bei einem Verhör durch die Gestapo im November 1942 musste sie sich verpflichten, keine Abendveranstaltungen mehr durchzuführen. Sie starb 1943.

Station 4.3: Gierkeplatz 2 / Puppentheater Berlin

In diesem Haus gibt es eine Berliner Attraktion, denn hier residiert das Puppentheater Berlin. Das Puppentheater wurde 1984 in Schöneberg gegründet. Im Sommer 1996 zog das Theater nach Charlottenburg, zuerst in die Haubachstraße / Ecke Gierkezeile, zehn Jahre später an den Spandauer Damm und seit 2008 hat es seine Spielstätte hier am Gierkeplatz 2. Die Räume konnten mit Mitteln der Klassenlotterie umgebaut werden und nun hat das Theater 100 Plätze. Das Puppentheater wird von Hella und Ulrich Treu geleitet. Zudem gibt es mehrere freie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die meisten kommen von der Musikhochschule Hanns Eisler oder der Universität der Künste. Es finden im Jahr ca. 220 Vorstellungen für Kinder und Familien statt, aber es gibt auch Vorstellungen nur für Erwachsene. Insgesamt kann das Puppentheater jährlich etwa 18.000 Gäste begrüßen. Das Puppentheater nimmt auch an Festivals teil und hat Gastspiele in zahlreichen Ländern.

Station 4.4: Gierkezeile 4 / Gedenktafel für den Stadtpfarrer Johann Christian Gottfried Dressel

Die Berliner Gedenktafel am Haus Gierkeplatz 4 wurde am 29.9.1989 enthüllt. Hier steht:

In dem Vorgängerbau dieses Hauses
lebte von 1778 bis 1824
der Charlottenburger Oberpfarrer

JOHANN CHRISTIAN
GOTTFRIED DRESSEL
22.9.1751-16.10.1824

Der aufgeklärte Prediger führte die Reformpädagogik Pestalozzis ein, ordnete die Schulverhältnisse neu und richtete eine städtische Armenpflege ein.

Nun noch ein paar weitere Informationen zu dem für Charlottenburg so wichtigen Stadtpfarrer. 1771 begann er ein Theologiestudium in Wittenberg, das er ein Jahr später in Halle fortsetzte und 1773 abschloss. Nach seinem Studium war Dressel ein Jahr lang Konrektor in Werder, ehe er eine Stelle als Rektor in Biesenthal bekam. 1778 übernahm er das Pfarramt in der Stadt Charlottenburg. Zu diesem Zeitpunkt war Charlottenburg ein ländliches Städtchen, in dem die Bewohner hauptsächlich Ackerbau und Viehzucht trieben. Die Kirchengemeinde war in einem genauso kläglichen Zustand wie die Schulen, die damals der Kirche unterstanden. Auch die Armut war groß. Dressel setzte sich für die Verbesserung der Lebensbedingungen in seiner Gemeinde ein und reformierte das Schulwesen in Charlottenburg. Wie vorhin gesagt, wurde auf seine Initiative hin das erste Schulhaus Charlottenburgs gebaut. Er engagierte sich auch sehr für die Einrichtung eines Armenhauses, was dann 1802 tatsächlich eröffnet werden konnte. Berühmt wurde Dressel auch, weil er zwei Chroniken verfasste: die sogenannte Pfarrchronik, die im Besitz der Luisenkirche ist, und die sogenannte Dressel-Chronik, die im Besitz des Bezirksamtes Charlottenburg-Wilmersdorf ist. Beide Chroniken berichten über die Geschichte der Stadt Charlottenburg und sind in ihrer Art einzigartig.

Zudem hat Dressel sechs Tagebücher geschrieben. Die ersten beiden Bände befinden sich in der Königlichen Magistratsbibliothek im Verwaltungsinformationszentrum des Bezirksamtes Charlottenburg-Wilmersdorf von Berlin. Der erste Band berichtet über Dressels Kindheit, Jugend und Studium. Der zweite behandelt die Zeit bis zu seinem Amtsantritt in Charlottenburg. Die vier anderen Bände sind derzeit verschollen.

Diese Handschriften sind nun, soweit sie im Besitz des Bezirksamtes Charlottenburg-Wilmersdorf sind, digitalisiert und über Wikimedia weltweit verfügbar. Wir freuen uns sehr, dass wir dieses ambitionierte Digitalisierungsprogramm mit unseren wenigen Personalmitteln geschafft haben.

Station 4.5: Luisenkirche

Hier mitten auf dem Platz steht nun die Pfarrkirche, die Dressel 1778 übernahm. Die barocke Kirche mit ihrem kreuzförmigen Grundriss wurde nach den Plänen von Baumeister Philipp Gerlach unter der Leitung des Schlüter-Schülers Martin-Heinrich Böhme 1712–16 erbaut. Der Bau mit einem gleichschenkligen Kreuz als Grundriss in Form eines griechischen Kreuzes hatte keinen Turm, sondern einen hölzernen Dachreiter am Schnittpunkt der beiden Walmdächer. 1814 musste er abgerissen werden. Karl Friedrich Schinkel erstellte 1821 ein Gutachten zur Vollsanierung der Kirche und legte darin den Bau eines Turmes nahe. 1823 wurde der Bau genehmigt und am 11. Juni 1826 konnte der Turm eingeweiht werden. Kurz zuvor hatte der König Friedrich Wilhelm III. die Erlaubnis zur Benennung der Kirche nach der 1810 verstorbenen Königin Luise erteilt. In den folgenden zwei Jahrhunderten wurde die Kirche mehrfach erneuert. Im September 1943 brannte sie bei einem Bombenangriff aus und bei den Angriffen im November 1943 wurde sie von zwei Luftminen getroffen.

Zwischen 1950 und 1956 wurde die Luisenkirche unter der Leitung des Landeskonservators Hinnerk Scheper und der Bauleiter Alfred Lagotz und Bodo Lehmann aus Köln wieder aufgebaut. Es gab geringfügige Änderungen zur Schinkelschen Fassung. 1976 wurde das Kirchenäußere saniert. 1987 bis 1988 fand durch Jochen Langeheinecke eine – dem Zustand des Schinkelbaus angenäherte – Rekonstruktion des Innenraums statt.

Station 4.6: Gierkezeile 39 / Altes Schulhaus

Das älteste Schulhaus Charlottenburgs wurde 1785/86 nach den Plänen des Oberbaurates Schulze im Zopfstil in der Übergangsphase vom Barock zum Klassizismus erbaut und 1798 um drei Achsen erweitert. Das Schulhaus entstand auf Initiative von Johann Christian Gottfried Dressel, der die nötigen finanziellen Mittel beschaffte. Die Bausumme betrug exakt 2701 Taler, ein Groschen und zwei Pfennige. Der Rektor wohnte im oberen Geschoss, und der Unterricht fand im Erdgeschoss statt. 1798 wurde das Haus erweitert, so dass in den Räumen zwei Mädchen- und zwei Jungenklassen unterrichtet werden konnten. Die Dachräume wurden 1906 ausgebaut. In dem mehrfach umgebauten Haus wurde bis 1931 unterrichtet.

1898, also vor 120 Jahren, zog hier die erste öffentliche Leihbibliothek Deutschlands ein. In den 1890er-Jahren hatte sich, inspiriert von der Bewegung in den USA, eine Bücherhallenbewegung herausgebildet. Die Bevölkerung sollte durch die Bücherhallen die Möglichkeit zum Erwerb allgemeiner Bildung erlangen. Wichtig war ein breites Angebot an Büchern für alle Bevölkerungskreise. Neben Ausleihmöglichkeiten sollte es auch eine Lesehalle geben. Das Angebot war kostenfrei und ohne große bislang übliche Formalitäten zugänglich. Aufgrund der großen Nachfrage und der steigenden Anzahl an Büchern wurden die Räumlichkeiten in dem kleinen Schulhaus aber bald zu eng. Im Jahr 1899 wurde daher der Bau eines neuen eigens dafür geschaffenen Gebäudes beschlossen. 1901 konnte die Bibliothek in das Quergebäude der Kunstgewerbe- und Handwerkerschule in der Wilmersdorfer Straße (heute Eosanderstraße 1) umziehen.

Im Zweiten Weltkrieg wurde das Schulhaus beschädigt. Zehn Jahre später 1956/57 wurde Hans-Dieter Bolle mit der Restaurierung beauftragt. Das heutige Erscheinungsbild des Baudenkmals entspricht dem Zustand von 1798. Auch der rosa Farbton orientiert sich an der Farbe der Entstehungszeit.

1979 zog die Landesstelle Berlin für Suchtgefahren in das Gebäude ein. Dieser Verein ist eine Anlaufstelle für alle Fragen rund um das Thema Sucht. Es wird das gesamte Spektrum abgedeckt: Alkohol, Arzneimittel, Nikotin, illegale Drogen und nicht stoffgebundene Süchte, z.B. Glücksspiel, Computersucht, Sex- oder Konsumsucht u.a. Interessierte, betroffene süchtige Menschen, Angehörige und Kinder aus suchtkranken Familien werden an die zuständigen Institutionen vermittelt oder erhalten konkrete Hilfen.

Wir gehen nun ein Stück zurück und treffen uns wieder vor dem Café Theater Schalotte in der Behaimstraße 22.

Station 5: Behaimstraße 22

Station 5.1: Behaimstraße / Herkunft des Namens

Die Behaimstraße trägt ihren Namen seit 1950 nach dem Kosmograph, Nautiker und Geograph Martin Behaim. Er wurde 1459 in Nürnberg geboren und starb 1507 in Lissabon. Behaim war Tuchhändler und wurde vom portugiesischen König zum Ritter geschlagen. Er nahm an Expeditionen an der afrikanischen Westküste teil und entwickelte den ältesten erhaltenen Globus der Welt, der heute im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg steht.

Station 5.2: Behaimstraße 22 / Café Theater Schalotte

Ich begrüße ganz herzlich die Projektkoordinatorin des Café Theater Schalotte, Daniela Kuhlisch, die uns gleich etwas zu dem Café Theater sagen wird, das bereits am 3.6.1980 von Karin Köthe als Jugendprojekt des evangelischen Kirchenkreises Charlottenburg gegründet wurde. Früher befand sich hier ein Kino. Seit 1988, also seit 30 Jahren, ist der Journalist Christian Retzlaff ehrenamtlich dabei. Das Theater der Off-Theater-Szene bietet 300 Plätze. 25 ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind für Programmgestaltung, Bühnentechnik, PR, das Café usw. verantwortlich. Weitere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind immer willkommen. 2003 erhielten die ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Café Theaters Schalotte den Ehrenamtspreis des Bezirks.

Alles andere erzählt Ihnen nun Frau Kuhlisch:

Vielen Dank, Frau Kuhlisch!

Wir gehen nun zurück in die Wilmersdorfer Straße, dort können wir auf einer relativ kleinen Strecke einen großen Teil der Baugeschichte des 19. Jahrhunderts erkunden. Wir treffen uns wieder an der Ecke auf unserer Straßenseite.

Wilmersdorfer Str. 162, Kiezspaziergang 12.05.2018

Station 6: Wilmersdorfer Straße / Ecke Behaimstraße

Wie vorhin schon gesagt, entwarf der Hofbaumeister Eosander ein eingeschossiges Modellhaus, was im ersten Jahrhundert des Bestehens der Stadt Charlottenburg die gängige Hausform war. Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurden die Häuser immer höher. Zuerst wurden es zweigeschossige, dann dreigeschossige Häuser. Zwischen 1870 und 1890 entwickelte sich der Bautyp Bürgerhaus zum viergeschossigen Mietshaus. Die ersten Beispiele können Sie mit den Hausnummern 162 und 158 und an der Kreuzung Haubachstraße mit der Nummer 156 sehen. Diese Häuser hatten noch keine Seitenflügel und keine Quergebäude. Das Haus schräg gegenüber wurde von R. Schenkenburg und Paul Schöltz 1884/1885 gebaut, die Nummer 162 1879/1880 von Hermann Marunge, das Haus Nummer 158 1874/75 von Franz Hertling und das Eckhaus mit der Nummer 156 an der Kreuzung Haubachstraße 1877/1878 von Ernst George. Das Haus hier gegenüber Ecke Behaimstraße / Wilmersdorfer Straße 12 ist ein Beispiel für das voll entwickelte Berliner Mietshaus. Dieser Typus wurde ab 1890 gebaut. Es hat fünf Geschosse, Seitenflügel und Quergebäude. In den Vorderhäusern gab es nun standardmäßig ein WC in der Wohnung und manche hatten auch ein Bad. Mädchenzimmer waren Standard. Weitere Beispiele dafür sind das Nachbarhaus mit der Nummer 13 und die Nummer 157 an der nächsten Kreuzung Ecke Haubachstraße. Die Nummer 12 und die Nummer 13 wurden von dem Architekten Robert Glasenapp und die Nummer 157 1901/1902 von dem Architekten S. Weile gebaut.

Wir überqueren nun die Wilmersdorfer Straße und treffen uns wieder vor dem Reformhaus.

Station 7: Wilmersdorfer Straße 157

Station 7.1: Wilmersdorfer Straße 15 / Gedenktafel für Paul Hirsch

Gegenüber sehen Sie eine Gedenktafel für Paul Hirsch, die am 23.6.2015 angebracht wurde. Auf ihr steht:

In diesem Haus wohnte von 1916 bis 1919
der sozialdemokratische Politiker
Paul Hirsch
17.11.1868 – 1.8.1940
1899-1932 Stadtverordneter in Charlottenburg und Groß-Berlin
Mitglied des Preußischen Landtages
Preußischer Ministerpräsident
Stellv. Bürgermeister von Charlottenburg
Nach 1933 von den Nationalsozialisten verfolgt

In der Gervinusstraße 24 wurden am selben Tag auch Stolpersteine für Paul Hirsch und seine Familie verlegt.

Station 7.2: Wilmersdorfer Straße 15-19

Das Haus Nummer 15 gegenüber ist ein Vertreter der Reformarchitektur, eine Architekturrichtung der Jahre 1900 bis zum Ersten Weltkrieg. Es wurde 1913–1914 von George Nicolas gebaut. Ornamente und Stuckelemente werden weniger, die Fassaden werden klarer strukturiert. Ich zitiere Kristian Ludwig aus dem Buch Die Wilmersdorfer Straße:

Besonders bemerkenswert ist das Haus Nummer 15. Seine lediglich vierachsige Fassade vertritt den Stil der Reformarchitektur in seiner reinsten Form und zeigt eine horizontale Gliederung mit Gesimsen und Brüstungselementen und eine vertikale durch Putzspiegel. Überraschenderweise befinden sich hier, trotz des sehr schmalen Grundstücks, mit sechs Zimmern einige der größten Wohnungen in der Wilmersdorfer Straße. Sie reichen durch den Seitenflügel hindurch bis in das Quergebäude hinein. Ein Personenaufzug war hier bereits selbstverständlich.

Das Haus links daneben mit der Hausnummer 16 wurde 1864 von den Architekten Fr. Pahl und Friedrich Schoenfelder gebaut und gehört zu den ersten mehrgeschossigen Bürgerhäuser in der Wilmersdorfer Straße, die keine Fachwerkhäuser mehr waren, sondern in Ziegelbauweise errichtet wurden. Sie entstanden zwischen 1840 und 1870. Wenn auch die Fassade nicht mehr erhalten ist, stehen wir nun vor dem einzig erhaltenen Haus dieses Typus. Es soll auch das erste Haus gewesen sein, das bereits mit Ladengeschäft geplant worden war. Die Wohnungen waren Dreizimmer-Wohnungen.

An der Ecke sehen Sie das kleine eingeschossige Haus. Es ist ein Lehmfachwerkhaus von 1800 und entspricht in etwa der ursprünglichen Charlottenburger Bebauung mit dem von Eosander entwickelten eingeschossigen Haustyp. Die Toiletten waren damals nicht in den Wohnhäusern, sondern in den dahinter liegenden Wirtschaftsräumen wie Ställen, Scheunen und Werkstätten untergebracht. Auch das dreigeschossige gelbe Eckhaus mit der Nummer 17 gehört zu diesem Haustypus. Es wurde 1880 um zwei Geschosse nach oben erweitert. Aber zurück zu dem kleinen Eckhaus. Um 1900 zog eine Weißbierstube ein, 1926 ein Motorradhändler, später ein Autoverkäufer. Ein Umbau mit großen Ladenscheiben verunstaltete das Haus, bis es der Denkmalschutz zurückbauen und restaurieren ließ. Nach langem Leerstand zog im Sommer 2006 die türkische Weinstube “Weinhaus Pamukkale” ein, die 2011 wieder geschlossen wurde. Seit 2015 befindet sich hier die Weinschule der Mosers.

Hier finden regelmäßig Weinseminare statt. Es gibt Grundschulungen und Seminare zu einzelnen Weinregionen. Der Gründer der Schule ist der Journalist und Sommelier Bernhard Moser, der uns heute gerne begrüßt hätte, aber leider verreist ist. Bei den Weinseminaren legt Bernhard Moser Wert auf die Vermittlung von Grundkenntnissen zum Thema Wein, zum Beispiel werden die chemischen und sensorischen Qualitäten eines Weines vorgestellt, wie Säure, Aminosäuren usw., und ausprobiert, was diese mit dem Wein machen. Es sind also keine Weinverkostungen im klassischen Sinn, wo verschiedene Winzer ihre Weine vorstellen. Die Seminare für 16 bis 20 Teilnehmende sind oft vier Monate vorher ausgebucht. Die Weinschule organisiert auch die Gourmet-Messe eat!Berlin, die inzwischen alljährlich stattfindet und nächstes Jahr am 21. Februar beginnen wird. Abgesehen von Bernhard Moser und seiner Frau organisieren das noch drei festangestellte Mitarbeiter*innen und eventuell notwendige Zeitkräfte. Auch private Feiern können hier gebucht werden.

Hinter der Weinschule in der Haubachstraße 15 sehen Sie noch einmal ein schönes Beispiel für den zweigeschossigen Bautyp eines Bürgerhauses.

Wir biegen nun links in die Haubachstraße ein und gehen weiter bis zur Ecke Richard-Wagner-Straße. Auch in diesem Abschnitt unseres Spaziergangs werden Sie unschwer die verschieden Häusertypen erkennen können.

Stodiecks Buchhandlung, Richard-Wagner-Str. 39, Kiezspaziergang 12.05.2018

Station 8: Haubachstraße / Richard-Wagner-Straße

Station 8.1: Haubachstraße / Herkunft des Namens

Theodor Haubach wurde 1896 geboren. Er war Mitglied der SPD und arbeitete von 1924 bis 1929 als Redakteur bei der Tageszeitung Hamburger Echo, von 1929 bis 1930 als Pressereferent im Reichsinnenministerium und von 1930 bis 1932 als Pressechef beim Berliner Polizeipräsidenten. Von 1927 bis 1930 gehörte er zudem der Hamburger Bürgerschaft an
.
Politisch engagierte er sich beim Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold, einer Vereinigung, die sich für die Weimarer Demokratie einsetzte und aktiv gegen den zur Macht drängenden Nationalsozialismus kämpfte. Nach 1933 baute er mit anderen Reichsbanner-Mitgliedern eine Untergrundorganisation auf. Er wurde verhaftet und von 1934 bis 1936 im KZ Esterwegen gefangen gehalten. Über einen Freund bekam er nach seiner Entlassung Arbeit in einer Papierfabrik. Im September 1939 wurde er vorübergehend noch einmal im Rahmen der Kriegs-Sonderaktion verhaftet. Nach dem Attentat vom 20. Juli 1944 wurde Haubach zum dritten Mal verhaftet und vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilt. Er wurde am 23. Januar 1945 in Plötzensee hingerichtet.

Station 8.2: Haubachstraße 8 / Akademie für internationale Bildung

Wir sind soeben an einem weiteren alten Bürgerhaus vorbeigekommen. Das eingeschossige Wohnhaus mit Werkstatt wurde 1826 wahrscheinlich von dem Architekten Engel errichtet. 1871 baute C. Michaelis den linken Seitenflügel an. 1905-06 errichtete Gustav Weyhe die Werkstatt.

Das Haus und seine Nebengebäude stehen inzwischen unter Denkmalschutz. Heute befindet sich dort die Akademie für internationale Bildung, natürlich nicht nur in dem alten Teil, der von der Straße aus zu sehen ist. Es gibt einen schönen Hinterhof mit einem fünfgeschossigen Quergebäude in Klinkerbauweise, wo genügend Platz für die Klassenräume ist. In der Akademie werden Schüler und Schülerinnen aus aller Welt zum Fachabitur geführt, und zwar in den Fächern Medien/Gestaltung, Wirtschaft und Sozialwesen. Zur Zeit werden gerade die Abiturprüfungen abgelegt.

Station 8.3: Richard-Wagner-Straße / Herkunft des Namens

Die Richard-Wagner-Straße wurde 1934 nach dem Komponisten Richard Wagner benannt. Er wurde 1813 in Leipzig geboren und starb 1883 in Venedig. Wagner trug viel zur Erneuerung der europäischen Musik im 19. Jahrhundert bei. Er veränderte die Musik der Romantik und die theoretischen und praktischen Grundlagen der Oper, indem er dramatische Handlungen als Gesamtkunstwerk gestaltete. Er gründete die Bayreuther Festspiele, bei denen ausschließlich seine eigenen Werke aufgeführt wurden und werden. Für diese Festspiele wurde in Bayreuth auch das Festspielhaus errichtet. Mit seiner Schrift Das Judenthum in der Musik gehört Wagner geistesgeschichtlich zu den überzeugten Vertretern des Antisemitismus.

Station 8.4: Richard-Wagner-Straße 39 / Stodiecks Buchhandlung

Herr Stodieck kann heute leider nicht selbst hier sein, um Sie zu begrüßen. Er hat mich beauftragt, Ihnen die herzlichsten Grüße auszurichten und Ihnen seine kleine, persönliche Geschichte der Buchhandlung vorzutragen. Ich lese vor:

1979 habe ich von Freunden den Tipp bekommen, einen Laden in der Richard-Wagner-Str. anzumieten. Ich hatte schon länger den Plan, eine eigene unabhängige Buchhandlung zu eröffnen. Ich stamme aus einer Buchhändler-Familie. Meine Eltern hatten 1946 einen Buchladen in Mönchengladbach gegründet. Im April 1979 haben wir ungefähr sieben Monate renoviert und Regale gebaut. Wir konnten uns auch über sehr viel Hilfe aus der Nachbarschaft freuen. Im Oktober 1979 war das große schöne Eröffnungsfest. Etwa zu der gleichen Zeit wurden zum Beispiel der Brotgarten in der Seelingstraße und auch die TAZ gegründet.

Wir haben immer ganz viele Kinderbücher und sonst hauptsächlich Belletristik und natürlich Krimis. Jedes lieferbare Buch bestellen wir fast immer über Nacht. Und seitdem halten wir wacker durch, wenn auch mit vielen Höhen und Tiefen, auch dank der vielen treuen Stammkunden und Freunde.

Eine Zeit lang haben wir auch Wolle in Strängen verkauft. Jetzt bieten wir seit über zwei Jahren Bio-Weine an. Der Buchladen wird nächstes Jahr vierzig und ich selbst übernächstes Jahr siebzig. Wie sieht die Zukunft aus? Mein Ziel ist eine langsame Übernahme durch neue frische Kollegen.

Station 8.5: Richard-Wagner-Straße 38 / Ackerbürgerhaus

Gegenüber sehen Sie noch ein Beispiel der von Eosander entwickelten Ackerbürgerhäuser, die im 18. Jahrhundert hier zwischen Feldern und Wiesen standen.

Station 8.6: Richard-Wagner-Straße 30 / Arno-Fuchs-Schule

Neben dem Ackerbürgerhaus befindet sich die Arno-Fuchs-Schule, in der Schülerinnen und Schüler unterrichtet werden, die, wie es in der Sonderpädagogikverordnung heißt, wegen einer hochgradigen Beeinträchtigung ihrer intellektuellen Fähigkeiten und damit verbundener Lern- und Entwicklungsstörungen erheblich unter den altersgemäßen Erwartungsnormen liegen.

Die Schulanlage wurde von 1981 bis 1982 vom Hochbauamt Charlottenburg erbaut. Bei dem Schulgebäude handelt es sich um eine unregelmäßige ein- bis zweigeschossige Zweiflügelanlage, die mit roten Klinkern verblendet ist. Der Zweckbau weist glatte Fassaden mit eingerückten Fenstern, mehrere Erker und einen Balkon auf.

Die Figur vor uns ist eine Darstellung des Menschen, die um eine in Hüfthöhe angebrachte waagerechte Achse drehbar befestigt ist. Geschaffen wurde sie 1983 von dem Künstler Dietrich Arlt-Aeras. Namensgeber der Schule ist Arno Fuchs. Arno Fuchs wurde 1869 geboren und starb 1945. Er war in Berlin entscheidend an der Entstehung von Sonderschulen beteiligt.

Ich zitiere jetzt aus der Selbstbeschreibung der Arno-Fuchs-Schule im Internet, da sie das Profil der Schule sehr gut zusammenfasst:

Die Schülerinnen und Schüler werden im Alter von 5 ½ bis 6 Jahren eingeschult und besuchen nach der 10jährigen Schulpflichtzeit einen 2-jährigen berufsqualifizierenden Lehrgang […]

Die Schule ist eine Ganztagsschule mit Unterricht von 8-15 Uhr an 5 Tagen in der Woche und dem Angebot der Spät- und Ferienbetreuung für alle Schülerinnen und Schüler. Kollegen, die kaum oder nichtsprechende Schülerinnen und Schüler unterrichten, sowie Eltern dieser Schüler erhalten hier kompetente Beratung über alternative Kommunikationssysteme.

Die Arno-Fuchs-Schule versteht sich als ein “Ort zum Leben”. […] [Es gibt] den besonderen Bedürfnissen entsprechend gestaltete Klassenräume, einen Schulhof mit Schulgarten, ein Therapiebad, die Turnhalle, die Aula und unterschiedlich ausgestattete Fachräume. In unserer Schule wird der Unterricht nicht im 45-Minuten-Rhythmus durchgeführt. Jede Klasse kann die Lernphasen und Pausen nach den Bedürfnissen der Schülerinnen und Schüler regeln. Der Stundenplan jeder einzelnen Klasse zeugt von einem sinnvollen Wechsel von Anspannung und Entspannung, von musischen Aktivitäten und dem Kennenlernen der Kulturtechniken Lesen, Schreiben, Rechnen, vom Erlernen der lebenspraktischen Tätigkeiten und dem Üben motorischer Fertigkeiten. Morgenkreis, gemeinsames Frühstück und Mittagessen gehören ebenso zum Schulleben wie Jahresfeste, Ausflüge und Klassenfahrten. Dadurch erwerben [die Schüler und Schülerinnen] individuell notwendige Kompetenzen für ein möglichst selbständiges Leben in sozialer Integration.

Wir gehen nun vor bis zur Otto-Suhr-Allee und treffen uns wieder vor der Hausnummer 93.

Station 9: Otto-Suhr-Allee 93 / Gedenkstele Dr. Magnus-Hirschfeld

Wir stehen hier an der Gedenkstele für Dr. Magnus Hirschfeld. Er wurde am 14. Mai 1868 in Kolberg geboren, sein Todestag ist ebenfalls der 14. Mai, er starb 1935 in Nizza. In zwei Tagen begehen wir also seinen 150. Geburtstag und seinen 83. Todestag, und ich möchte ihn auf diese Weise mit Ihnen zusammen besonders ehren. Magnus Hirschfeld war Arzt und Sexualwissenschaftler und Mitbegründer der ersten Homosexuellen-Bewegung. Er wurde zeitlebens diskriminiert als Sozialdemokrat, Jude und schwuler Mann.

Auf der Stele steht:

In dem hier ehemals stehenden
Haus lebte von 1896 bis 1910 der
Arzt und Sexualwissenschaftler
Dr. Magnus Hirschfeld.
Geb. 1868 in Kolberg
Gest. 1935 in Nizza im Exil

In Charlottenburg begann
Dr. Hirschfeld am 15. Mai 1897
mit dem Aufbau der ersten
deutschen Homosexuellen-
Bewegung als Gründer und
Vorsitzender des Wissen-
schaftlich-Humanitären
Komitees (WHK). Ferner
entstanden hier die Pläne
für das spätere Berliner
“Institut für Sexualwissen-
schaft”.
Nach der Machtübernahme
der Nationalsozialisten sah
sich das WHK 1933 gezwun-
gen, sich selbst aufzulösen.
Das engagierte Wirken von
Magnus Hirschfeld mahnt
bis heute zu Toleranz und
Akzeptanz gegenüber Min-
derheiten in unserer Gesell-
schaft.

In der Bezirksverordnetenversammlung Charlottenburg, in der ich damals Bezirksverordneter war, wurde 1989 beschlossen, eine Gedenktafel an dem Ersatzbau des zerstörten ehemaligen Wohnhauses in der Otto-Suhr-Allee 93 anzubringen. Der Hauseigentümer lehnte diesen Vorschlag ab. Mit Hilfe von privaten Spenden konnte dann auf öffentlichem Straßenland diese Gedenkstele aufgestellt werden. Gestaltet wurde sie von den Künstlern August Jäkel und Emanuel Scharfenberg mit Porträtrelief und Inschrift. Sie wurde am 14. Mai 1995 vom damaligen Bezirksamt Charlottenburg gemeinsam mit der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft, dem Schwulen Museum, den Schwusos und anderen Institutionen enthüllt.

Wie soeben vorgelesen, gründete Hirschfeld 1897 hier in seiner Wohnung in der Otto-Suhr-Allee 93 das Wissenschaftlich-humanitäre Komitee, zusammen mit dem Verleger Max Spohr, dem Juristen Eduard Oberg und dem Schriftsteller Franz Joseph von Bülow. Es war die weltweit erste Organisation mit dem Ziel, sexuelle Handlungen zwischen Männern zu entkriminalisieren.

Ein Jahr zuvor hatte Hirschfeld seine revolutionäre Schrift Sappho und Sokrates oder Wie erklärt sich die Liebe der Männer und Frauen zu Personen des eigenen Geschlechts? veröffentlicht. Er entwickelte darin die Lehre von den sexuellen Zwischenstufen. Sie bedeutete eine Abwendung von der binären Geschlechterordnung, die nur Frauen und Männer kannte, hin zu einer radikal individualisierten Sicht: Alle Männer und Frauen sind demnach einzigartige unwiederholbare Mischungen männlicher und weiblicher Eigenschaften. Ziel war es die von den gesellschaftlichen Normen abweichenden körperlichen oder psychischen Ausprägungen zu entpathologisieren. Politisch folgten daraus der Kampf um die Gleichberechtigung aller sexuellen Orientierungen und um eine Beendigung staatlicher Verfolgung und gesellschaftlicher Ächtung. Der Schutz vor staatlicher Verfolgung wurde in mehreren Schritten mit der Abschaffung des § 175 erst nach der Wiedervereinigung gänzlich realisiert.

1918 richtete Hirschfeld die Dr. Magnus-Hirschfeld-Stiftung ein, der Vorläufer des Instituts für Sexualwissenschaft, das 1919 gegründet wurde. Im gleichen Jahr war Hirschfeld Berater und Mitwirkender im ersten Schwulenfilm der Filmgeschichte Anders als die Andern von Richard Oswald. Hierin spielte er mehr oder weniger sich selbst als einen Arzt, der vermittelt, dass Homosexualität keine Krankheit ist.

Ab 1920 wurde Hirschfeld Ziel nationalsozialistischer Hetzkampagnen. Auf einer Vortragsreise wurde er Anfang der dreißiger Jahre gewarnt und beschloss, nicht mehr nach Deutschland zurückzukehren.

1933 wurde das Institut für Sexualwissenschaft geschlossen und die Bücher der Institutsbibliothek am 10. Mai auf dem August-Bebel-Platz mit anderen Schriften von verfemten Autoren und Autorinnen verbrannt.

Hirschfeld verfasste zwischen 1933 und 1934 eine Analyse und Widerlegung der nationalsozialistischen Rassendoktrin, die 1938 in englischer Übersetzung, unter dem Titel Racism veröffentlicht wurde. Hirschfeld beschreibt darin Rassismus als Sicherheitsventil gegen ein nationales Katastrophengefühl, das für die Wiederherstellung der Selbstachtung gebraucht werde. Dies sei besonders wirksam, da sich Rassismus gegen einen leicht erreichbaren und wenig gefährlichen Feind im eigenen Land richte und nicht gegen einen achtenswerten Feind jenseits der nationalen Grenzen. Hirschfeld empfahl die Streichung des Begriffs Rasse, soweit damit Unterteilungen der menschlichen Spezies gemeint seien.

Hirschfeld starb an seinem Geburtstag 1935 in Nizza, wo er nach seiner Flucht aus Deutschland im Exil lebte.

Hier endet nun unser Kiezspaziergang. Für diejenigen, die noch Zeit und Lust haben, zeigt Frau Lübcke nun die alte Magistratsbibliothek im Rathaus Charlottenburg. Mir bleibt noch, Ihnen Treff- und Zeitpunkt des nächsten Kiezspaziergangs mitzuteilen, den Bezirksstadtrat Schruoffeneger mit Ihnen gehen wird. Er beginnt am Samstag, den 9.6.2018, um 14 Uhr vor dem S-Bahnhof Grunewald am Karmielplatz. Da es ein knapp 4 km langer Rundweg ist, endet er auch dort. Wir sehen uns wieder zum 200. Kiezspaziergang am 11. August bei der Messe Berlin. Bis dahin wünsche ich Ihnen alles Gute, kommen Sie gut nach Hause und allseits ein schönes Wochenende.

Quellen: