HIER WOHNTE
FANNY LIPPFELD
GEB. WOLLENBERG
JG. 1868
DEPORTIERT 3.10.1942
THERESIENSTADT
ERMORDET 5.4.1945
Zur Verlegung des Stolpersteins zum Gedenken an Fanny Lippfeld sagte die Hausbewohnerin Brigitta Cesnik-Etienne:
Als sie die Juden holten
Von Martin Niemöller
Als die Nazis die Kommunisten holten,
habe ich geschwiegen,
ich war ja kein Kommunist.
Als sie die Sozialdemokraten einsperrten,
habe ich geschwiegen,
ich war ja kein Sozialdemokrat
Als sie die Gewerkschafter holten,
habe ich geschwiegen,
ich war ja kein Gewerkschafter.
Als sie die Juden holten,
habe ich geschwiegen,
ich war ja kein Jude.
Als sie mich holten,
gab es keinen mehr,
der protestieren konnte.
Martin Niemöller war ein deutscher Pfarrer und Theologe. Anfangs war Niemöller ein glühender Anhänger des Dritten Reiches. Als er begann, sich gegen Hitlers Politik aufzulehnen, kam er in die Konzentrationslager Sachsenhausen und Dachau. 1945 wurde er von den alliierten Truppen befreit.
Gunter Demnig hat gesagt, dass ein Mensch erst dann vergessen ist, wenn sein Name vergessen ist. Stolpersteine geben diesen Menschen wieder ihren Namen. Sie holen sie aus ihrer Anonymität und zeigen, in welcher Nachbarschaft sie vor ihrer Deportation gelebt haben. Indem sie die Existenz von Opfern anzeigen, die den Ablauf ihres Lebens nicht mehr selbst bestimmen konnten, fordern Stolpersteine also eine intensive und offene Auseinandersetzung mit der Unmenschlichkeit jener Zeit. Sie dokumentieren das Schicksal jener Menschen, die den Holocaust nicht überlebt haben und offenbaren damit auf dramatische Weise die Brutalität des Naziregimes.
Eines dieser Opfer ist Fanny Lippfeld.
Der Versuch, in das Leben von Fanny Lippfeld einzutauchen, kann natürlich nur eine bruchstückhafte Erfassung eines Lebensentwurfes sein. Und dennoch steht der Ablauf ihres Lebens stellvertretend für die Schicksalsdramen jener Opfer des Dritten Reiches.
Es erscheint nicht schwer nachzuempfinden, wie sich diese Frau gefühlt haben muss, nachdem sie, als Jüdin rechtlos geworden, schutzlos dem Terror ausgeliefert war, einem Terror, der plötzlich schonungslos in alle Bereiche ihres Lebens eindrang, ihr Leben diktierte und es zuguterletzt auch brutal beendete.
Es gibt nur wenige Unterlagen über Fanny Lippfeld, nicht einmal ein Foto, um sich wenigstens ein äußeres Bild von ihr machen zu können. Dennoch möchte ich ihr ein Gesicht und damit ihre Würde zurückgeben.
Geboren wurde Fanny Lippfeld am 25. März 1868 als Fanny Wollenberg in Marienburg in Westpreußen. Sie scheint noch jung gewesen zu sein, als sie Isaac Lippfeld heiratete, der genauso wie sie – in der rassistischen Sprache der Nationalsozialisten – „ Volljude“ war, also vier jüdische Großeltern hatte. Drei gemeinsame Kinder bekamen sie: den Sohn Max, (Geburtsdatum unbekannt), die Tochter Dora, geboren am 28. November 1889, und die Tochter Paula, geboren am 20. August 1898. Was Isaac Lippfeld beruflich gemacht hat, ist leider nicht mehr nachvollziehbar, aber es scheint der Familie finanziell gut gegangen zu sein. Vielleicht war das auch einer der Gründe, warum es die Familie Lippfeld nach Charlottenburg zog.
Die selbständige Großstadt Charlottenburg hatte sich mittlerweile zu einer der größten und reichsten Städte Deutschlands entwickelt bis sie 1920 als siebter Verwaltungsbezirk dem Land Berlin eingemeindet wurde. Das jüdische Bürgertum mit seinen Künstlern, Wissenschaftlern, Geschäftsleuten hatte sich überwiegend in Charlottenburg und Wilmersdorf angesiedelt. 1910 lebten bereits mehr als 22.500 Juden in Charlottenburg, das waren acht Prozent der Gesamtbevölkerung.
Seit 1921 lebte die Familie in Berlin-Charlottenburg. Sohn Max war bereits während des ersten Weltkriegs im Frühjahr 1918 in Frankreich gefallen. Am 22. November 1922 starb Fannys Mann Isaac.
1937 zog Fanny Lippfeld in die Sybelstraße 42. Für 85 Reichsmark Miete bewohnte sie dort eine 3½-Zimmerwohnung im Gartenhaus. Eines ihrer Zimmer hatte sie für 40 Reichsmark an Carl Jaffe und dessen Frau vermietet, ein Hinterzimmer für 30 Reichsmark an Selma Lippschütz. Tochter Dora, mittlerweile verheiratet mit Ernst Reichenheim, wohnte mit ihrem Mann ein Haus weiter, in der Sybelstraße 43
Was für ein Mensch war Fanny Lippfeld?
Auch hier nur eine Vermutung.
Fanny Lippfelds unter Zwang handschriftlich verfasste „Vermögenserklärung“ vom 30. September 1942 erweckt jedenfalls den Eindruck, dass sie eine höchst korrekte Frau gewesen sein muss. Ihre Wohnungseinrichtung und Kleidung wurden penibel aufgelistet: 1 Standwanduhr 10 Reichsmark, 1 Sommerkleid 15 RM, 1 Regenmantel 20 RM. Bewertet wurde das gesamte Inventar mit 230 RM.
Bis 1933 war Fanny Lippfeld berufstätig. Bei Durchsicht ihrer Akte findet sich ein Vermerk vom 19. Dezember 1942. Darin bittet Gertrud Hopp, Besitzerin eines Kaufhauses in Marienburg, den Oberfinanzpräsidenten um Einstellung der Zahlungen an ihre ehemalige Angestellte Fanny Lippfeld. Gertrud Hopp habe ihr vertraglich ab dem 15. April 1933 eine monatliche Unterhaltsrente von 300 RM zugesichert. Diese sei jedoch nur auf 8 Jahre begrenzt gewesen, nun zahle sie bereits seit 10 Jahren die Rente. Sie bitte deshalb um Rückzahlung und Einstellung weiterer Zahlungen, zumal die „Jüdin Fanny Lippfeld“ ja bereits 73 Jahre alt sei und „ohnedies nicht mehr damit gerechnet werden“ dürfe, „dass die auf Lebenszeit gewährte Rente noch lange gezahlt werden“ müsse. Fanny Lippfeld war zu dem Zeitpunkt bereits seit sechs Wochen im Konzentrationslager und es kann davon ausgegangen werden, dass ihre ehemalige Arbeitgeberin darüber auch informiert war. Gertrud Hopp blieb beharrlich.
Der Rechtsstreit zog sich bis ins Jahr 1944. Sie konnte eine handschriftliche Bestätigung vorlegen, auf der Fanny Lippfeld angeblich den Erhalt der 7.200 RM bestätigte. Ob die Notiz mit der Unterschrift wirklich von Fanny Lippfeld stammte, muss angezweifelt werden, da sie ja bereits zwei Jahre zuvor ins Konzentrationslager Theresienstadt deportiert wurde und ihr Konto seitdem gesperrt war. Wie der Rechtsstreit ausging, bleibt unklar.
Jedenfalls wurde sie eines Tages, vermutlich am 30. September 1942, aus ihrer Wohnung abgeholt und zunächst in ein Sammellager in die Jüdische Mädchenschule Auguststraße 14-17 gebracht. Zusammen mit den beiden Hausbewohnerinnen Marta Fabian und Jenny Neumann ist sie am 3. Oktober 1942 in einem mit 1.021 Menschen vollgestopften Zug, der als „3. großer Alterstransport“ bezeichnet wurde, vom Bahnhof Grunewald nach Theresienstadt verschleppt worden. Das Todesdatum von Fanny Lippfeld war der 5. April 1945 – gut einen Monat vor der Befreiung von Theresienstadt. Ob sie an einer Krankheit oder Altersschwäche starb, ob sie verhungerte oder umgebracht wurde, ist nicht bekannt.
Fanny Lippfelds Tochter Dora Reichenheim wurde mit ihrem Mann am 9. Dezember 1942 nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Am Leben blieb deren einzige Tochter Inge, die nach Kriegsende mit ihrem Mann Franz Hirschberg nach Windhoek in Südwest-Afrika auswanderte.
Ebenfalls am Leben blieb Paula, Fanny Lippfelds jüngste Tochter. Nach einigen Jahren in Tel Aviv kehrte sie mit ihrem Mann Hugo Loewi nach Berlin zurück und stellte Anfang der 1950er Jahre Wiedergutmachungsansprüche.
Zum Abschluss möchte ich ein Gedicht von Pavel Friedman vorlesen. Auch er gehörte zu den Opfern. Am 29. September 1944 wurde er nach Auschwitz deportiert und kam dort um. Als er das Gedicht „Der Schmetterling” am 4. Juni 1942 in Theresienstadt schrieb, soll er 17 Jahre alt gewesen sein. Seine schriftlichen Aufzeichnungen fand man nach dem Zweiten Weltkrieg zusammen mit Kinderzeichnungen in einem geheimen Versteck.
Der Schmetterling
Von Pavel Friedmann
Der letzte, der allerletzte.
So kräftig, hell, gelb schimmernd,
als würden sich die Tränen der Sonne
auf einem weißen Stein niederlassen.
So ein tiefes, tiefes Gelb
Er erhebt sich ganz leicht nach oben.
Er verschwand weil, so glaube ic h,
weil er der Welt einen Abschiedskuss geben wollte.
Seit sieben Wochen habe ich hier gelebt.
Eingepfercht im Ghetto.
Aber ich habe hier meine Freunde gefunden.
Der Löwenzahn verlangt nach mir
Und die weißen Kerzen der Kastanien im Hof.
Aber ich habe niemals einen zweiten Schmetterling gesehen.
Dieser Schmetterling war der letzte seiner Art.
Schmetterlinge leben nicht hier
Im Ghetto.
Text: Brigitta Cesnik-Etienne