Ernst und Dora Reichenheim haben mindestens 30 Jahre lang, spätestens seit 1912, bis Oktober 1942 zusammen in der Sybelstraße 43 gewohnt. Am 19. Oktober 1942, also 50 Tage vor seinem Abtransport, ist Ernst Reichenheim aus unbekannten Gründen in die Giesebrechtstraße 16 ins Gartenhaus, 1. Stock links, gezogen, wie den noch vorhandenen Meldeunterlagen zu entnehmen ist. Es ist nicht zweifelsfrei zu klären, ob Dora ebenfalls umzog oder bis zum 24. November 1942, als sie ins Sammellager an der Großen Hamburger Straße 26 verschleppt wurde, in der Sybelstraße blieb. Die wenigen vorliegenden Dokumente über die Familie Reichenheim lassen keine Rekonstruktion ihres Lebens und ihres Schicksals zu. Sie hatten jedenfalls eine Tochter Inge, die – wie es in einem Vermerk der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) heißt – „nach Südafrika ausgewandert“ sei, der Zeitpunkt ist unbekannt. Und Dora Reichenheim hatte eine Schwester Paula, verheiratete Loewi, die den Zweiten Weltkrieg
überlebte.
Der am 30. Juni 1881 in Berlin geborene Ernst Reichenheim, seine Mutter hieß Anna, war Architekt und machte offenbar Karriere im öffentlichen Dienst, wie sich anhand der Berliner Adressbücher nachvollziehen lässt: erst als Regierungsbaumeister, dann ab 1922 als Regierungsbaurat und seit 1928 als Oberbaurat. Von dem im April 1933 erlassenen „Gesetz zur Wiederherstellung des Beamtentums“ war Reichenheim offenbar nicht betroffen – sei es, weil er vor 1914 verbeamtet worden war, sei es, weil er als „Frontkämpfer“ davon ausgenommen war. Die Ausnahmeregelungen wurden 1935 jedoch aufgehoben und Ernst Reichenheim musste schließlich in den Ruhestand treten. Er bezog immerhin eine Pension von „ca. 50-60 RM mon.“, wie er notierte. Danach war er, wahrscheinlich ehrenamtlich, in der Jüdischen Kultusvereinigung (JKV) tätig.
Das Ehepaar hatte in der 3. Etage eine 3-Zimmer-Wohnung mit Warmwasser, Warmwasserheizung, Balkon, Badezimmer und Mädchenkammer für 95 Reichsmark gemietet und eine Untermieterin, Gertrud Radeck, die für ein Zimmer 40 RM zahlte. Sein Haushalt bestehe aus „2“ Personen, ist in der Vermögenserklärung vom 5. Dezember 1942 zu lesen, „aus mir und Frau“. Zum Wohnungsinventar machte Ernst Reichenheim keine Angaben, sondern nur den Verweis: „siehe Ehefrau“. Diese Angaben wurden – offenbar nicht von ihm selbst – mit Bleistift ausgefüllt, wobei fraglich ist, ob die Unterschrift seine eigene ist.
Seine Frau Dora wurde mit dem Mädchennamen Lippfeld am 26. November 1889 in Dirschau (Westpreußen) geboren. Zweifellos von ihr selbst – sorgfältig und gut leserlich mit Tinte – geschrieben ist die Vermögenserklärung, die sie am 24. November1942 abgeben musste, als sie sich wohl schon im Sammellager an der Großen Hamburger Straße 26 befand. In die Rubrik „Beruf“ schrieb sie: „Ehefrau“, außerdem sei sie seit drei Jahren ehrenamtlich als Küchenhilfe in einer jüdischen Gemeinschaftsküche tätig. In der Spalte „Kleidungsstücke“ trug sie „diverse Sachen“ ein und fügte eine Anmerkung hinzu: „Da ich kein Gepäck habe, weiß ich nicht, was man mir eingepackt hat was man zurückgelassen hat.“ Ähnliches wiederholte sie in der Spalte „Damenkleidung“: „Ich weiß nicht, was mir eingepackt worden ist und was zurückgeblieben ist.“
Diese Anmerkungen sind ungewöhnlich, denn die meisten anderen Juden, denen vor ihrer Deportation solche Vermögenserklärungen abverlangt wurden, verzichteten auf solche Kommentare. Dora Reichenheim aber, offenbar eine sehr korrekte Frau, schrieb auf: „Mein Mann bezieht Pension“ und antwortete auf die Frage nach dem „Gesamtvermögen“: „Kann ich nicht angeben, da mein Mann es verwaltet ich keinen Einblick habe“. Lediglich „1 Briefmarkensammlung, Wert und Stückzahl unbekannt“ gab sie preis. Interessanterweise befindet sich in seiner Vermögenserklärung an dieser Stelle ein Strich. Auch das ist merkwürdig, denn die Dresdner Bank teilte dem Oberfinanzpräsidenten am 18. Oktober 1944 mit, dass sie Wertpapiere Reichenheims in Höhe von 1900 RM verwahrt habe. Und in einem Vermerk der Oberfinanzkasse (Adresse: Alt-Moabit 143) vom 7. November 1944 ist festgehalten, aus dem Reichenheim-Vermögen seien 617 RM „verbucht“ worden (Unterschrift: „Nietz“).
Dora Reichenheim indessen machte einen weiteren unüblichen Eintrag. Sie hielt fest: „Da ich ohne jede Vorbereitung abgeholt worden bin mein Mann längere Zeit fort ist, ist es mir unmöglich meine Vermögensangaben exakt zu machen, da mein Mann das Vermögen verwaltet hat. Ich hatte dadurch auch keine Gelegenheit, mir Auskünfte Belege von der Bank geben zu lassen.“ Ob diese Erklärung eine Entschuldigung für ihr Unwissen oder eine Klage über ihren Mann ist, kann niemand mehr ergründen. Jedenfalls scheinen die beiden für kurze Zeit getrennt worden zu sein. In einem späteren Vermerk vom 11. November 1944 ist für Ernst Reichenheim sogar angegeben: „zuletzt wohnhaft Berlin-Halensee, Kurfürstendamm 115“, wofür es sonst keinerlei Belege gibt.
Jedenfalls wurde das Inventar aus der Wohnung in der Sybelstraße 43 vom Obergerichtsvollzieher Neumann mit 1344,50 Reichsmark bewertet. Insgesamt nahm die Vermögensverwertungsstelle des Oberfinanzpräsidenten Berlin-Brandenburg 1044 RM ein, was zwei Beamte („i.A. Andre, Müller“) und ein Möbeleinzelhändler namens Rothenstein (schwer entzifferbar) mit ihren Unterschriften bestätigten. Außerdem liegt den Akten ein Vermerk des Hauptwirtschaftsamts an den Oberbürgermeister bei, am 31. März 1943 sei die „Räumung erfolgt“ – unterschrieben: „Sachse“. Eine weitere Notiz aus dieser Zeit enthält die Formulierung: „Die Juden sind (handschriftlich) nach dem Osten abgeschoben.“
Das Haus Giesebrechtstraße 16, in dem Ernst Reichenheim sich zuletzt aufhielt, gehörte der Ekona Plantagen-GmbH, die an der Friedrichstraße 72 residierte. Der Verwalter, ein Herr Papesch, verlangte in einem Schreiben an den Oberfinanzpräsidenten vom 25. September 1944 Mietnachzahlungen, die „seit dem Abtransport der bisherigen jüdischen Mieter“ angefallen seien. Im Falle Ernst Reichenbachs wurde für den Zeitraum Dezember 1942 bis März 1943 eine Rechnung über Miete und Nebenkosten von 305,11 RM gestellt („Wir bitten um Überweisung … Heil Hitler!“), die dann auch prompt beglichen wurde.
Eine weitere Ungereimtheit ist, dass beide Eheleute – die nach den Akten in unterschiedlichen Wohnungen lebten – an verschiedenen Tagen in das Sammellager Große Hamburger Straße 26 verschleppt wurden und dann am selben Tag (9. Dezember 1942) mit dem gleichen Zug, von den Nazis als „24. Osttransport“ gelistet, nach Auschwitz deportiert wurden. Er wurde dort am 7. Januar 1943 und sie am 1. Juli 1943 ums Leben gebracht.
Als es später darum ging, sich die Vermögenswerte der Juden unter den Nagel zu reißen, teilte die Deutsche Bank am 18. Oktober 1944 dem Oberfinanzpräsidenten eilfertig mit, dass sie „ein laufendes und ein Sparkonto“ von Anna Reichenheim, der gestorbenen Mutter Ernst Reichenheims, geführt habe. Summen sind in diesem Brief nicht erwähnt.
Dora Reichenheims Schwester Paula Loewi hat am 11. September 1950 über einen Berliner Rechtsanwalt um eine „amtliche Deportationsbescheinigung“ gebeten und einen Vermögensausgleich geltend gemacht. Wie dieses Verfahren ausging, ist unbekannt. In diesen Schriftstücken ist falsch die Sybelstraße 44 – eine Hausnummer daneben – als Adresse angegeben.
Die im Brandenburgischen Landeshauptarchiv in Potsdam aufbewahrte Reichenheim-Akte, die einige Fragen offen lässt, endet mit einem grotesken Dokument des Treuhänders der Alliierten Militärregierung. Ernst und Dora Reichenheim seien am 9. Dezember 1942 deportiert worden, „Ziel unbekannt“. Und dann: „Der weitere Verbleib der Genannten ist hier leider nicht festzustellen.“
Recherchen und Text: Helmut Lölhöffel