Er machte nach der Schule – wahrscheinlich noch in Berlin – eine Schlachterlehre. Für ein paar Jahre kehrte er nach Höxter zurück und half in der väterlichen Metzgerei. 1905 starb Sophie, die Mutter, und Abraham verkaufte das Geschäft und zog zu seiner inzwischen in Hannover verheirateten Tochter Johanna, wo er 1914 auch starb.
Julius ging wieder nach Berlin und trat 1912 als Mitinhaber in die von seinem Onkel Salomon 1893 gegründete Firma ein, „S. Neuberg Pferdehandlung“, mit Sitz in der Lehrter Straße 12/13. Salomon Neuberg – Julius’ Onkel – war 1902 gestorben. Sein Sohn Isaias und sein Schwiegersohn Abraham Eisenstein führten das Geschäft weiter, das sich auch „Pferdeheim“ oder „Pferdehof“ nannte. 1912 boten sie dem Militär Stallungen für 300 Pferde an. Das Gebäude in der Lehrter Straße war Eigentum der Neubergs. Dort wohnten auch mehrere Mitglieder der Familien Neuberg und Eisenstein, Julius hatte zunächst ebenfalls seinen Wohnsitz in dem Haus. In Berlin lebte schon seit einigen Jahren auch Julius’ Bruder Salomon. Anders als Julius hatte Salomon in Höxter sein Abitur abgeschlossen und dann Medizin studiert. 1898 promovierte er in Bonn und ließ sich bald danach in Berlin als praktischer Arzt nieder. Das Adressbuch verzeichnet ihn erstmals 1902
in der Michaelkirchstraße 24a, 1910 war er in die Elberfelder Straße 38 gezogen, 1920 finden wir ihn in der Paulstraße 35. Auch Julius gab in diesem Jahr beim Handelsregister diese Adresse an. Die beiden Brüder, die bis zuletzt ledig blieben, wohnten wohl hier und an anderen späteren Adressen meist zusammen, mal taucht der eine, mal der andere in den Adressbüchern als Hauptmieter auf, häufiger allerdings Julius, in der Regel als Kaufmann bezeichnet.
1920 starb Cousin Isaias Neuberg, sein jüngerer Bruder Max war schon seit einigen Jahren auch Mitinhaber der Firma. Sechs Jahre später schied Julius aus, nachdem ein Jahr zuvor sein Neffe Julius Eisenstein (Sohn von Abraham Eisenstein) Mitgesellschafter geworden war. Welchen Geschäften Julius Neuberg dann nachging, wissen wir nicht.
Anfang der 30er Jahre wohnten Julius und Salomon in der Spichernstraße 2, 1934 zogen beide, jetzt „Rentiere“, in die Bleibtreustraße 34/35. Als Julius und Salomon in die Bleibtreustraße zogen, waren beide noch keine 60 Jahre alt. Dass sie sich als „Rentiere“ bezeichneten, zeugt von Wohlstand, muss aber nicht heißen, dass sie beruflich nicht mehr aktiv waren. Vor allem auf Salomons Namen lief eine große Anzahl von Wertpapieren und Konten. Es ist aber anzunehmen, dass Salomon Neuberg weiter als Arzt praktizierte, obwohl es bemerkenswert ist, dass er sich nur ab zu ins Adressbuch eintragen ließ. Vielleicht arbeitete er in einer anderen Praxis mit, in der Bleibtreustraße 35 gab es auch einen Dr.med. Bloch. Für jüdische Ärzte war sowieso alles schwieriger geworden. Gleich nach der Machtübernahme, 1933, hatten die Nationalsozialisten jüdischen Ärzten die Kassenzulassung aberkannt, sie durften nur noch Privatpatienten behandeln. Und infolge der offiziell
sanktionierten Judendiskriminierung wurden die Patienten auch immer weniger. Ab 1. Oktober 1938 wurde jüdischen Ärzten dann die Approbation ganz entzogen. Sie konnten lediglich noch – auf Antrag – unter der abschätzigen Bezeichnung „Krankenbehandler“ jüdische Patienten behandeln. Es ist nicht bekannt, ob auch Salomon Neuberg einen solchen Antrag stellte. Wenige Wochen später, am 9. November, erreichte die Judenverfolgung mit den Novemberpogromen einen vorläufigen Höhepunkt. Cousin Max Neuberg und drei seiner Neffen wurden in Sachsenhausen inhaftiert und nach ihrer Entlassung verpflichtet, Deutschland zu verlassen. Dank der Hilfe des englischen Geheimdienstes gelang ihnen das auch, nachdem sie in aller Eile die Firma liquidieren mussten. Julius und Salomon hingegen blieben in der Bleibtreustraße und hatten die Flut von diskriminierenden Verordnungen, die auf die Pogromnacht folgte, zu erleiden. Ziel war es, Juden nicht nur aus dem wirtschaftlichen, sondern
überhaupt aus dem öffentlichen Leben auszuschließen. Bannbezirke, Beschlagnahmungen, Sperrstunden, Tragen des Judensterns. Theater, Kinos u.ä. durften sie nicht besuchen, öffentliche Verkehrsmittel nur beschränkt benutzen, Führerscheine mussten abgegeben werden. Radios, Elektrogeräte, Wertsachen ebenfalls. Die Verfügung über ihr Vermögen wurde stark eingeschränkt. Sie hatten eine „Sühneleistung“ zu zahlen und, falls sie im Verdacht standen, auswandern zu wollen, auch eine „Reichsfluchtsteuer“.
Ob die Brüder noch versuchten zu fliehen, ist nicht bekannt. Wenn ja, scheiterten sie. Nach Kriegsbeginn wurde Emigration fast unmöglich, Visa wurden seltener, die ansteigende Nachfrage ließ Preise für Schiffspassagen und Visavermittlung explodieren. Juden hatten in ihren Wohnungen zusammenzurücken um Platz für nicht-Juden zu machen. Auch Neubergs hatten mindestens eine Untermieterin aufzunehmen, Katharina Salomon. Im Januar 1941 wurden sie selber gezwungen, ihre Wohnung aufzugeben und als Untermieter von Wally Böhmer in die Duisburger Straße 8 umzuziehen. Von dort wurden beide im Juni 1942 von der Gestapo in das Sammellager Große Hamburger Straße 26 gebracht, ein umfunktioniertes jüdisches Altersheim, und kurz darauf, am 26. Juni, mit 48 weiteren Opfern in einem verplombten Waggon nach Theresienstadt deportiert. Der Sonderwagen 3. Klasse wurde an den fahrplanmäßigen Personenzug nach Dresden bzw. Prag angehängt: Abfahrt 6.07 Uhr von Gleis 1 im Anhalter Bahnhof. Den
Deportierten war vorgegaukelt worden, Theresienstadt sei ein „Altersghetto“, in dem sie angemessen versorgt und gepflegt ihren Lebensabend verbringen würden. Die Realität war Lichtjahre davon entfernt: die Wohnräume heruntergekommen und brutal überbelegt, die Nahrung unzureichend, die hygienischen Bedingungen katastrophal. Hunger, Kälte, Krankheiten und Seuchen suchten die Bewohner heim und rafften sie dahin. Das Entsetzen der Brüder, als sie dies erkannten, muss maßlos gewesen sein. Julius entschied nach wenigen Wochen, dies nicht länger ertragen zu wollen. Am 19. Juli 1942 nahm er eine Überdosis Veronal und starb um 20:00, so die „Todesfallanzeige“ aus Theresienstadt, die bezeichnenderweise die Veronalvergiftung als Krankheit und eine Lungenentzündung als Todesursache bezeichnet. Salomon Neuberg hielt die unmenschlichen Bedingungen noch den Winter lang durch, am 18. März 1943 erlag auch er ihnen. Sein Leichnam wurde im Sarg Nr. 13909 am folgenden Tag im
Krematorium verbrannt.
Von Julius’ und Salomons nahen Verwandten konnten mehrere nach Neuseeland, England und Palästina emigrieren. Ihre Cousine Emma, verheiratete Eisenstein jedoch, Tochter des Gründers der „S. Neuberg Pferdehandlung“, wurde am 14. September 1942 nach Theresienstadt deportiert und kam dort am 23. März 1943 zu Tode. Vielleicht hatte Salomon noch Kontakt zu ihr. Emmas Sohn Julius Eisenstein tauchte unter, wurde aber denunziert und am 9. März 1944 nach Auschwitz deportiert und dort ermordet.
Johanna, die Schwester von Julius und Salomon, nahm sich, zermürbt von den Verfolgungsmaßnahmen, am 26. November 1939 das Leben. Ihre Tochter Else und deren Mann Ludwig Speier wurden vom Bahnhof Fischerhof in Hannover-Linden am 15. Dezember 1941 mit Tochter Lore nach Riga deportiert und kamen nicht zurück. Sie wurden für tot erklärt. Johannas Sohn Hans und seine Frau Helene, geb. Wolffs kamen im gleichen Zug ebenfalls nach Riga, Hans verschleppte man nach Salaspils weiter und dort wurde er im Februar 1942 ermordet. Helene wurde noch im Oktober 1944 nach Stutthof weiterdeportiert, kam dann auf dem anschließenden „Todesmarsch“ kurz vor Kriegsende am 29. März 1945 bei Schlewe in Pommern zu Tode.
Die letzte Vermieterin von Julius und Salomon Neuberg, Wally Böhmer, geb. Jablonsky wurde noch vor ihnen am 17. November 1941 nach Kowno (Kauen) deportiert und dort ermordet.
Quellen:
Gedenkbuch. Bundesarchiv Koblenz, 2006; Gedenkbuch Berlin der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus 1995; Berliner Adressbücher; Landesarchiv Berlin; Akten des Landesentschädigungsamtes Berlin; OpferdatenbankTheresienstadt: https://www.holocaust.cz/de/datenbank-der-digitalisierten-dokumenten/dokument/79348-neuberg-jesaias-todesfallanzeige-ghetto-theresienstadt/; IST-Arolsen; zur Familiengeschichte und Bilder: Forum Jacob Pins
Recherchen/Text: Dr. Micaela Haas