Stolpersteine Trautenaustr. 20

Hauseingang Trautenaustr. 20

Hauseingang Trautenaustr. 20

Diese Stolpersteine wurden am 29.04.2012 verlegt.

Stolperstein Else Bloch

Stolperstein Else Bloch

HIER WOHNTE
ELSE BLOCH
GEB. ARNDT
JG. 1887
GEDEMÜTIGT / ENTRECHTET
FLUCHT IN DEN TOD
22.9.1942

Else Arndt wurde in Berlin am 5. April 1887 als Tochter des Kaufmanns Julius Arndt und seiner Frau Martha, geb. Ascher geboren. Ihr älterer Bruder Erich war am 12. Oktober 1885 auf die Welt gekommen. Familie Arndt wohnte in diesen Jahren in der Holzmarktstraße 64, nahe der Jannowitzbrücke.
Vielleicht war es die berufliche Nähe, die Else Arndt und Philipp Bloch zusammenbrachte. Philipp führte am Werderschen Markt einen Tuchhandel mit englischen Stoffen und Elses Vater hatte ein Geschäft mit dem entsprechenden Zubehör.

Else und Philipp heirateten am 19.September 1908 und am 25. März 1910 brachte Else ihr einziges Kind Ellen Margot auf die Welt.
Philipp konnte seiner kleinen Familie einen hohen Lebensstandard bieten, die 10-Zimmerwohnung in der Bismarckstraße 115 erfüllte Else alle Wünsche. Neben der hochwertigen Wohnungseinrichtung konnte sie über Schmuck und teure Kleidung verfügen. Die Familie galt als sehr gebildet und Tochter Ellen durfte eine Ausbildung zur Buchhändlerin machen.
Am 26. April 1921 musste sich Else von ihrem Vater verabschieden, er starb 67-jährig in seiner Wohnung in der Schlüterstraße 52.

Elses Tochter Ellen fühlte sich als Jugendliche offenbar zur Künstlerszene, insbesondere im Bereich der Musik, hingezogen. 17-jährig heiratete sie am 4. August 1927 den damals 44-jährigen Opern- und Konzertsänger Friedrich Wilhelm Weiß (1883 – 1954). Als Trauzeugen fungierten der Komponist Hugo Lewinsohn, auch unter den Namen Bruno Leonhard oder Hugo Leonhard (1874 – 1933) bekannt und der Schriftsteller und Liedtext Dichter Hans Pflanzer (1887 – 1958). Es darf bezweifelt werden, dass die Eltern Bloch mit der Entscheidung ihrer Tochter einverstanden waren. Die Ehe des Ehepaares Weiß wurde 1933 wieder geschieden.

Blochs hatten schon Anfang der 1930er – Jahre eine räumliche Einschränkung erfahren müssen, von der großen Wohnung in der Bismarckstraße zog man in die kleinere in der Kaiserallee 15 (heute Bundesallee).
Aber auch diese mussten sie 1938 aufgeben. Sie zogen in ein Zimmer zur Untermiete bei Elise Hiller in der Trautenaustraße 20. Alles wertvolle Hab und Gut wurde eingelagert und verschwand spurlos in den folgenden Jahren. Die Blochs versuchten in den folgenden Jahren die Flucht ins Ausland, was aber an betrügerischen Schleusern scheiterte, für deren „Leistung“ Philipp den wertvollen Schmuck Elses geopfert hatte.
Ellen, die seit 1938 mit ihrem zweiten Ehemann Heymann Kamnitzer (*1886 ) verheiratet war, musste mit ihm untertauchen und konnte schließlich im Sommer 1939 nach England fliehen.

Nachdem am 27. März 1942 Elses Bruder Erich Arndt angesichts der drohenden Deportation den Freitod gewählt hatte, brachte sich auch ihre Mutter Martha mit einer Überdosis Veronal um. Sie wurde am 3. September 1942 vergiftet in ihrer Wohnung in der Niebuhrstraße 1 aufgefunden.
Bei Else und Philipp reifte angesichts dieser Verzweiflungstaten der Entschluss heran, ebenfalls ihrem Leben ein Ende zu setzen, bevor sie dem nationalsozialistischem Rassenwahn zu Opfer fallen und ermordet werden sollten.
Am 22. September 1942 begaben sie sich zum Müggelsee, wo sie sich gemeinsam das Leben nahmen. Ihre leblosen Körper wurden am Seeufer aufgefunden. Es gab keine offizielle Todesmeldung; Ellen erfuhr vom Tod ihrer Eltern durch das „Bloomsbury House“ in London, dem Sitz vieler wichtiger Flüchtlingsorganisationen. Eine Frau Cohn aus der Nassauischen Straße 42 soll die Information dorthin weitergeleitet haben. Der Verbleib der Leichen von Else und Philipp Bloch ist nicht bekannt.

Ellen Margot, geb. Bloch lebte bis 1999 in Sussex/England. Sie war dort seit 1955 in dritter Ehe mit dem österreichischen Journalisten und Schriftsteller Friedrich Fritz Rosenfeld (Friedrich Feld) verheiratet.

Recherche und Text: Karin Sievert Stolperstein Initiative Charlottenburg – Wilmersdorf

Quellen:
Gedenkbuch – Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933 – 1945


Brandenburgisches Landeshauptarchiv www.blha.de

Landesamt für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten – Entschädigungsbehörde

Berliner Adressbücher – Zentral- und Landesbibliothek Berlin

Arolsen Archives
Anna Fischer: „Erzwungener Freitod“, Text Verlag
Ancestry, Öffentliche Stammbäume
https://de.wikipedia.org/wiki/Willy_Weiss_(Sänger)#:~:text=Willy%20Weiss%2C%20auch%20Willi%20Weiss,Sänger%20(Tenor)%20und%20Liederdichter.
https://de.wikipedia.org/wiki/Friedrich_Feld_(Schriftsteller)

  • Adressbuch 1910, Else Bloch
Stolperstein Philipp Bloch

Stolperstein Philipp Bloch

HIER WOHNTE
PHILIPP BLOCH
JG 1870
GEDEMÜTIGT / ENTRECHTET
FLUCHT IN DEN TOD
22.9.1942

Am 28. November 1870 kam Philipp Bloch als zweites Kind des Kaufmanns Isidor Bloch und seiner Frau Eleonore, geb. Meissner in Breslau auf die Welt. Sein älterer Bruder Sigbert (Siegbert) war am 19. September 1868 ebenfalls in Breslau geboren worden. Während sich Sigbert zunächst als Doktor der Philosophie und Literat bezeichnete, trat Philipp in die Fußstapfen seines Vaters und wurde Textilkaufmann, spezialisiert auf feine Tuche aus England.
In Berlin gründete er zusammen mit Julius Rosenberg die Firma „Bloch und Rosenberg“, 1a englische Stoffe, am Werderschen Markt 10. (Das Grundstück, auf dem damals das Haus stand, ist heute vom Außenministerium überbaut.) Die Firma bezog die Ware aus ihrer Filiale in London.

Als Philipp am 20. September 1908 Else Arndt heiratete, wohnte er in der Potsdamer Straße 53. Das junge Paar zog dann nach Charlottenburg in die Schillerstraße 1, wo am 25. März 1910 die Tochter Ellen Margot auf die Welt kam. Sie blieb das einzige Kind des Ehepaares und erlernte später den Beruf einer Buchhändlerin.
Die Firma „Bloch und Rosenberg“ lief aufgrund der hohen Qualität ihrer Ware und dem auserlesenen Kundenkreis ausgezeichnet; Philipp Bloch konnte seiner Familie einen hohen Lebensstandard bieten. Er mietete 1911 in der Bismarckstraße 115 eine 10-Zimmerwohnung, richtete sie elegant ein und beschäftigte einiges Hauspersonal. Else wurde mit wertvollem Schmuck bedacht. Sein früherer Begleiter Max Abraham berichtete später: „Er befand sich in glänzenden wirtschaftlichen Verhältnissen und hatte einen hohen Lebens-Standard (sic). Er war ein überaus gebildeter Mann und hatte eine gehobene soziale Stellung.“ Neben seinen Geschäften als Tuchhändler war Philipp Bloch in Berlin auch als Handelsrichter tätig.
Gegen Ende der 1920er-Jahre geriet die Firma aufgrund von Privatschulden des Geschäftspartners Julius Rosenberg in finanzielle Schwierigkeiten und musste schließlich Konkurs anmelden.
Die Familie Bloch bezog 1930 eine Wohnung in der Kaiserallee 15 (heute Bundesallee), von wo aus Philipp seine Geschäfte unter dem Firmenzusatz „Bloch & Co. Tuche“ tätigte. Auch war sein Bruder Sigbert, der sich inzwischen als Ingenieur und Fabrikant bezeichnete, mit in das Geschäft eingestiegen.
Im neu errichteten Femina – Haus an der Nürnberger Straße 50–55 mietete Philipp alsbald Räume an und gründete unter Beteiligung Sigberts eine neue Firma, die den Namen „Dr. Sigbert Bloch“ führte. Sein Kundenstamm blieb ihm weitgehend erhalten, einige Kunden hielten ihm noch bis zuletzt die Treue.
1938 war – wie für alle deutschen Juden – der Beginn der aktiven gnadenlosen Verfolgung. Die Blochs mussten die Wohnung in der Kaiserallee 15 räumen und zur Untermiete bei Elise Hiller in die Trautenaustraße 20 ziehen. Für die Wohnungseinrichtung war in der Enge des Untermietzimmers kein Platz. Wertsachen und besondere Kleiderstücke verstauten sie in Schrankkoffern, der Verbleib der Teppiche, der Gemälde und des Geschirrs, des Silbers und der Bücher war auch später nicht nachzuverfolgen.

Ellen heiratete in diesem Jahr 1938 Heymann Kamnitzer. Es war bereits beider zweite Ehe. Vom Opernsänger Friedrich Wilhelm Weiß war sie 1933 geschieden worden. Das Ehepaar wohnte zuerst in der Wilhelmsaue 134 bei Ellens verwitweter Schwiegermutter. Heymann Kamnitzer drohte die Verfolgung, sodass das junge Ehepaar monatelang bei Freunden versteckt leben musste. Zeitgleich bereiteten sie die Flucht nach England vor. Philipp Bloch wollte sie finanziell bei diesem Vorhaben unterstützen, indem er einige Wertsachen, die in zwei Kisten bei einem Schneidermeister Stapel in der Nürnberger Straße aufbewahrt waren, veräußern wollte. Stapel war Philipp Bloch sehr verpflichtet gewesen und hatte bei der Wohnungsauflösung der Kaiserallee seine Hilfe angeboten. Nun nutzte er die Notlage der Blochs aus, verweigerte die Herausgabe der Kisten und drohte im Gegenteil „mit der Partei“, falls Bloch weitere Schritte zur Rückgabe des Eigentums unternehmen würde.
Ellen Kamnitzer gelang mit ihrem Mann dennoch im Juli 1939 die Flucht nach England.
Philipp und Else Bloch fassten den Entschluss, ebenso wie ihre Tochter ins Ausland zu fliehen. Sie fielen aber betrügerischen Schleppern zum Opfer, die sie gegen Zahlung einer größeren Summe über die Grenze bringen sollten. Dafür hatte Philipp einen großen Teil des Schmuckes seiner Frau geopfert. Die Flucht misslang und Blochs mussten in Berlin bleiben.
Wenige Tage vor der angekündigten Deportation begaben sich Philipp und Else Bloch zum Müggelsee, wo sie am 22. September 1942 tot am Seeufer aufgefunden wurden. Sie hatten sich vergiftet. Philipp Blochs Identität wurde mit Hilfe von Fingerabdrücken bestätigt, die bei der Reichserkennungszentrale des Reichspolizeiamtes registriert waren. Über den Verbleib der Leichen ist nichts bekannt, auf den Berliner jüdischen Friedhöfen befinden sich keine Gräber für Philipp und Else Bloch.
Nachdem ihr gesamtes wertvolles Hab und Gut verschwunden war, konnte sich das Deutsche Reich in Form des Oberfinanzpräsidenten nicht weiter an ihnen bereichern. Im Zimmer der Blochs war nichts vorhanden. „Es wurden keine Sachen aufgefunden“ attestierte der Beamte der Reichsfinanzverwaltung auf der Liste „Inventar und Bewertung“. „Juden sind flüchtig, Schlüssel nicht vorhanden“ schrieb die Gestapo am 22. Oktober 1942 an den Oberfinanzpräsidenten. Zu diesem Zeitpunkt war das Ehepaar Bloch schon drei Wochen tot.

Philipps Bruder Sigbert wurde im KZ Sachsenhausen ermordet. Er starb am 17. Juni 1942 um 6 Uhr früh an den Folgen der unmenschlichen Haftbedingungen an Herz- und Kreislaufschwäche.

Recherche und Text: Karin Sievert Stolperstein Initiative Charlottenburg – Wilmersdorf

Quellen:
Gedenkbuch – Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933 – 1945


Brandenburgisches Landeshauptarchiv www.blha.de

Landesamt für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten – Entschädigungsbehörde

Berliner Adressbücher – Zentral- und Landesbibliothek Berlin

Arolsen Archives
Anna Fischer: „Erzwungener Freitod“, Text Verlag
Ancestry, Öffentliche Stammbäume
https://de.wikipedia.org/wiki/Willy_Weiss_(Sänger)#:~:text=Willy%20Weiss%2C%20auch%20Willi%20Weiss,Sänger%20(Tenor)%20und%20Liederdichter.

Berliner Adressbuch Eintrag ab 1910

Stolperstein Betty Chaim

Stolperstein Betty Chaim

HIER WOHNTE
BETTY CHAIM
GEB. BECKER
JG. 1878
DEPORTIERT 6.3.1943
ERMORDET IN
AUSCHWITZ

Betty Becker kam am 25. Juni 1878 in Breslau/ Niederschlesien auf die Welt. Ihre Eltern waren der Kaufmann Hermann Becker und seine Frau Ernestine, geb. Stahl. Betty hatte noch eine Schwester, Else, die am 9. Dezember 1880 geboren wurde.

Beide Schwestern zogen ohne ihre Eltern nach Berlin, Else heiratete dort 1913 den Kaufmann David Chaim und lebte mit ihm in der Kaiserallee 48a (heute Bundesallee). Betty wohnte bei ihnen und lernte so Davids Bruder Simon kennen. Simon Chaim war Schneider und hatte ganz in der Nähe des Bruders, in der Trautenaustraße 1, direkt am Prager Platz seine Wohnung. Betty und Simon heirateten 1919. Die Eltern Becker waren zu der Zeit längst in Breslau verstorben.

Betty hatte 1897 als 19-Jährige eine gute Anstellung gefunden. Der Fabrikant Julius Philippi, Eigentümer des Hauses Trautenaustraße 20, und seine Frau Jenny mit den zwei kleinen Kindern Marcelle und Edgar beschäftigten sie als „Stütze“, wie es später in der Heiratsurkunde hieß, oder „Gouvernante“, wie Marcelle sie bezeichnete. 22 Jahre war Betty Becker im Haushalt der Philippis zur vollsten Zufriedenheit der Familie tätig. Die Philippis wussten Bettys jahrelange treue Dienste sehr zu schätzen, sie hatte schließlich Marcelle und Edgar vom Kleinkind- bis ins Erwachsenenalter betreut und begleitet. Als Betty am 10. April 1919 Simon Chaim heiratete, stellten sie dem Ehepaar eine 2-Zimmerwohnung mit großer Küche zur Verfügung, die sie von ihrer eigenen 10-Zimmerwohnung abteilten. Auch bei der Einrichtung der Wohnung erfuhren die Chaims große Unterstützung durch Jenny Philippi.
Betty war 45 Jahre und Simon 44 Jahre alt, als am 20. Juli 1923 ihr einziges Kind Edgar geboren wurde. Edgar besuchte von 1930 bis 1934 die 4. öffentliche Volksschule in der Nachodstraße, danach bis 1938 die jüdische Volksschule im Gebäude der Synagoge in der Prinzregentenstraße. Er wechselte dann auf die ORT Schule, um den Beruf des Werkzeugschlossers zu erlernen. Diese Schule gehörte dem in Russland gegründeten Verein ORT und war eine Mischung aus Schulbetrieb und Berufsausbildung. Als die Institution im Rahmen der Pogrome am 10. November 1938 vorübergehend schloss, blieb Edgar ganz zu Hause.
Am 30. Januar 1939 begann für den damals 15-Jährigen eine jahrelange Odyssee durch Deutschland, Belgien und Frankreich. Edgar überlebte die Verfolgung in Frankreich.
Ob Betty und Simon Chaim wussten, wo sich ihr Sohn jeweils aufhielt und wie es ihm erging, ist nicht bekannt.
Die folgenden 4 Jahre waren, wie für alle deutschen Juden, überschattet von den tiefen Einschnitten in das Alltagsleben und den aktiven Verfolgungen durch das Nazi Regime. Simon Chaim, der bis dahin noch zu Hause als Schneider tätig sein konnte und in der Küche eine kleine Werkstatt eingerichtet hatte, wurde nun zur Zwangsarbeit in der „Deutschen Waffen- und Munitionsfabrik“ herangezogen. Ob Betty ebenfalls Zwangsarbeit leisten musste, ist nicht überliefert. Simon wurde im Rahmen der „Fabrikaktion“ verhaftet, ins Sammellager in der Levetzowstraße gebracht und am 3. März 1943 nach Auschwitz deportiert und im Vernichtungslager ermordet. Noch im Sammellager hatte er am 1. März seine „Vermögenserklärung“ auszufüllen und zu unterzeichnen. Betty hingegen wurde 3 Tage später, am 6. März, mit dem 35. Osttransport in das Vernichtungslager deportiert und dort ermordet.

Edgar Chaims Schicksal nach 1939 – Abschrift eines Briefes an das Entschädigungsamt Berlin – Auszug

Recherche und Text: Karin Sievert Stolperstein Initiative Charlottenburg – Wilmersdorf

Quellen:

Gedenkbuch – Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933 – 1945

Brandenburgisches Landeshauptarchiv www.blha.de

Landesamt für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten – Entschädigungsbehörde

Berliner Adressbücher – Zentral- und Landesbibliothek Berlin

Arolsen Archives
Mapping The Lives
Deportationslisten

Gottwald/Schulle „Die Judendeportationen aus dem Deutschen Reich 1941 – 1945“


Stolperstein Simon Chaim

Stolperstein Simon Chaim

HIER WOHNTE
SIMON CHAIM
JG. 1879
DEPORTIERT 3.3.1943
ERMORDET IN
AUSCHWITZ

Am 5. August 1879 wurde Simon Chaim in Posen (polnisch Poznan) geboren. Die Eltern waren der Glasermeister Lewin Chaim und Berta Chaim geb.Licht. Simon hatte einen älteren Bruder, David, der am 12. März 1875 auf die Welt gekommen war. Bei Davids Geburt war der Vater als Bäckermeister in der Geburtsurkunde eingetragen.
Die Söhne David und Simon zogen nach Berlin, beide wohnten in Wilmersdorf, Simon in der Trautenaustraße 1 und sein Bruder in der Kaiserallee 48a (heute Bundesallee).
Simon erlernte das Schneiderhandwerk, als Schneidermeister war er im Kaufhaus Hermann Tietz in der Leipziger Straße in der Damenkonfektion tätig.
Im Hause seines Bruders David lernte er Betty Becker kennen, sie war die Schwester von Davids Ehefrau Else und wohnte im selben Haushalt. Betty war damals als Haushaltshilfe und Kinderfrau des Ehepaares Julius und Jenny Philippi tätig. Der Fabrikant Julius Philippi war Eigentümer des Hauses Trautenaustraße 20 und wohnte mit Frau und den beiden Kindern Edgar und Marcelle in einer repräsentativen 10- Zimmerwohnung im 3. Stock. Offenbar fühlte sich das Ehepaar Philippi Betty Becker in Dankbarkeit für ihre 22 Jahre währende Arbeit verbunden, denn nach der Hochzeit von Simon und Betty am 10. April 1919 teilten sie von ihren zehn Zimmern zwei Zimmer mit einer großen Küche ab und stellten sie ihnen als Wohnung zur Verfügung. Auch bei der Einrichtung griff ihnen Jenny Philippi unter die Arme.
Am 20. Juli 1923 wurde das einzige Kind Edgar geboren, die Eltern waren bei der Geburt schon 45 bzw. 44 Jahre alt.
1933 verlor Simon seine Anstellung bei der Firma Hermann Tietz. Im Rahmen des Boykotts jüdischer Geschäfte erlitt das Kaufhaus Tietz einen Niedergang und musste einen großen Teil seiner Mitarbeiter entlassen.
Simon Chaim hatte zunächst Glück im Unglück. Er richtete in der großen Küche seiner Wohnung seine eigene Schneiderwerkstatt ein und baute so seinen eigenen Kundenkreis auf.
1938 musste sein Sohn Edgar die Schule verlassen und nach kurzem Besuch der berufsbildenden Schule ORT war für ihn eine weitere Ausbildung zum Werkzeugschlosser nicht mehr möglich. Die Eltern Chaim schickten ihn mit einem Kindertransport zunächst nach Köln. Für den 15-Jährigen begann eine Odyssee durch Belgien und Frankreich, die er selbst in einem Brief an die Entschädigungsbehörde ausführlich beschreibt.
Simon Chaim wurde in der darauffolgenden Zeit zur Zwangsarbeit herangezogen. Er musste in der „Deutschen Waffen- und Munitionsfabrik“ für einen mageren Wochenlohn von 25 RM schuften. Für eine weitere Heimarbeit als Schneider dürften seine Kräfte nicht ausgereicht haben.
Am 27. Februar 1943 begann die „Fabrikaktion“, bei der die Gestapo und die SS jüdische Zwangsarbeiter aus den Fabriken holten und in Sammellager in der ganzen Stadt brachten. Simon Chaim wurde im Zuge dieser Verhaftungsaktion in die Synagoge Levetzowstraße verbracht, wo er bis zu seiner Deportation am 3. März ausharren musste.
Noch während dieser Tage zwang ihn die Gestapo, die vor der Deportation obligatorische „Vermögenserklärung“ auszufüllen. Simon unterschrieb diese Erklärung, in der er Seite für Seite durchstrich, am 1. März 1943. Noch am selben Tag erreichte ihn die vom Obergerichtsvollzieher unterzeichnete Zustellungsurkunde mit Adresse Levetzowstraße 8 über die Einziehung seines gesamten Vermögens zugunsten des Deutschen Reiches, obwohl er keinerlei Vermögen angegeben hatte. Erst im Mai 1943 wurde das Wohnungsinventar der Familie Chaim beschlagnahmt und der Wert vom Obergerichtsvollzieher auf 241,- RM taxiert.
Simon Chaim wurde mit einem 1726 Menschen umfassenden Transport am 3. März 1943 nach Auschwitz deportiert. Es war der dritte Transport aus Berlin nach der Fabrikaktion.
Es ist unklar, wo sich seine Frau in den Tagen der Ungewissheit über Simons Verbleib aufhielt. Sie selbst wurde 3 Tage später, am 6. März ebenfalls nach Auschwitz verschleppt und ermordet.

Edgar Chaims Schicksal nach 1939 – Abschrift eines Briefes an das Entschädigungsamt Berlin – Auszug

Recherche und Text: Karin Sievert Stolperstein Initiative Charlottenburg – Wilmersdorf

Quellen:

Gedenkbuch – Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933 – 1945

Brandenburgisches Landeshauptarchiv www.blha.de

Landesamt für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten – Entschädigungsbehörde

Berliner Adressbücher – Zentral- und Landesbibliothek Berlin

Arolsen Archives
Mapping The Lives
Deportationslisten

Gottwald/Schulle „Die Judendeportationen aus dem Deutschen Reich 1941 – 1945“


Stolperstein Semmy Frankenthal

Stolperstein Semmy Frankenthal

HIER WOHNTE
SEMMY
FRANKENTHAL
JG. 1883
DEPORTIERT 15.8.1942
RIGA
ERMORDET 18.8.1942

Semmy Frankenthal, geboren am 11. Mai 1883, war Sohn des Hamburger Kaufmanns Joseph Frankenthal (1856 – 1923) und seiner Frau Ida Frankenthal geb. Fürst (1860 – 1930). Kindheit und Jugend verbrachte Semmy in Hamburg, wo auch 17 Jahre später, am 18. März 1900 sein Bruder Leonhardt geboren wurde. Semmy erhielt den Vornamen nach seinem Großvater, der ebenfalls Kaufmann war. Die Familientradition setzte sich fort und Semmy und Leonhardt wurden ebenfalls Kaufleute. Beide sollten beruflich und familiär lange verbunden bleiben.
Am 9. April 1908 heiratete Semmy Hanna (auch Hanni oder Hanchen) Kupferbach (*26. Mai 1886). Im darauffolgenden Jahr kam der Sohn Edgar (*28. Mai 1909) auf die Welt und drei Jahre später wurde die Tochter Lolott (*2. Dezember 1912) geboren. Die Ehe von Semmy und Hanna war Anfang der 20er-Jahre gescheitert, die Scheidung erfolgte am 26. November 1921. Da hatte Semmy wohl schon eine Beziehung mit der 19 Jahre jüngeren Friederike Oberschützky, geb. am 14. Oktober 1902, denn nach der Scheidung von Hanna fand rasch die Hochzeit mit Friederike am 16. März 1922 statt. Im darauffolgenden Jahr, am 18. Mai 1923, wurde der Sohn John Günther geboren. Friederike Oberschützky entstammte einer verzweigten Hamburger Kaufmannsfamilie, deren Schicksal in der Biografie ihres Onkels Louis Oberschitzky (nur er und seine engste Familie schrieben den Namen mit i) ausführlich dargestellt ist.
Vielleicht hat Semmy seinen Bruder Leonhardt in die Familie Oberschützky eingeführt, denn dieser heiratete Friederikes Kusine Anni.

Bremer Adressbuch, 1925

Bremer Adressbuch, 1925

Bald führten die Geschäfte beide Brüder nach Bremen. Dort betrieben sie gemeinsam eine „Fell- und Häutehandlung“ in der Düsternstraße 103.

Wenige Jahre später zogen die Brüder nach Berlin, Semmy allerdings ohne seine Familie. Er wechselte häufig seine Wohnungen, 1929 wohnte er in der Trautenaustraße 18 direkt am Nikolsburger Platz, 1930 bis 1932 war er unter den Adressen Homburger Straße 12 und Schlangenbader Straße 90 gemeldet. Seine Schwägerin Anni, vermutlich seit 1930 von Leonhardt getrennt, ist im Jüdischen Adressbuch von 1931/32 ebenfalls unter der Adresse Schlangenbader Straße 90 eingetragen, möglicherweise haben Semmy und Anni in einem gemeinsamen Haushalt gelebt. 1935 war Semmy Frankenthal als Untermieter bei einem Kaufmann Laser am Hohenzollerndamm 11 gemeldet.
Beruflich gingen die Brüder in Berlin getrennte Wege, Semmy arbeitete schon vor 1933 für die Guano Werke AG (vormals Ohlendorff’sche und Merck’sche Werke) zunächst als Angestellter, später – bis 1938 – als selbstständiger Vertreter für Bauschutzstoffe. Leonhardt hingegen betrieb ein Geschäft für Damenkonfektion in der Landsberger Alle 100.
Infolge der immer stärker zunehmenden Repressalien gegen die jüdische Bevölkerung und ihrem Ausschluss vom öffentlichen Leben beendeten die Guano Werke die Geschäftsbeziehungen mit Semmy Frankenthal.
1939 bezog er ein Zimmer zur Untermiete bei der Witwe Edith Lewin in der Trautenaustraße 20. Offenbar hatte er zu dem Zeitpunkt kein Einkommen und keine Rücklagen, denn er blieb Edith Lewin bis zum Schluss 500 RM schuldig. Es dürfte sich dabei um Mietschulden gehandelt haben.
Im selben Jahr ließen sich Semmy und Friederike scheiden – sie waren ohnehin schon seit ca.10 Jahren getrennt. Friederike und der gemeinsame Sohn John Günther fanden Asyl in Schweden, wo schon Friederikes Mutter und ihr Bruder Erwin lebten. Auch die Kinder Edgar und Lolott konnten fliehen und in Belgien der Verfolgung durch die Nazis entgehen.
Am 2. Oktober 1941 heiratete Semmy ein drittes Mal. Mit seiner Frau Else Waag, geboren am 10. Dezember 1894 in Iserlohn wohnte er in einem Leerzimmer zur Untermiete bei Mary (Marie) Cohn in der Niebuhrstraße 77 im 4. Stock. Nach eigenen Angaben war er dort bereits im September 1941 eingezogen, vermutlich wohnte Else schon vorher in diesem Zimmer. Else war 1939 noch in Schwerin gemeldet und erst danach nach Berlin gezogen.
Sowohl Semmy, als auch Else wurden bis zu ihrer Deportation zur Zwangsarbeit herangezogen. Semmy musste in der Schneekettenfabrik „Nordland“, Kurfürstenstraße 14, als Hilfsarbeiter Schwerstarbeit leisten. Else arbeitete bei „Graß und Worff“, einer Firma für optische Geräte des Inhabers Dr. Bollmann in der Kreuzberger Alte Jakobstraße 133. Sie zahlten ihrer Vermieterin 75 RM Miete, die auch von einer kleinen Erbschaft Elses bestritten wurde.

Wenige Tage vor ihrer Deportation mussten Semmy und Else Frankenthal in einer mehrseitigen Liste der „Vermögenserklärung“ detailliert angeben, was ihnen zu diesem Zeitpunkt noch geblieben war. Es waren in erster Linie Möbel, der großen Anzahl nach wohl aus zwei Haushalten zusammengefügt, die das Zimmer füllten. Der Wert von Möbeln, Hausrat und Textilien wurde auf 581 RM taxiert, die vom Händler an die Oberfinanzkasse abzuführen waren. Allerdings wandte sich gleich nach der Räumung des Zimmers das Finanzamt Wilmersdorf an den Oberfinanzpräsidenten mit der Forderung über 1308,22 RM – Semmy Frankenthals Steuerschulden aus den Jahren 1937 bis 1939.
Am 15. August 1942 wurden Semmy Frankenthal und seine Frau Else mit dem 1004 jüdische Menschen umfassenden 18. Osttransport vom Güterbahnhof Moabit nach Riga deportiert. Zuvor hatten sie sich in der als Sammelstelle missbrauchten Synagoge an der Levetzowstraße einfinden müssen, um von dort in einem langen Fußmarsch unter den Augen der Moabiter Anwohner durch die Straßen Moabits zum Bahnhof zu laufen.
Die Fahrt dauerte 3 Tage und die völlig erschöpften Menschen wurden sofort nach Ankunft in Riga in den umliegenden Wäldern erschossen und in Massengräbern verscharrt.

Zum Schicksal der Angehörigen Semmy Frankenthals:
Semmys Kinder Edgar Frankenthal, Lolott Schaevers geb.Frankenthal und John Günther Frankenthal, die durch Flucht ins Ausland der Vernichtung entkommen konnten, stellten als Erbengemeinschaft 1957 Anträge zur Wiedergutmachung und Entschädigung für Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung.
Hanni (Hanchen) Kupferbach heiratete nach der Scheidung von Semmy den Tschechoslowaken Emil Löwner, mit dem sie nach Prag zog. Sie wurde tschechoslowakische Staatsbürgerin und nahm den Namen Hana Löwnerová an. Das Ehepaar wurde in Prag verhaftete, am 10. Dezember 1941 nach Theresienstadt deportiert und am 16. Dezember 1944 nach Auschwitz verschleppt, wo beide ermordet wurden.
Friederike Oberschützky starb am 13. Juni 1979 in Stockholm.
Leonhardt Frankenthal entkam versteckt der Verfolgung. Er trat in Berlin der Jüdischen Gemeinde bei und starb am 1. Dezember 1967 in Charlottenburg.
Seine geschiedene Frau Anni Oberschützky heiratete ein zweites Mal. Sie lebte zuletzt als Anni Mayer in München. Am 11. August 1942 wählte sie den Freitod, um Deportation und Ermordung zu entgehen.

Recherche und Text: Karin Sievert – Stolperstein Initiative Charlottenburg – Wilmersdorf

Quellen:

Gedenkbuch – Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933 – 1945

Theresienstädter Gedenkbuch Holocaust.cz

Brandenburgisches Landeshauptarchiv www.blha.de

Landesamt für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten – Entschädigungsbehörde

Berliner Adressbücher – Zentral- und Landesbibliothek Berlin

Landesarchiv Berlin 
WGA 

Deportationslisten

Gottwald/Schulle „Die Judendeportationen aus dem Deutschen Reich 1941 – 1945“
Yad Vashem – Opferdatenbank

Arolsen Archives
https://gleis69.de/projekte/aktuelle-projekte/der-weg
https://www.sammleraktien-online.de/guano-werke/
https://www.stolpersteine-hamburg.de/index.php?&MAIN_ID=7&r_name=Oberschitzky&r_strasse=&r_bezirk=&r_stteil=&r_sort=Nachname_AUF&recherche=recherche&submitter=suchen&BIO_ID=330

Stolperstein Elise Hiller

Stolperstein Elise Hiller

HIER WOHNTE
ELISE HILLER
GEB. ROSENBAUM
JG. 1866
DEPORTIERT 12.8.1942
1942 TREBLINKA
ERMORDET

Elise Rosenbaum kam am 14. März 1866 in Berlin auf die Welt. Ihr Vater, der Kaufmann Adolph (Abraham) Rosenbaum, hatte ein „Lager für Näh- und Maschinenseiden, Zwirnen und Seiden“ in der Kurstraße, Nähe Spittelmarkt. Elises Mutter war Emma (Ester) Rosenbaum, geb. Stargardt. Elise hatte drei jüngere Geschwister: Heinrich kam 1867 auf die Welt, Hedwig 1871 und Albert, der Jüngste, wurde 1875 geboren.

1888 heiratete Elise nach einjähriger Verlobungszeit Jüdel Philipp Felix Hiller, geb. am 3. April 1852 in Bentschen, Kreis Meseritz.
Felix Hiller war Inhaber einer Herrenkrawattenfabrik in Kreuzberg. Möglicherweise hat die berufliche Nähe zu Elises Vater zur Ehestiftung beigetragen.

Am 4. September 1889 wurde der Sohn Julius Walter geboren, die Tochter Dorothea kam am 24. Mai 1892 auf die Welt. Damals wohnten die Hillers in der Friedrichstraße 221, die Krawattenfabrik befand sich in der Kreuzberger Oranienstraße 70.
Dorothea reiste im September 1907 in Begleitung ihres Onkels Heinrich nach New York. Vielleicht war diese Reise bereits die Vorbereitung für ihre spätere endgültige Auswanderung. Als Dorothy Hiller heiratete sie in Philadelphia Oskar Goldberg, sie starb dort 1948.

Heinrich war 1894 nach Amerika ausgewandert, heiratete ein Jahr später Hannah Davidson und wurde amerikanischer Staatsbürger. Es gibt keinen Hinweis, ob Dorothea oder Heinrich versucht haben, Elise in den Zeiten der Verfolgung ab 1933 zu sich zu holen.

Felix Hiller starb 1913 und die Fabrik wurde an Paul Fraenkel verkauft. Im Adressbuch von 1913 ist Felix noch als Judel Hiller unter der Wilmersdorfer Adresse Pfalzburger Straße 50 eingetragen, aber Elise dürfte dort nach dem Tod ihres Mannes allein eingezogen sein. Sie wohnte ununterbrochen bis 1933 in dieser Wohnung.

Walter hatte inzwischen Jura studiert und sich als Rechtsanwalt und Notar in der Regensburger Straße 2 niedergelassen, wo sich auch die Wohnung befand. Seine Ehefrau war die Stenotypistin Frieda Levy. Ihm wurde am 6. April 1938 seine Anwaltszulassung entzogen, das Notariat allerdings schon früher. Am 1. November 1941 wurde er zusammen mit Frieda nach Litzmannstadt (Łódź) deportiert. Walter Hiller starb dort am 14. Februar 1942 im Ghettokrankenhaus an den Folgen der unmenschlichen Bedingungen; als offizielle Todesursache wurde „Herzschwäche“ angegeben. Frieda wurde am 8. Mai desselben Jahres nach Chelmno (Kulmhof) weiterdeportiert und dort in einem der Gaswagen ermordet.

Elise wohnte von 1934 bis 1937 in der Prinzregentenstraße 76, sie ist in den Adressbüchern stets als Haushaltsvorstand mit dem Zusatz Witwe oder Privatiere eingetragen. Am 1. April 1937 bezog sie eine 5-Zimmerwohnung in der Trautenaustraße 20. Offenbar hatte ihr Mann zu Lebzeiten genügend Rücklagen gebildet, sodass Elise über all die Jahre ein gutes Auskommen hatte. 1942 war das Geld jedoch aufgebraucht, ihr Gesamtvermögen betrug nur noch 1500 RM. Davon waren 1000 RM in Pfandbriefen bei der Berliner Bank allerdings schon vorher gesperrt worden.
Seit 1939 wurden nach und nach verschiedene Untermieter:innen in ihre große, vollständig eingerichtete Wohnung zwangseingewiesen. 1942 wohnten Jenny Neustadt, Agathe Lippmann, Philipp und Else Bloch und Edith Lewin mit ihr zusammen. Mit Agathe Lippmann musste sie sich sogar ein Zimmer teilen. Die Mieteinnahmen in Höhe von 140 RM wurden auf ein Sicherungskonto bei der Dresdner Bank eingezahlt, über das Elise nur beschränkt verfügen konnte.Elise machte diese Angaben am 5. August 1942, eine Woche vor ihrer Deportation.

Am 12. August 1942 wurde Elise Hiller zusammen mit Agathe Lippmann und Ida Katzenstein – einer anderen Hausbewohnerin – nach Theresienstadt deportiert. In dem hoffnungslos überfüllten Ghetto musste Platz gemacht werden für ständig neu eintreffende Gefangene, so wurde Elise Hiller schon 6 Wochen später, am 26. September, in das Vernichtungslager Treblinka verschleppt. Der Transport umfasste 2008 Menschen, die ausnahmslos ermordet wurden.
Ihre ehemaligen Mitbewohner:innen verblieben nur noch kurze Zeit in der Wohnung. Jenny Neustadt wurde am 24. August deportiert und das Ehepaar Bloch wählte angesichts der drohenden Verschleppung den Freitod. Am 9. Oktober 1942 galt die Wohnung in der Trautenaustraße als geräumt.

Von Elises Schwester Hedwig verliert sich nach deren Heirat mit Rudolph Jacobsohn am 1. Februar 1904 jede Spur. Das Ehepaar hatte drei Kinder, Henry (*1905) und Lily (*1909) und Werner (*1910). Als Rudolph Jacobsohn 1927 im „Kurhaus für Nervenleiden“ in der Charlottenburger Ulmenallee starb, war auf seiner Sterbeurkunde München als Wohnort eingetragen.

Albert, der jüngste der Geschwister Rosenbaum, wurde Schauspieler und Theaterdirektor in Potsdam. Albert Rosenbaum und seine Frau Betty, geb. Bukofzer, wurden im Warschauer Ghetto ums Leben gebracht. Für sie liegen Stolpersteine in Babelsberg, Körnerweg 4. Beider Sohn Eric Rosenbaum, der ebenso wie sein Bruder Gerhard auswandern konnte, hinterlegte 1992 für seine Tante Elise Hiller, seine Eltern Albert und Betty Rosenbaum und seinen Cousin Walter Hiller Gedenkblätter in der Gedenkstätte Yad Vashem.

Für Elises Sohn Walter und seine Frau Frieda liegen seit 2009 Stolpersteine in Schöneberg, Regensburger Straße 2.

Recherche und Text: Karin Sievert Stolperstein Initiative Charlottenburg – Wilmersdorf
Quellen:

Gedenkbuch – Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933 – 1945
Theresienstädter Gedenkbuch Holocaust.cz
Brandenburgisches Landeshauptarchiv www.blha.de
Berliner Adressbücher – Zentral- und Landesbibliothek Berlin
Landesarchiv Berlin
WGA
Arolsen Archiv
Mapping The Lives
Deportationslisten
Gottwald/Schulle „Die Judendeportationen aus dem Deutschen Reich 1941 – 1945“
Loose: „Berliner Juden im Getto Litzmannstadt 1941 – 1944
Yad Vashem – Opferdatenbank
MyHeritage Familienstammbaum
https://www.potsdam.de/de/content/albert-und-betty-rosenbaum-geb-bukofzer
https://www.stolpersteine-berlin.de/de/regensburger-str/2/walter-hiller
https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_Stolpersteine_in_Berlin-Schöneberg#cite_note-OT4-14b-584

  • Berliner Adressbuch 1900, Elise Hiller

    Berliner Adressbuch 1900

  • Bekanntmachung Verlobung Elise Hiller, Felix Hiller 1887
Stolperstein Ida Katzenstein

Stolperstein Ida Katzenstein

HIER WOHNTE
IDA KATZENSTEIN
JG. 1873
DEPORTIERT 12.8.1942
THERESIENSTADT
ERMORDET 14.5.1943

Die am 26. März 1873 in Hersfeld/Hessen geborene, immer ledig gebliebene Ida Katzenstein war die älteste Tochter des Ehepaares Joseph Julius und Julie Katzenstein. Joseph Katzenstein war Kaufmann und stammte ebenso wie seine Frau Julie, geb. Glück, aus dem Raum des heutigen Bad Hersfeld. Leider ist nicht bekannt, in welcher Branche Joseph tätig war, vermutlich wäre das der Schlüssel für den häufigen Wohnortwechsel der Katzensteins.

Idas Mutter brachte insgesamt 11 Kinder zur Welt, von denen drei in sehr jungen Jahren starben. Nach Ida kamen Anna, Klara und Karl in Hersfeld zur Welt. Das Baby Karl war wenige Monate alt als die Familie 1877 nach Erfurt zog, der Junge starb dort im Dezember desselben Jahres.
In Erfurt wurden Paul, Otto, Fritz, Toni, Franz, Emil und Willy in sehr kurzen Abständen geboren. Fritz starb im Alter von einem Jahr, Emil mit sieben Jahren. Zwischenzeitlich wohnte die Familie in Kassel, danach in Osnabrück, wo die Eltern Katzenstein verstarben. In Osnabrück trennten sich die Wege der acht Geschwister.

Otto, Paul und Willy zogen nach Hannover, Ida, Anna, Klara, Toni und Franz nach Berlin. Klara, von Beruf Buchhalterin, hatte 1909 den Berliner Kaufmann und Großhändler für Futterstoffe Louis Ruben geheiratet, sie starb 1918; Louis Ruben heiratete dann 1920 Klaras Schwester Toni. Sie bekamen 1922 einen Sohn, den sie Rudolf nannten. Die Familie Ruben wohnte bis zu Tonis Tod infolge eines Schlaganfalls im Jahr 1938 in Charlottenburg in der Joachim–Friedrich–Straße 20. Franz zog nach Wilmersdorf in die Spichernstraße 19 und die ebenfalls ledig gebliebene Anna, die lt. Adressbuch von Beruf Strickerin war, lebte in der Schöneberger Goebenstraße 11.

Allein Ida zog es in den Berliner Außenbezirk Oberschöneweide. Ihre Adresse ist erstmalig 1920 unter Wilhelmshofstraße 27/28 zu finden. Ida übte den Beruf einer Putzmacherin aus. Vermutlich betrieb sie ihr eigenes Geschäft im Erdgeschoss desselben Hauses. Ab 1934 wohnte sie einige Straßenzüge entfernt in der Siemensstraße 28. Auch dort war sie noch mit der Berufsbezeichnung Putzmacherin verzeichnet. Ab 1939 lebte Ida in einer spärlich möblierten 2-Zimmerwohnung im 1. Stock des Gartenhauses Trautenaustraße 20. Die Wohnung in dem überwiegend von jüdischen Mietern bewohnten Haus verfügte über Zentralheizung, Warmwasser, WC, Küche und Kellerraum. Ida wurden alsbald Untermieter zugewiesen, sodass es in den beiden Räumen eng wurde. Bei den Untermietern handelte sich um das Ehepaar Ben und Bella Spanier, die aus ihrer Wohnung in der Prager Straße 14 vertrieben worden waren. Sie bewohnten eines der beiden Zimmer, für das sie 60 RM Miete zahlen mussten.

Als Ida am 4. August 1942 wenige Tage vor ihrer Deportation die obligatorische Vermögenserklärung unterschrieb, gab sie an, ein Barvermögen von 20 RM, 50 RM auf einem Konto bei der Deutschen Bank und 2 Aktien der Hackethal Draht- und Kabelwerke im Wert von 200 RM besessen zu haben. An Mobiliar wurden die von ihr aufgeführten 2 Wäscheschränke, 2 Korbstühle, 1 Spiegel, 1 Tisch, 1 Schrank und 1 Nachttisch auf einen Wert von 60 RM taxiert, beschlagnahmt und zugunsten des Deutschen Reiches verkauft. Der Beamte der Reichsfinanzverwaltung fügte auf der Bewertungsliste die Bemerkung hinzu: „Verkauf erfolglos wegen Geringfügigkeit an Ort und Stelle.“ Allerdings zahlte einen Tag später ein Händler Brandes doch die veranschlagten 60 RM für Idas Möbel.

Als Ida am 11. August die Urkunde zur Einziehung ihres Vermögens zugestellt wurde, saß sie schon mit ihren Nachbarinnen Elise Hiller und Agathe Lippmann in dem ehemaligen jüdischen Altersheim in der Großen Hamburger Straße 26. Von dort wurden die drei Frauen zusammen mit 97 anderen Jüdinnen und Juden in das sogenannte Altersghetto Theresienstadt verschleppt. Am 14. Mai 1943 starb die 70- jährige Ida Katzenstein infolge der lebensfeindlichen Bedingungen des Ghettos wie Hunger, Seuchen, überfüllte Unterkünfte, Ungeziefer und fehlende medizinische Versorgung. Ihr Leichnam wurde noch am Todestag im Krematorium eingeäschert.

Das Schicksal der Geschwister Ida Katzensteins ist hier dargestellt.
Für Louis und Erna Ruben wurden 2010 und 2021 vor dem Haus Joachim–Friedrich–Straße 20 Stolpersteine verlegt.

Recherche und Text: Karin Sievert
Quellen:
Gedenkbuch – Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933 – 1945

Theresienstädter Gedenkbuch Holocaust.cz

Brandenburgisches Landeshauptarchiv www.blha.de
Berliner Adressbücher – Zentral- und Landesbibliothek Berlin

Landesarchiv Berlin 

Arolsen Archives
Mapping The Lives
Deportationslisten

Gottwald/Schulle „Die Judendeportationen aus dem Deutschen Reich 1941 – 1945“

Loose: „Berliner Juden im Getto Litzmannstadt 1941 – 1944

Yad Vashem – Opferdatenbank

Stadtarchiv Bad Hersfeld

Stolperstein Agathe Lippmann

Stolperstein Agathe Lippmann

HIER WOHNTE
AGATHE LIPPMANN
JG. 1860
DEPORTIERT12.8.1942
THERESIENSTADT
1942 TREBLINKA
ERMORDET

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts lebte in Danzig nur eine Familie Lippmann. Es war die Familie des jüdischen Kantors der Weinberger Synagoge, Michael Georg Lippmann (1818-1887). Dieser hatte in zweiter Ehe am 11. Januar 1855 Rosalie Kokoschky (auch Kokoski, 1828-1905) geheiratet. Am 25. November 1860 kam Agathe zur Welt. Zu Agathes Geburt sind keine Dokumente vorhanden, welche eindeutig die Elternschaft von Michael und Rosalie Lippmann belegen könnten. Da aber keine weitere Person mit diesem Nachnamen in den Adressbüchern Danzigs verzeichnet ist, kann nur dieses Paar als Agathes Eltern infrage kommen.

Am 27. Dezember 1864 bekam Agathe einen Bruder, Julius. Weitere Geschwister gab es wohl nicht. Über Agathes Schul- und Berufsbildung ist nichts bekannt. Sie muss aber irgendwann als Angestellte tätig gewesen sein, denn sie bezog, wie sie später angab, aus der Rentenversicherungsanstalt der Angestellten eine knappe Monatsrente in Höhe von 77,50 RM. Julius hingegen machte das Abitur, studierte Jura und machte später eine einzigartige Karriere als Jurist.

Agathes Vater, der Kantor Michael Lippmann, starb im Januar 1887, vier Jahre nachdem sich die fünf Danziger Synagogen zur Synagogengemeinde Danzig zusammengeschlossen hatten. Die Große Synagoge Danzig mit Platz für 2000 Gläubige wurde am 15. September 1887 nach 2-jähriger Bauzeit eröffnet. Michael Lippmann hat diese Eröffnung durch seinen vorzeitigen Tod nicht mehr miterleben können. Die Familie hatte ihre Wohnung in der Breitgasse 104, wo sich auch die Weinberger Synagoge befand – in unmittelbarer Nachbarschaft der Destille, in der das berühmte Danziger Goldwasser hergestellt wurde.

Später zogen die Lippmanns um nach 4. Damm Nr. 1, eine von vier Straßen in Danzig mit der Bezeichnung Damm. Dort lebte die Witwe Rosalie bis zu ihrem Tod 1905. Die Kinder Agathe und Julius werden zu diesem Zeitpunkt das Elternhaus längst verlassen haben. Julius studierte Klassische Philologie und Rechtswissenschaften in Berlin, ging dann nach Stettin, wo er 1893 Margarete Werner heiratete und 1896 einen Sohn, Georg Oskar Werner, bekam. Von 1892 bis 1919 arbeitete er als Rechtsanwalt beim Oberlandesgericht Stettin und wurde dann vom preußischen Innenminister Hirsch zum „Oberpräsident der Provinz Pommern“ berufen.
Obwohl zum protestantischen Glauben konvertiert, war er in Stettin seit 1933 wegen seiner jüdischen Herkunft dem besonders starken nationalsozialistischen Terror unter Gauleiter Karpenstein ausgesetzt und siedelte deshalb mit seiner Frau nach Berlin über. Ein Jahr lang lebten Julius und Margarete offenbar als Untermieter in einer Villa in der Charlottenburger Lyckallee 46a. 1934 starb er bei einem Autounfall.

Genau in diesem Jahr zog Agathe Lippmann in die Trautenaustraße 20. Es ist nicht bekannt, wo sie all die Jahre zuvor gelebt hatte. In keinem der Danziger, Stettiner und Berliner Adressbücher ist sie als Haushaltsvorstand verzeichnet. Der Zeitpunkt ihres Umzugs 1934 legt jedoch nahe, dass sie mit ihrem Bruder und seiner Frau sowohl in Stettin, als auch in Berlin zusammengewohnt hatte, wie es damals für unverheiratete Frauen nicht unüblich war.
In der Trautenaustraße 20 war sie als Untermieterin in der großen Wohnung von Elise Hiller gemeldet. Am Anfang hatte sie vermutlich ihr eigenes Zimmer. Im April 1939 wurden durch das Gesetz über Mietverhältnisse mit Juden viele Juden aus ihren Wohnungen aus- und in andere Wohnungen einquartiert. Bei Elise Hiller wurden immer mehr Menschen zwangsweise untergebracht und zuletzt musste sie sich sogar ein Zimmer mit Agathe Lippmann teilen. Agathe zahlte ihr dafür 20 RM Miete. Als Agathes Deportation kurz bevorstand, sollten ihre Habseligkeiten „zugunsten des Deutschen Reiches“ eingezogen werden – doch es gab nichts, an dem sich der Oberfinanzpräsident hätte bereichern können. „Der Evakuierten gehörende Sachen wurden nicht vorgefunden“ vermerkte der Obergerichtsvollzieher auf der Liste „Inventar und Bewertung“ in der Vermögensverwertungsakte.

Am 12. August 1942 wurde Agathe Lippmann zusammen mit ihrer Vermieterin Elise Hiller und der Nachbarin Ida Katzenstein in das Ghetto Theresienstadt deportiert. Sechs Wochen harrte sie unter unmenschlichen Bedingungen dort aus bis sie am 26. September in das Vernichtungslager Treblinka deportiert und dort ermordet wurde.
Ihre Schwägerin Margarete Lippmann konnte rechtzeitig nach England fliehen, der Neffe Georg Oskar Werner Lippmann emigrierte in die USA.

Recherche und Text: Karin Sievert, Stolperstein Initiative Charlottenburg – Wilmersdorf

Quellen:

Gedenkbuch – Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933 – 1945

Theresienstädter Gedenkbuch Holocaust.cz

Brandenburgisches Landeshauptarchiv www.blha.de
Berliner Adressbücher – Zentral- und Landesbibliothek Berlin

Landesarchiv Berlin 

Arolsen Archives
Mapping The Lives
Deportationslisten

Gottwald/Schulle „Die Judendeportationen aus dem Deutschen Reich 1941 – 1945“

Yad Vashem – Opferdatenbank

Adressbücher Danzig 1870, 1880, 1897 und Stettin 1922 und 1929
https://de.wikipedia.org/wiki/Geschichte_der_Juden_in_Danzig#1793_bis_1944
https://dewiki.de/Lexikon/Julius_Lippmann

Stolperstein Henriette Löwenstein

Stolperstein Henriette Löwenstein

HIER WOHNTE
HENRIETTE
LÖWENSTEIN
JG. 1919
DEPORTIERT 24.6.1942
ERMORDET IN
MINSK

Am 12. November 1919 wurde in dem kleinen niedersächsischen Dorf Steinbergen im Kreis Bückeburg/Fürstentum Schaumburg Lippe Henriette Hertha Löwenstein geboren.
Im gesamten Fürstentum Schaumburg Lippe lebten um 1900 nur 257 Juden und im Dorf Steinbergen waren es sechs – die Familie Löwenstein. Der Vater Adolf Löwenstein (19. März 1869) war der Schlachter des Dorfes, seine Frau Rosa Löwenstein geb. Brill ( 11. April 1879) war Mutter von 3 Kindern. Die Älteste war Henriette, ihr folgten Hermann (* 5. April 1922) und Willi (* 30. März 1926). Ebenfalls in Steinbergen lebte Adolfs Bruder Otto (*4. November 1879). Otto war ledig geblieben und von Beruf Viehhändler und Schlachter.

Hermann Löwenstein arbeitete im benachbarten Steinberg im Baugeschäft „Nordmeier“ als Arbeiter, Willi war in der Schlossgärtnerei des Schlosses Bückeburg beschäftigt und Henriette machte eine Schneiderlehre.
Henriette zog am 22. November 1938 von Steinbergen nach Berlin in die Trautenaustraße 20. Ihr Umzug erfolgte kurz nach den Novemberpogromen, von denen das Geschäft ihres Vaters nicht verschont geblieben sein dürfte. Vermutlich konnte sie ihren Beruf auch nicht ausüben. Als Schneiderin hat sie sich sicherlich in Berlin eine Anstellung in einer der zahlreichen Textil- und Bekleidungsfirmen versprochen.
Von Henriette sind in Berlin drei in der Meldekartei eingetragene Adressen bekannt. Zur Zeit der Volkszählung im Mai 1939, in der Juden gesondert erfasst wurden, wohnte sie noch in der Trautenaustraße 20, in der viele jüdische Familien in großen Wohnungen lebten und häufig Zimmer untervermieteten. Hier wurde auch ihr Sohn Denny geboren. Er kam am 3. November 1940 auf die Welt. Henriette war bei seiner Geburt gerade 21 Jahre alt und unverheiratet. Vermutlich wurde ihr das Zimmer gekündigt und sie musste mit dem Baby ausziehen, denn ab dem 3. Dezember 1940 war sie als Untermieterin bei Baruch in der Düsseldorfer Straße 73 gemeldet. Dort wohnte sie zwei Jahre, bis sie am 19. Mai 1942 in die Uhlandstraße 168 zur Untermiete bei Kellermann einzog. Von dieser Adresse aus wurde sie einen Monat später deportiert.
Der Aufenthalt ihres kleinen Sohnes wirft Fragen auf. Denny Löwensteins Meldeadresse war die Küstriner Straße 23 (heute Damaschkestraße 25) – lt. Meldekarte jedoch nicht die seiner Mutter. Die Listen der Hausbewohner der Jahre 1940 bis 1942 in den Adressbüchern lassen keinen Rückschluss auf eine familiäre Verbindung zwischen Henriette Löwenstein und einem der Mieter des Hauses zu. Es kann deshalb nicht festgestellt werden, ob und bei wem sich Henriette und ihr Kind in der Küstriner Straße 23 aufgehalten haben.

Am 23. Juni 1942 wurde Henriette Löwenstein mit der Nr. 75 auf die Liste der Deportierten nach Minsk gesetzt. Denny hingegen stand als Letzter auf der Transportliste mit einer ungewöhnlich spärlichen Angabe: „Nr. 206 Löwenstein, Denny, Kind“. Vermutlich wurden Mutter und Sohn getrennt aus den Wohnungen zur Deportation abgeholt.
Vielleicht hat Henriette ihr Kind an diesem Tag gar nicht mehr gesehen. In der als Sammelstelle für Deportationen missbrauchten Synagoge in der Levetzowstraße wurden die Kinder von ihren Eltern separiert und unter Bewachung gestellt.
„Die Kinder waren unter Betreuung von Kindergärtnerinnen der Jüdischen Gemeinde im Trauzimmer der Synagoge untergebracht. Der ‚Kindersaal‘ war mit aufgestockten Feldbetten auf 20 Kinder ausgerichtet, beherbergte aber über 40 Kinder……. Die Kleinen weinten und riefen nach ihren Müttern, von denen man sie grausam im gleichen Hause getrennt hatte.“
Mit dem 16. Berliner Osttransport „Da 40“ wurden Henriette Löwenstein und ihr 1½ -jähriger Sohn Denny am 24. Juni nach Weißrussland deportiert. Dieser Zug war Teil eines Koppelzuges mit über 200 Berliner Insassen, der von Königsberg nach Minsk fuhr. In diesem Transport befanden sich auch die Vorstandsmitglieder der Jüdischen Gemeinde Berlin Cora Berliner, Arthur Lilienthal und Paula Fürst. Die Fahrt dauerte 2 Tage und Nächte. Sämtliche Insassen des Sonderzugs DA 40 aus Königsberg – unter ihnen Henriette und Denny Löwenstein wurden am Morgen des 26. Juni 1942 auf dem Minsker Güterbahnhof ausgeladen. Sie wurden mittels Lastwagen oder zu Fuß in den Vorort Maly Trostinez weggeführt und sodann an den Gruben durch Schusswaffen oder in Gaslastwagen ermordet.

Am 11. Juli 1942 wurde Henriettes Familie, die Eltern Adolf und Rosa und die Brüder Hermann und Willi, sowie der Onkel Otto nach Auschwitz deportiert. Der Transport startete am 10. Juli in Bielefeld, es wurden Menschen aus den Gestapobereichen Osnabrück und Münster zugeladen. Der Zug fuhr von Bielefeld über Hamburg mit Zwischenhalt in Ludwigslust nach Berlin und weiter in das Vernichtungslager Auschwitz, wo die gesamte Familie Löwenstein ermordet wurde.

Dennys Vater ist bis heute unbekannt. Ein Eintrag auf der Rückseite der Karteikarte des Oberfinanzpräsidenten „Dep.Besch. am 2.9.1954 an F.H. Utecht, Essen/Hfm“ könnte möglicherweise einen Hinweis auf eine Vaterschaft geben. Die Spur ist jedoch nicht weiterzuverfolgen, da die Akte zur Beschlagnahme jüdischen Vermögens, die sogenannte „Vermögenserklärung“ nicht mehr vorhanden ist.

Am 7. September 2021 wurden für Henriette und Denny Löwenstein vor dem Haus Damaschkestraße 25 Stolpersteine verlegt. Denny war unter der damaligen Adresse Küstriner Straße 23 polizeilich gemeldet, nicht aber Henriette. Da sie zusammen deportiert wurden, verlegte man auch für Mutter und Sohn Stolpersteine vor diesem Haus. Damals war nicht bekannt, dass Henriette Löwenstein bereits 2012 mit einem Stolperstein vor dem Haus Trautenaustraße 20 gewürdigt worden war. Die Biografie erscheint deshalb unter beiden Adressen.

Recherche: Karin Sievert und Dr. Karl-Reinhard Kummer
Text: Karin Sievert

Quellen:
Gedenkbuch – Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933 – 1945


Brandenburgisches Landeshauptarchiv www.blha.de

Berliner Adressbücher – Zentral- und Landesbibliothek Berlin

Landesarchiv Berlin 
WGA 

Deportationslisten

Gottwald/Schulle „Die Judendeportationen aus dem Deutschen Reich 1941 – 1945“
Yad Vashem – Opferdatenbank

Arolsen Archives
Anja Reuss. Kristin Schneider (Hrsg.) „Berlin – Minsk Unvergessene Lebensgeschichten“ S. 54 und 474ff
https://infostation.synagoge-stadthagen.de/biografien/biografie-details/henriette-loewenstein.html
Stadtverwaltung Rinteln

Stolperstein Jenny Neustadt

Stolperstein Jenny Neustadt

HIER WOHNTE
JENNY NEUSTADT
GEB. GLÜCKMANN
JG. 1851
DEPORTIERT 24.8.1942
THERESIENSTADT
ERMORDET 3.9.1942

Über Jenny Glückmanns familiären Hintergrund in Thorn ist wenig bekannt. Sie kam am 23. Juli 1871 als Tochter des aus Posen stammenden Adolf Glückmann zur Welt. Die Mutter war Louise, geb. Karlssohn. Sowohl in Thorn als auch in Posen waren im 19. Jahrhundert mehrere Familien mit dem Namen Glückmann ansässig. In Thorn gab es 1897 eine Zigarrenfabrik „A. Glückmann Kaliski“, die möglicherweise zu Jennys Familie gehörte. Jennys späterer Ehemann Emil Neustadt war 1844 in Posen geboren, auch in seiner Familie kam der Name Glückmann vor, seine Mutter war Dorothea Glückmann, sein Vater Adolph Neustadt.
Jenny und Emil Neustadt heirateten am 4. Dezember 1869 in Königsberg – Jenny war gerade 18 Jahre alt. Dort kam die Tochter Anna am 3. August 1870 zur Welt. Als der Sohn Paul am 9. Mai 1877 geboren wurde, war die Familie schon nach Berlin übergesiedelt. 1904 starb Emil Neustadt 60-jährig in seiner Wohnung in der Genthiner Straße 32.

1902 hatte sich der Sohn Paul in der Kirche zu Bückeburg in Niedersachsen evangelisch taufen lassen. Im Kirchenbuch heißt es: „Paul Neustadt steht z.Z. als Reserve – Gefreiter beim Westf. Jägerbat. N.7, um eine 8 wöchentl. Übung zu machen. Seine Eltern, jüdischer Herkunft, sind frei religös. P. Neustadt wünschte Christ zu werden und begehrte die Taufe. Ich habe ihn unterrichtet und am 23.7. getauft.“ – unterzeichnet von Pfarrer Heidkämper.
Jenny zog nach dem Tod ihres Mannes zu Anna und ihrer Familie nach Schöneberg in die Coubièrestraße 7. Anna hatte 1894 den aus Hannover stammenden Kaufmann und Fabrikdirektor Bernhard Seckendorff (oft auch Seckendorf geschrieben) geheiratet. Der Sohn Walther Adolph war am 3. Mai 1895 auf die Welt gekommen, drei Jahre später, am 30. Oktober 1898, der zweite Sohn Erich Max. Dieser hatte nur ein kurzes Leben. Der 16-jährige Schüler starb 1914 in Frankreich als Füsilier in den Kämpfen des gerade begonnenen Ersten Weltkriegs. Er war damals ebenso wie sein Onkel Paul evangelisch getauft, auch seine Mutter Anna war lt. Sterbeurkunde zu einem nicht bekannten Zeitpunkt zum protestantischen Glauben übergetreten.

Jenny wohnte noch bei den Seckendorffs, als die Familie 1913 nach Wilmersdorf in die Güntzelstraße 13 zog. Unter dieser Adresse führte Bernhard auch seine Metallwarenfabrik, spezialisiert auf Geschirrspülmaschinen. 1928 starb Bernhard Seckendorff, die Firma war jedoch noch 1931 unter seinem Namen und derselben Anschrift im Handelsregister verzeichnet.
Jenny Neustadt ist von 1932 an nicht mehr in den Adressbüchern verzeichnet, ihre Tochter Anna (in den Adressbüchern „Anni Wwe.“ genannt) zog von der Güntzelstraße in die nahe gelegene Düsseldorfer Straße 29, wo sie bis 1938 aufgeführt ist. Wo Jenny in diesem Zeitraum wohnte, ist unbekannt. Nach eigenen Angaben hatte sie seit 1938 ein Zimmer zur Untermiete bei Elise Hiller in der Trautenaustraße 20.
Die alte Frau Jenny Neustadt lebte dort unter ärmlichen Verhältnissen. Ihr einziger Besitz bestand aus einem Schrank und einem Tisch. Das restliche Mobiliar war von Elise Hiller zur Verfügung gestellt, in deren Wohnung insgesamt sechs zur Deportation bestimmte Menschen zusammengedrängt leben mussten. In ihrer Vermögenserklärung gab Jenny Neustadt an, eine jährliche Vorzugsrente des Deutsch Reiches in Höhe von 420 RM bezogen zu haben – ein Betrag, der ein Überleben kaum ermöglichte. 300 RM Barvermögen befand sich noch in ihrem Besitz und wurde zugunsten des Deutschen Reiches eingezogen. Ansonsten gab der Beamte der Reichsfinanzverwaltung an „In der Schätzungssache ist die Schätzung fruchtlos ausgefallen.“ Auch die Hauswartfrau, die sich offenbar in den Wohnungen der jüdischen Nachbarn bestens auskannte, bestätigte, dass in Jenny Neustadts Zimmer keine Gegenstände vorhanden gewesen wären.
Jenny Neustadt unterschrieb die obligatorische Vermögenserklärung am 12. August 1942, am 21. August wurde ihr die Urkunde über die Einziehung des Vermögens an die Adresse Große Hamburger Straße 26 „übergeben“. In diesem als Sammelstelle für Deportationen missbrauchten ehemaligen Altersheim musste Jenny tagelang ausharren, bis man sie am 24. August zusammen mit 99 weiteren Menschen vom Anhalter Bahnhof aus in das Böhmische Ghetto Theresienstadt deportierte. Sie überlebte die Qualen des Transports und der Gefangenschaft nur 10 Tage. Am 3. September starb Jenny Neustadt. Als Todesursache wurden in der Todesfallanzeige – wie häufig – Darmkatarrh und Herzschwäche angegeben.
Jennys protestantisch getauften Kinder, Paul und Anna und Enkel Walther überlebten die Verfolgung. Da es keinerlei Hinweise auf Flucht oder Auswanderung gibt, bleibt zu vermuten, dass sie mit Hilfe mutiger Menschen in Berlin versteckt waren. Am 7. April 1949 starb Anna an Altersschwäche in ihrer Wohnung in der Pariser Straße 6. Walther, der mit seiner Mutter in derselben Wohnung lebte, zeigte ihren Tod beim Standesamt an. Nach eigenen Angaben hatte er keinen Beruf.

Recherche/Text: Karin Sievert

Quellen:
Gedenkbuch – Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933 – 1945

Theresienstädter Gedenkbuch Holocaust.cz
Brandenburgisches Landeshauptarchiv www.blha.de

Berliner Adressbücher – Zentral- und Landesbibliothek Berlin

Deportationslisten

Gottwald/Schulle „Die Judendeportationen aus dem Deutschen Reich 1941 – 1945“
Yad Vashem – Opferdatenbank

Arolsen Archives
Martin-Opitz-Bibliothek: Adressbücher Posen und Thorn

Stolperstein Rosalie Pieck

Stolperstein Rosalie Pieck

HIER WOHNTE
ROSALIE PIECK
GEB. LICHTENBERG
JG. 1868
DEPORTIERT 17.8.1942
THERESIENSTADT
1942 TREBLINKA
ERMORDET

Am 23. November 1868 wurde Rosa Lichtenberg in Neuwedell (heute polnisch Drawno), Kreis Arnswalde geboren. Bis 1938 war der Kreis Arnswalde der Provinz Brandenburg zugehörig, danach kam er bis 1945 zur Provinz Pommern. Um 1880 zählte die jüdische Gemeinschaft Neuwedells etwa 120 Angehörige, für die eine Synagoge errichtet und eine jüdische Schule gegründet wurde.

Synagoge Neuwedell Postkarte um 1935

Um 1900 ging die Zahl der Juden in Neuwedell auf 90 zurück, während der Shoah wurden nachweislich 20 gebürtige oder länger dort ansässige jüdische Bewohner ermordet.
Über die Familie Lichtenberg gibt es keine genauen Informationen, Rosas Eltern sind nicht bekannt. Ob es sich bei der in Neuwedell geborenen Emma Cronheim geb. Lichtenberg (*16. August 1861) um eine Schwester von Rosa handelte, kann vermutet werden, ist jedoch nicht bestätigt. Diese wurde am 14. Juli 1942 von Berlin nach Theresienstadt deportiert und dort zwei Monate später ermordet. Ein Hinweis auf einen möglichen Bruder Rosas findet sich in der Klassenliste der Untersekunda des „Königlich Grönig’schen Gymnasiums“ zu Stargard in Pommern von 1882. Dort ist ein Georg Lichtenberg aus Neuwedell verzeichnet, der zu diesem Zeitpunkt etwa 16 Jahre alt gewesen sein dürfte, als Geburtsjahr für Georg könnte also 1866 infrage kommen.

1894 heiratete Rosa den acht Jahre älteren Kaufmann und Schneider Max Pieck (*25. Juli 1860) im nahe gelegenen Stargard. Max war der Inhaber eines Herren- und Knabenkonfektionsgeschäftes an der Pyritzer Straße 25.

Adressbuch Stargard 1914

Noch im Jahr der Hochzeit, am 1. November 1894, wurde die älteste Tochter Gertrud geboren. Der Sohn Hans kam am 4. November 1898 auf die Welt und am 9. Oktober 1900 wurde das jüngste der drei Kinder, Hertha, geboren.
Das Herrenbekleidungsgeschäft hatte einen riesigen Kundenstamm aus Stargard und Umgebung und lief demnach ausgezeichnet. Fünf bis sechs Angestellte waren vorn im Laden beschäftigt, in der angeschlossenen Maßschneiderei arbeiteten weitere sechs bis acht Fachkräfte. 1924 starb Max Pieck und Rosa war gezwungen, das Geschäft ohne ihren Mann weiterzuführen. Allerdings erfuhr sie tatkräftige Unterstützung der Familie. Hans gab später an, er hätte nach dem Tod des Vaters das Herrenartikelgeschäft für seine Mutter übernommen. Ob er Anteile besaß, oder das gesamte Geschäft übernahm, blieb bis zum Schluss unklar. Für das Haus und Grundstück an der Pyritzer Straße waren Rosa und ihre Tochter Gertrud als Eigentümergemeinschaft eingetragen.
Hans hatte Alice Böhm geheiratet, die – ebenfalls Jüdin – gleich nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 „aus rassischen Gründen“ verhaftet wurde. Im Entschädigungsverfahren gab Hans später an, dass er gezwungen worden sei, das Herrenbekleidungsgeschäft im Wege eines außergerichtlichen Vergleiches zu einem Schleuderpreis von 7 000 RM in Monatsraten von 125 RM zu verkaufen, um eine Entlassung seiner Frau aus der Haft zu erwirken. Tatsächlich wurde Alice Pieck nach dem Verkauf des Geschäfts freigelassen. Hans und Alice Pieck verließen daraufhin Stargard und zogen nach Berlin, wo Hans bis 1938 als Vertreter seinen Lebensunterhalt bestritt. Er verließ 1938 Nazideutschland und wanderte mit seiner Frau Alice nach Australien aus. Dort änderten sie den Nachnamen in Peek um. Sie ließen sich in Sydney nieder, wo Hans 1958 verstarb.
Mit ihnen verließen auch die Schwestern Gertrud, inzwischen verh. Klein, und Hertha, verheiratet mit Hermann Löwenthal und deren 1924 geborene Tochter Lilli Deutschland. Sie alle wählten Australien als Zufluchtsland. Hertha lebte nicht lange im Exil, sie starb schon im August 1943 in Sydney.
Für Rosa war ebenfalls der Zeitpunkt gekommen, Stargard zu verlassen. Ihr Haus mit Grundstück an der Pyritzer Straße verkaufte sie 1937 gezwungenermaßen für 30 000 RM, wobei ihr der Kaufpreis nur ratenweise ausgezahlt wurde. Von dem Geld bestritt sie ihren weiteren Lebensunterhalt, vielleicht wurde es auch für die Ausreise ihrer drei Kinder und deren Familien benötigt. Möglicherweise haben ihre Kinder sie zum Mitkommen gedrängt, Rosa blieb jedoch in Berlin und bezog eine Wohnung in Schöneberg, Berchtesgadener Straße 34. Sie ist dort in den Jahren 1936 und 1937 mit der Bezeichnung „Pieck, Rosa Wwe.“ eingetragen. 1939 wohnte sie zur Untermiete in der Trautenaustraße 20, verließ aber auch diese Unterkunft und zog zu einem nicht bekannten Zeitpunkt in die Knesebeckstraße 80/81 zur Untermiete bei Fränkel, 1. Stock vorn. Das Haus, direkt am Savignyplatz gelegen, existiert heute nicht mehr.
Rosa Pieck war zu diesem Zeitpunkt buchstäblich nichts geblieben. In der Vermögenserklärung, die sie vor ihrer Deportation ausfüllen musste, strich sie jede Seite kurzerhand durch. Einzig ein bescheidenes Guthaben bei der Deutschen Bank in Höhe von 24,75 RM gab sie an. Es wurde am 12. August 1942 „zugunsten des Deutschen Reiches“ eingezogen.
Rosa Pieck wurde am 17. August 1942 aus dem Gemeindehaus der Synagogengemeinde Adass Jisroel, Artilleriestraße 31 (heute Tucholskystraße 40), zusammen mit zahlreichen weiteren, vorwiegend älteren jüdischen Menschen abgeholt und nach Theresienstadt verschleppt. Nach vier Wochen in dem völlig überfüllten Ghetto deportierte man sie nach Treblinka, wo sie vermutlich gleich nach Ankunft ermordet wurde.

Recherche und Text: Karin Sievert – Stolperstein Initiative Charlottenburg – Wilmersdorf

Quellen:
Gedenkbuch – Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933 – 1945

Theresienstädter Gedenkbuch Holocaust.cz

Brandenburgisches Landeshauptarchiv www.blha.de

Landesamt für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten – Entschädigungsbehörde

Berliner Adressbücher – Zentral- und Landesbibliothek Berlin

Landesarchiv Berlin 

Arolsen Archives
Mapping The Lives
Deportationslisten

Gottwald/Schulle „Die Judendeportationen aus dem Deutschen Reich 1941 – 1945“

Yad Vashem – Opferdatenbank

https://www.jüdische-gemeinden.de/index.php/gemeinden/m-o/2231-neuwedell-brand-neumark
Adressbuch Stargard, Martin – Opitz – Bibliothek
https://forum.ahnenforschung.net/showthread.php?t=7742

Stolperstein Adolf Wisla

Stolperstein Adolf Wisla

HIER WOHNTE
ADOLF WISLA
JG. 1885
DEPORTIERT 3.3.1943
ERMORDET IN
AUSCHWITZ

Adolf Wisla kam am 3. März 1885 in Chemnitz auf die Welt. Sein Vater Fabian Wisla (1857 -1891) war Kantor der jüdischen Gemeinde, seine Mutter war die Rabbinertochter Hedwig Wisla, geb. Kalischer (1854 – 1908). Adolfs Bruder Max war auf den Tag genau drei Jahre vor Adolf geboren worden, am 3. März 1882. Adolf wurde von Beruf Kaufmann, sein Bruder Max studierte Jura und wurde Rechtsanwalt in Chemnitz.

Am 9. April 1919 heiratete Adolf im Charlottenburger Standesamt Bertha Mendel. Er lebte zu dem Zeitpunkt noch in Chemnitz in der Ulmenstraße 17. Bertha war in der Kaiser-Friedrich-Straße 27 gemeldet.
Das junge Ehepaar zog dann in die erste gemeinsame Wohnung in der Uhlandstraße 98. Dort kamen die beiden Söhne zur Welt. Am 7. Januar 1920 wurde Heinz geboren, am 27. Juni 1923 kam Gerhard auf die Welt. 1925 oder 1926 erfolgte dann der Umzug in eine 7-Zimmer-Wohnung in der Güntzelstraße 63. Berthas verwitwete Mutter Franziska Mendel wohnte bis zu ihrem Tod im Oktober 1942 bei ihnen.
Anfang der 1930er–Jahre zogen die Wislas in eine 5-Zimmer-Wohnung in der Trautenaustraße 20.

Als gläubiger Jude war Adolf Wisla Mitglied der Jüdischen Gemeinde in der Prinzregentenstraße und sowohl geschäftlich als auch privat mit dem Gemeindevorsteher Arnold Stein verbunden. Außerdem war er Mitglied der Abraham Geiger Loge (B’nai B’rith Tochterloge, deren Ziel die Aufklärung über das Judentum und die Erziehung innerhalb des Judentums war).

Adolf Wisla war ein äußerst erfolgreicher Unternehmer in der Schuhbranche. Zunächst fing er mit einer Reparaturwerkstatt in der Oranienstraße 10/11 an, dann eröffnete er in der Kleiststraße 15 (heute An der Urania) eine Schuh–Schnellbesohlanstalt. Das Unternehmen REWIMA war mit modernsten Maschinen bestückt und beschäftigte 20 Arbeiter. Die Maschinen hatte Adolf Wisla von amerikanischen Herstellern für fast 12 000 US Dollar gekauft. Daneben unterhielt er noch Reparaturannahmestellen nahe dem Roseneck und Grunewaldstraße 50 Ecke Bamberger Straße. Die dort in Empfang genommenen Reparaturaufträge wurden in der Kleiststraße ausgeführt. Zum Geschäft gehörten ein großes Lager mit Werkzeugen, Leder und ein Lieferwagen. Das durchschnittliche Jahreseinkommen von 19 000 RM ermöglichte eine „gediegene“ Wohnungseinrichtung und jährliche Reisen ins Ausland und in Kurorte mit der gesamten Familie.

Zu Adolf Wislas Großkunden gehörten die Schuhhäuser Tack und Stiller, diese zogen aber ihre Reparaturaufträge nach 1933 von dem jüdischen Unternehmen zurück, so konnte er ab 1935 das „Engros–Reparaturgeschäft“ nicht weiterführen und betrieb nur noch seine Ladengeschäfte für Privatkunden.

Auch Adolfs Bruder Max, der als Rechtsanwalt in Chemnitz tätig war, erfuhr 1933 sofort nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten die unmittelbare Bedrohung. Das Chemnitzer Tageblatt veröffentlichte eine Liste der „jüdischen Geschäfte, Rechtsanwälte und Ärzte“ mit der vollständigen Adressenangabe. Vor den Anwaltskanzleien bezogen SA- und SS-Leute – zum Teil bewaffnet – Posten. Max wurde verhaftet, ehemalige Kriegskameraden aus dem Ersten Weltkrieg setzten sich jedoch für seine Freilassung ein. Als aktiver Kriegsteilnehmer war er 1916 schwer verwundet worden, er erhielt das Eiserne Kreuz II. Klasse und wurde als Leutnant entlassen.

1938 war das Aus für die Schnellbesohlanstalt von Adolf Wisla. Die Pogrome vom 9. November wurden von einem benachbarten Inhaber einer Schuhmacherwerkstatt in der Kleiststraße 11 so erlebt:
„In der Kristallnacht ist die Einrichtung der Schnellbesohlanstalt des Herrn Wisla total zertrümmert worden. Ich bin am Tage nach der Kristallnacht dort vorbeigegangen und musste dabei feststellen, daß die gesamte Einrichtung demoliert worden war; die Maschinen waren mit Hammern zerschlagen…Nach der Kristallnacht ist in der Schnellbesohlanstalt des Herrn Wisla nicht mehr gearbeitet worden. Einige Tage nach der Kristallnacht suchte mich Herr Wisla…. auf. Er sagte zu mir, daß nach den Vorkommnissen in der Kristallnacht eine Fortführung seiner Arbeit keinen Zweck mehr hätte und daß er beabsichtige, die Geschäftsräume aufzugeben…“

Was nicht zerstört worden war, wurde geplündert. Nach der Pogromnacht wurde in der Schnellbesohlanstalt nicht mehr gearbeitet. Der genannte Augenzeuge, der Schuhmachermeister Buder, übernahm 1939 die Räume mit einem neuen Mietvertrag.

Derweil nahm auch die persönliche Tragödie ihren Lauf. Adolfs Bruder Max wanderte 1938, nachdem ihm die Zulassung als Rechtsanwalt und Notar entzogen worden war, nach London aus. Bei Kriegsausbruch wurde er dort als feindlicher Ausländer (Enemy Alien) interniert.

Heinz Wislas Traum, Zahnmedizin zu studieren hatte sich durch den Ausschluss jüdischer Studenten vom Studium zerschlagen, er konnte jedoch noch von 1936 bis 1938 eine Lehre zum Zahntechniker im „Laboratorium für Zahnprothesen“ am Kurfürstendamm machen. Nach Feierabend fuhr er für die Firma seines Vaters an dessen Kunden die Schuhe mit dem Fahrrad aus – bis die Reparaturwerkstätten enteignet wurden.
Ende 1939 wurde er verhaftet und im KZ Sachsenhausen interniert. Jetzt waren es Adolfs einflussreiche Kriegskameraden, die Heinz’ Freilassung aus der Haft erreichten. Unter der Voraussetzung, dass er über seine Haftzeit schweige und sofort das Land verlasse, konnte Heinz am 6. Mai 1940 aus Nazideutschland ausreisen.
Es begann eine jahrelange Odyssee, bis er sich endlich unter dem Namen Howard H. Wisla im Staate New York/USA niederlassen konnte.

Adolf Wisla wurde in den letzten Jahren seines Lebens, ebenso wie sein Sohn Gerhard zur Zwangsarbeit bei der Arbeitsgemeinschaft Berliner Optiker in der Wallstraße 3/4 herangezogen. Die eigentliche Adresse der Arbeitsgemeinschaft war die Eislebener Straße 3. Möglicherweise befanden sich in der Wallstraße die Werkstätten der Optikergemeinschaft. In der sogenannten „Vermögenserklärung“, die kurz vor der Deportation ausgefüllt werden musste, gab er an, dort als Optiker für wöchentlich 25 RM netto tätig gewesen zu sein.
Der ehemals erfolgreiche Unternehmer hatte noch 1500 RM auf seinem Konto bei der Deutschen Bank. Diese wurden „zugunsten des Deutschen Reiches eingezogen“ – wie die Ausplünderung der jüdischen Bevölkerung genannt wurde. Ansonsten trug Adolf Wisla nichts in das Formular ein, lediglich die Rubrik Kleidungsstücke war mit dem Eintrag „das Nötigste“ versehen.
Am 28. Februar 1943 wurde ihm die Urkunde über die Einziehung seines Vermögens zugestellt. Da saß er schon mit seinem Sohn Gerhard in der Levetzowstraße 8, einer als Sammelstelle für Jüdinnen und Juden missbrauchten Synagoge, deren Deportation unmittelbar bevorstand. Die Verhaftung von Adolf und Gerhard Wisla ist im Zusammenhang mit der sogenannten Fabrikaktion zu sehen. Am 27. Februar 1943 hatten SS und Gestapo begonnen, jüdische Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter aus den Fabriken zu holen, andere in Wohnungen oder auf der Straße zu verhaften und in Sammellager in der ganzen Stadt zu bringen. So ist auch zu erklären, weshalb Bertha Wisla getrennt von ihrem Mann und Sohn verhaftet und deportiert wurde.

Am 3. März 1943, seinem 58. Geburtstag, wurde Adolf Wisla zusammen mit seinem Sohn Gerhard nach Auschwitz deportiert. Im Zug des 33. Osttransports, der am 4. März in Auschwitz ankam, befanden sich 1726 Menschen. Zwei Monate später, am 2. Mai, wurde er in dem Vernichtungslager ermordet.

Bertha Wisla war schon zwei Tage zuvor, am 1. März, nach Auschwitz verschleppt worden. Der Transport kam am 2. März im Lager an. Sie starb einen Tag darauf – am Geburtstag ihres Mannes.

Recherche und Text: Karin Sievert, Stolperstein Initiative Charlottenburg – Wilmersdorf
Quellen:

Gedenkbuch – Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933 – 1945
Brandenburgisches Landeshauptarchiv www.blha.de
Entschädigungsamt Berlin
Berliner Adressbücher – Zentral- und Landesbibliothek Berlin
Landesarchiv Berlin
Arolsen Archives
Mapping The Lives
Deportationslisten
Gottwald/Schulle „Die Judendeportationen aus dem Deutschen Reich 1941 – 1945“
Yad Vashem – Opferdatenbank
Dr. jur. Hubert Lang „Ausgrenzung in aller Öffentlichkeit“
http://hubertlang.de/wp-content/uploads/2018/01/aor_chemnitz_ausgrenzung.pdf

Stolperstein Bertha Wisla

Stolperstein Bertha Wisla

HIER WOHNTE
BERTHA WISLA
GEB. MENDEL
JG. 1895
DEPORTIERT 1.3.1943
ERMORDET IN
AUSCHWITZ

Am 19. April 1895 wurde Bertha als Tochter von Samuel und Franziska Mendel in Gembitz, Kreis Mogilno, Provinz Posen geboren. Berthas ältere Schwester Martha war am 13. Juni 1888 auf die Welt gekommen. Das ca. 1200 Einwohner umfassende Dorf Gembitz hatte eine katholische Kirche und eine Synagoge. Samuel Mendel war Kaufmann. Bertha machte eine Ausbildung zur Schneiderin. Sie und ihre Schwester Martha siedelten nach Berlin über und wohnten in der Kaiser–Friedrich–Straße 27. Im Haus lebte auch ein Dachdecker namens P. Mendel, möglicherweise handelte es sich dabei um einen Verwandten.

Bertha heiratete am 9. April 1919 den aus Chemnitz stammenden Kaufmann Adolf Wisla und zog mit ihm in die erste gemeinsame Wohnung im Haus Uhlandstraße 98, wo ihre beiden Söhne geboren wurden, Heinz Hans am 7. Januar 1920 und Gerhard Rudolf am 26. August 1923.
Da die Geschäfte ihres Mannes in der Schuhbranche ausgezeichnet liefen, konnte sich die Familie Mitte der 1920er- Jahre eine 7-Zimmer-Wohnung in der Güntzelstraße 63 leisten.
Berthas verwitwete Mutter Franziska Mendel, die ihren Töchtern nach Berlin gefolgt war, lebte mit im gemeinsamen Haushalt der Wislas.

Martha war mit dem Zahntechniker und Inhaber eines Zahn–Laboratorium Julius Gutfeld verheiratet und wohnte mit ihm nach wie vor in der Kaiser–Friedrich–Straße 27.
Heinz und Gerhard sollten beide nach dem Abitur studieren, Heinz war für das Studium der Zahnmedizin vorgesehen und Gerhard sollte Jurist werden – so war es geplant. Der Ausschluss jüdischer Kinder und Jugendlicher aus öffentlichen Schulen und Universitäten machte diese Pläne jedoch zunichte.
Da Bertha keinen Beruf erlernt hatte, widmete sie sich, wie die meisten Frauen in dieser Zeit, dem großen Haushalt und der Familie. Anfang der 1930er-Jahre erfolgte der Umzug in eine etwas kleinere 5-Zimmer-Wohnung in die Trautenaustraße 20.
Bertha wird den beruflichen Ruin ihres Mannes, die Zerschlagung der beruflichen Träume ihrer Söhne und familiäre Tragödien sorgenvoll miterlebt haben. Ihre Schwester Martha wurde 1931 Witwe, Julius Gutfeld starb am 14. Juni, sie selbst starb 6 Jahre später, am 9. April 1937 in der jüdischen Privatklinik in der Trautenaustraße 5, genau gegenüber der Wohnung der Wislas.
Weitere traumatisierende Ereignisse erfolgten Ende 1939 und 1942. Heinz wurde im Dezember 1939 an seinem Arbeitsplatz verhaftet und nach mehrwöchigem Aufenthalt im Polizeigefängnis in das KZ Sachsenhausen verschleppt. Sofort nach seiner Freilassung musste er aus Deutschland fliehen. Am 30. Oktober 1942 starb Berthas Mutter Franziska in der Wohnung an Herzversagen.

Bertha selbst hatte noch Zwangsarbeit zu leisten. Für einen Hungerlohn von 18 RM wöchentlich musste sie täglich den weiten Weg zu Osram in der Friedrichshainer Rotherstraße bewältigen.

Schon ab 1939 war es in den Räumen der Wislas eng geworden. Zu den 5 Familienmitgliedern wurden im Laufe der Zeit weitere 4 Personen eingewiesen, die aufgrund der Aufhebung des Mieterschutzes für die jüdische Bevölkerung ihre eigenen Wohnungen räumen mussten. Es waren Julian und Elsa Baerwald, deportiert am 2. und 3. März 1943, Jonas Nußbaum, ebenfalls deportiert am 3. März 1943 und Margarete Casparius, deportiert am 1. März 1943.
Bertha Wisla wurde, getrennt von ihrem Mann und ihrem Sohn, am 1. März mit dem 31. Osttransport nach Auschwitz deportiert. Der Zug erreichte das Vernichtungslager einen Tag darauf und am 3. März, dem Geburtstag ihres Mannes, wurde Bertha ermordet.
Nachdem alle Personen aus dieser Wohnung in den ersten Tagen des März 1943 nach Auschwitz deportiert worden waren, wurde das komplette Inventar auf 3108 RM geschätzt, die Wohnung geräumt und der ausgebombte Hauptsturmführer Süss dort eingewiesen.

Recherche und Text: Karin Sievert, Stolperstein Initiative Charlottenburg – Wilmersdorf
Quellen:
Gedenkbuch – Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933 – 1945
Brandenburgisches Landeshauptarchiv www.blha.de
Entschädigungsamt Berlin
Berliner Adressbücher – Zentral- und Landesbibliothek Berlin
Landesarchiv Berlin
Arolsen Archives
Mapping The Lives
Deportationslisten
Gottwald/Schulle „Die Judendeportationen aus dem Deutschen Reich 1941 – 1945“
Yad Vashem – Opferdatenbank

Stolperstein Gerhard Wisla

Stolperstein Gerhard Wisla

HIER WOHNTE
GERHARD WISLA
JG 1923
DEPORTIERT 3.3.1943
ERMORDET IN
AUSCHWITZ

Gerhard Wisla, geboren am 26. August 1923 in Berlin, war der jüngere Sohn von Adolf und Bertha Wisla und Bruder von Heinz Wisla. Seine Kindheit verbrachte er unbeschwert im Kreis seiner relativ wohlhabenden Familie. Motiviert durch die Anwaltstätigkeit seines Onkels Max, der als Rechtsanwalt in Chemnitz tätig war, hatte er schon früh den Wunsch, Jura zu studieren. Sein Verweis von der „Höheren Schule” machte seinen Traum von Abitur und Studium zunichte. Er begann stattdessen eine Optikerlehre und arbeitete bis September 1938 als optischer Arbeiter bei Siemens.

Von 1941 bis zum 27. Februar 1943 war er bei der Arbeitsgemeinschaft Berliner Optiker in der Wallstraße 3/4 als „Anlernling“ beschäftigt. Der Sitz der Arbeitsgemeinschaft war in der Charlottenburger Eislebener Straße 3, die Adresse Wallstraße 3/4 war offenbar eine Produktionsstätte. Auch sein Vater war dort zur Zwangsarbeit eingesetzt. Vater und Sohn wurden am 28. Februar 1943 im Rahmen der „Fabrikaktion“ an ihren Arbeitsplätzen verhaftet und in der Levetzowstraße 8, einer als Sammelstelle missbrauchten Synagoge, gefangen gehalten. Am 3. März wurden beide mit dem 33. Osttransport nach Auschwitz deportiert und ermordet. Gerhards genaues Todesdatum ist nicht bekannt.

Recherche und Text: Karin Sievert, Stolperstein Initiative Charlottenburg – Wilmersdorf

Quellen:
Gedenkbuch – Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933 – 1945
Brandenburgisches Landeshauptarchiv www.blha.de
Deportationslisten
Entschädigungsamt Berlin

Heinz Wisla - Trautenaustr. 20

Für Heinz Wisla wurde kein Stolperstein vor dem Haus verlegt, obwohl er bis zu seiner Ausreise bei seiner Familie in der Trautenaustraße 20 lebte.
In der Sonderkartei für Juden, die bei der Volkszählung im Mai 1939 angelegt wurde, ist er nicht aufgeführt.
Obwohl das „Gesetz zur Wiedereinführung der Wehrpflicht“ vom März 1935 den vollständigen Ausschluss der deutschen Juden vom Wehrdienst bedeutete, wurde Heinz Wisla im Juni 1939 aufgefordert, sich am 14. Juli 1939 zur Musterung „im Musterungslokal Viktoriagarten, Berlin – Wilmersdorf, Wilhelmsaue 114/15 zu gestellen“. Offenbar war Heinz Wisla nicht als Jude registriert.

Er wurde am 7. Januar 1920 als Sohn von Adolf und Bertha Wisla geboren. 3,5 Jahre später kam sein Bruder Gerhard zur Welt. Heinz überlebte als Einziger der Familie den Holocaust. Von 1936 bis 1938 – ein Studium der Zahnmedizin war ihm als Jude verwehrt – machte er eine Zahntechnikerlehre im Laboratorium für Zahnprothesen am Kurfürstendamm 217 (Inh. Siegbert Wolff). Wo er anschließend arbeitete ist nicht bekannt.
Im Dezember 1939 geriet er an seinem Arbeitsplatz in einen verbalen Streit mit einem Mitarbeiter, wobei er folgenden Satz sinngemäß äußerte: Wenn Sie zu mir Judenschwein sagen, kann ich Sie auch Nazischwein nennen. 30 Minuten später wurde Heinz verhaftet und verbrachte 3 Wochen im Polizeigefängnis. Anschließend wurde er in das KZ Sachsenhausen eingeliefert. Seine grauenvollen Erlebnisse schilderte er in dem Interview mit der USC Shoah Foundation.

Im Frühjahr 1940 wurde er entlassen. Zwei gebrochene Arme, Erfrierungen, Verletzungen an den Fingern und ein Körpergewicht von 37 kg waren die äußerlich sichtbaren Zeichen der Haft.
Ein Kriegskamerad seines Vaters aus dem Ersten Weltkrieg mit guten Beziehungen zur SS hatte sich für seine Freilassung eingesetzt. Bei der Entlassung wurde ihm auferlegt, niemals über seine Haftzeit in Sachsenhausen zu sprechen. Heinz wurde sofort des Landes verwiesen und er verließ Deutschland am 6. Mai 1940.
Die nun beginnende Odyssee schildert er in einem Schreiben an die Entschädigungsbehörde 1952 stichpunktartig folgendermaßen:
„Ich selbst verliess Berlin am 6. Mai 1940. Meine Emigration dauerte genau 9 Jahre. 1940: mit einem illegalen Palaestina Transport auf einem Donaudampfer von der Slowakei durch Ungarn, Jugoslavia, Bulgarien, Rumaenien aufs schwarze Meer, durch die Dardanellen nach Griechenland. Spaeter auf dem Wege nach Kreta sank das Schiff im Sturm. Lebte 10 Tage als Schiffbruechiger auf einer unbewohnten Felseninsel im Dodekanes Archipel, bis wir von italienischen Kriegsschiffen gerettet und in das Kriegsgefangenenlager auf die Insel Rhodos gebracht wurden. 1941: Aufenthalt in Rom, Audienz beim Papst Pius XII, Flug nach Barcelona. 1942-1944: Aufenthalt in Portugal. 1944: Legale Einwanderung nach Palaestina. 1944-47: Aufenthalt in Tel Aviv und Jerusalem, Heirat 1946. Meldete 1947 meine Ansprueche fuer Rueckerstattung beim Control Office for Germany & Austria in London an. Verliess Palaestina Januar 1948 mit meiner Frau und hielt mich in der Schweiz, Deutschland (Berlin) und Frankreich waehrend dieses Jahres als Zeitungsberichterstatter auf und bearbeitete meine Einwanderung nach den USA. April 1949: Ankunft in den Vereinigten Staaten.“

Nach seiner Einbürgerung änderte er seinen Vornamen in Howard um und starb 2004 in Briarwood, N.Y.C., USA.

Die Audienz bei Papst Pius XII, sowie seine ausführliche Lebensgeschichte wurde in einem Artikel „Inside the Vatican, Papst Pius XII.: Freund und Retter der Juden“ veröffentlicht.

Recherche und Text: Karin Sievert Stolperstein – Initiative Charlottenburg – Wilmersdorf

Quellen:
Entschädigungsamt Berlin
https://collections.ushmm.org/search/catalog/irn500210
https://insidethevatican.com/magazine/lead-story/pope-pius-xii-friend-and-rescuer-of-jews/
Yad Vashem Archiv

Stolperstein Elsa Baerwald

Stolperstein Elsa Baerwald

HIER WOHNTE
ELSA BAERWALD
GEB. ROSENTHAL
JG. 1882
DEPORTIERT 3.3.1943
ERMORDET IN
AUSCHWITZ

In der Trautenaustraße 20 lebten Elsa und Julian Isaak Bärwald von 1941 bis zu ihrer Deportation 1943 zusammen als Untermieter der Familie Wisla.
Warum vor dem Haus kein Stolperstein für Julian Isaak Bärwald neben dem seiner Frau Elsa verlegt wurde, ist nicht bekannt. In allen Dokumenten, außer Julian Isaaks Deportationsliste, wird der Name Bärwald, nicht Baerwald geschrieben.

Elsa Bärwald wurde als Elsa Rosenthal am 4. Oktober 1882 in Breslau geboren. Ihre Eltern waren der Kaufmann Louis Rosenthal und Flora Rosenthal, geb. Cohn. Elsa hatte zwei ältere Geschwister, Julian Joseph, geboren am 25. Februar 1875, und Hedwig, geboren am 24. Juli 1880.
Am 8. Juli 1904 heiratete sie in Breslau Julian Isaak Bärwald (*23. September 1874 in Jarotschin /Polen). Julian Bärwald war von Beruf Regierungsbaumeister – oder auch Königlicher Bauinspektor. Er wohnte damals in Berlin in der Chausseestraße 62 und arbeitete im technischen Prüfungsamt des Preußischen Ministeriums der öffentlichen Arbeiten.
Das junge Ehepaar wohnte zunächst in der Kirchstraße 23 in Moabit, wo auch das älteste der beiden Kinder geboren wurde. Hans Heinz kam am 13. April 1905 auf die Welt und Annemarie vier Jahre später am 7. August 1909. In der Zwischenzeit war Familie Bärwald nach Berlin Halensee in die Georg–Wilhelm–Straße 2 umgezogen. Die Wohnung nahe dem Kurfürstendamm war bis 1932 ihr festes Zuhause. Die Anstellung Julians als Regierungsbaumeister dürfte der Familie ein gutes Auskommen und einen gehobenen Lebensstil ermöglicht haben. Julian arbeitete neben seiner Tätigkeit im Ministerium auch für den Hilfsverein der Deutschen Juden. Dieser plante 1910 die Errichtung des „Technikums“ auf dem Berg Carmel in Haifa. Im Auftrag des Kuratoriums unternahm Julian Bärwald eine 2-monatige Reise nach Haifa, um dort Studien für die Ausführung der Arbeiten zu machen.
In der 2. Hälfte der 1920er-Jahre verließen die Kinder in kurzen Abständen das Haus.

Hans Heinz war Kaufmann geworden und lebte in Essen. Er heiratete am 1. Dezember 1927 in Berlin Liselotte Feldblum. Die Ehe hielt nicht lange und wurde 1932 geschieden. 1929 heiratete Annemarie den Kaufmann Ernst Walter Nürnberg und zog zu ihm nach Nikolassee in die Burgunderstraße 7. Auch diese Ehe war nicht von Dauer, die Scheidung erfolgte 1936.
1933 dürfte nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten das berufliche Aus für Julian Bärwald und der Hinauswurf aus dem Staatsdienst gewesen sein. Damit verbunden war der Verlust der großen Wohnung am Kurfürstendamm. Elsa und Julian zogen nach Nikolassee in die Von-Luck-Straße 7/9. 1936 sind sie lt. Adressbuch in der Lohengrinstraße 10 gemeldet. In diesem Haus wohnten bis 1934 die Kinderärztin Lotte Dessau und ihr Mann, der Internist Ernst Dessau. Eigentümerin war Selma Neumann, die Mutter Lotte Dessaus. Das Ehepaar Dessau erhielt 1933 Berufsverbot und emigrierte 1934 nach Frankreich. Somit fanden Elsa und Julian Bärwald in der Villa mit Wassergrundstück eine standesgemäße Unterkunft.
Selma Neumann verließ nach dem Tod ihres Mannes Nazideutschland und emigrierte nach Palästina. Die Villa hatte sie im Zuge der Arisierung jüdischen Eigentums an einen Studienrat Lüdke verkaufen müssen. Trotzdem blieben Elsa und Julian in dem Haus bis 1941 wohnen. Danach mussten sie ein Zimmer zur Untermiete bei der Familie Wisla in der Trautenaustraße 20 beziehen. Die Deportation des Ehepaares erfolgte zwei Jahre später an zwei verschiedenen Tagen. Julian wurde am 2. März 1943 nach Auschwitz verschleppt, Elsa einen Tag später, am 3. März 1943. Diese Sondertransporte des RSHA deportierten die im Rahmen der „Fabrikaktion“ vom 27. Februar gefangen genommenen Juden. Ob es ein Indiz dafür ist, dass der 69-jährige Julian Bärwald bis zu diesem Tag Zwangsarbeit leisten musste und an seinem Arbeitsplatz verhaftet wurde, kann nur vermutet werden.
Elsa und Julian Bärwald wurden im Vernichtungslager Auschwitz ermordet.

Über das Schicksal ihres Sohnes Hans Heinz ist nichts bekannt. Da er nicht in der zentralen Datenbank Yad Vashem als Holocaustopfer genannt wird, kann davon ausgegangen werden, dass er rechtzeitig Deutschland verlassen konnte.
Annemarie emigrierte nach ihrer Scheidung von Ernst Walter Nürnberg in die USA und heiratete in Kalifornien den Franzosen Raymond Goldfarb. Sie starb am 30. Juni 2000 in Laguna Hills.

Elsas Schwester Hedwig Heilborn – ihr Mann, der bekannte Breslauer Augenarzt Dr. Franz Heilborn war bereits 1920 verstorben – wurde schon im Mai 1942 von Breslau aus nach Auschwitz deportiert und dort ermordet.
Der Bruder Julian Joseph Rosenthal emigrierte mit seiner Ehefrau Margarete in die USA. Er starb 1954 in Brooklyn, New York.

Recherche und Text: Karin Sievert, Stolperstein Initiative Charlottenburg – Wilmersdorf

Quellen:

Gedenkbuch – Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933 – 1945

Brandenburgisches Landeshauptarchiv www.blha.de
Berliner Adressbücher – Zentral- und Landesbibliothek Berlin

Landesarchiv Berlin 

Arolsen Archives
Mapping The Lives
Deportationslisten

Gottwald/Schulle „Die Judendeportationen aus dem Deutschen Reich 1941 – 1945“

Yad Vashem – Opferdatenbank

Edmund Burkhard: „Überwindung von Armut durch Bildung“ – Das Schul- und Bildungswerk des Hilfsvereins der Deutschen Juden“ (S.139)