HIER WOHNTE
DR. PAUL KUTTNER
JG. 1878
DEPORTIERT 16.12.1942
THERESIENSTADT
ERMORDET OKT. 1943
Paul Kuttner wurde am 13. Januar 1878 in Glogau (Oberschlesien) geboren. Anfang des 20. Jahrhunderts begann er ein Medizinstudium und wurde Arzt in Berlin, in der Regensburger Straße 14. Am 7. Juli 1911 ließ Paul Kuttner sich taufen.
1910 hatte er Margarete Fraenkel, die am 28. Mai 1884 in Hamburg geborene Tochter des Hamburger Professors Dr. Eugen Fraenkel, dem Entdecker des Gasbrandbazillus (bacillus fraenkeli), geheiratet. Dieser Prof. Dr. Fraenkel freute sich sicher darüber, dass seine Tochter die Frau eines ebenfalls hoch anerkannten Arztes wurde, der im Ersten Weltkrieg als Oberstabsarzt „eine heldenhafte Karriere für sein deutsches Vaterland“ machte. Er war an der Berliner Charité und im Westend-Krankenhaus Arzt für Innere Krankheiten. Margarete und Paul bekamen 1912 ihr erstes Kind Annemarie, zehn Jahre später kam der nach dem Vater benannte Paul zur Welt.
1927 ließen sie sich scheiden. Paul Kuttner hatte sich in eine seiner Patientinnen, Ida Caspar, verliebt. Im Scheidungsprozess wurde festgelegt, dass die Kinder den Vater in seiner neuen Wohnung mit Praxis am Kurfürstendamm 72, Ecke Waitzstraße, einmal wöchentlich besuchen sollten. Die 15-jährige Annemarie widersetzte sich aber, als sie sah, wie verzweifelt die Mutter war, und weigerte sich viele Jahre, überhaupt noch irgendetwas mit dem Vater zu tun zu haben.
Durch seine zahlreichen Tätigkeiten – unter anderem als Vertrauensarzt im UFA-Atelier in Neubabelsberg – ging es der Familie finanziell bis 1933 sehr gut. Annemarie wurde Assistentin bei einem jüdischen Zahnarzt. Paul wurde aufs Berliner Bismarck-Gymnasium in der Pfalzburger Straße geschickt.
Paul Kuttner jr., in New York, Queens lebend, hat im Alter von 91 Jahre seine Erinnerungen aufgeschrieben. Ein einschneidendes Ereignis aus seiner Schülerzeit:
„Bei einem Besuch in Babelsberg im August 1933 kam ein hoher Gast mit seiner Leibstandarte ins Filmstudio, es war Adolf Hitler. Er trug an diesem kühlen Sommertag einen Regenmantel. Zwei Kolonnen seiner Leibstandarte formierten den Korridor für ihren Führer. In meiner Furcht vor der SS suchte ich verzweifelt nach meinem Vater und sah ihn auf der anderen Seite des SS-Spaliers. Als zehnjähriger blonder Berliner Lausbub kroch ich schnell unter den eingehakten Armen zweier SS-Männer hindurch und versuchte, den für Hitler gebildeten Gang zu überqueren und mich in die Sicherheit meines Vaters zu bringen. Doch ich geriet ins Stolpern und fiel ungefähr vier Meter vor Hitler auf den Boden.
Hitler, der die zahlreichen Fotoapparate und Kameras auf sich gerichtet wusste, stürmte vorwärts, um den blonden Knaben gewinnbringend für die nächste Wochenschau vom Boden aufzuheben. Tat es, drückte mich an seine Brust und fragte, ob ich mir wehgetan hätte und ob ich ein Schauspieler sei? Ich antwortete ihm höflich, aber verängstigt und stellte ihm mit dem Zeigefinger meinen Vater vor. Hitler nickte freundlich. Hatte diese Situation doch etwas unerwartet Menschliches aus ihm hervorgekitzelt? Die Szene kam dann in die Wochenschau und war wohl die einzige dieser Art, die je in der Öffentlichkeit gezeigt wurde.“
Schon seit 1933 wurde die Arztpraxis immer kleiner, weil die Nazis ihm verboten hatten, christliche Patienten zu behandeln oder in irgendeinem Berliner Krankenhaus zu arbeiten. Da die meisten seiner jüdischen Patienten bis 1936 auswanderten, ging seine medizinische Praxis dann sogar um 95 % zurück, und er konnte den Unterhalt für seine Ex-Frau und die Kinder nicht mehr aufbringen. Beide Eltern waren gezwungen, in ihren großen Berliner Wohnungen Zimmer zu vermieten, um nicht zu verhungern. Als getaufte Christen wurden sie von keiner jüdischen Gemeinde oder Organisation unterstützt. Im Sommer 1936, zur Zeit der Olympischen Spiele in Berlin, wurde Paul Kuttner 58-jährig durch einen Schlaganfall auf der rechten Seite von Kopf bis Fuß gelähmt und konnte damit seine Praxis gar nicht mehr weiterführen.
Ein weiteres Erlebnis aus den Aufzeichnungen von Paul Kuttner jr.:
„Unvergessen bleiben die Tage um die sogenannte Kristallnacht am 9. November 1938. An dem Tag darauf wurde ich vom Direktor des Bismarck-Gymnasiums Dr. Voelkle als ‚Dreckjude‘ aus der Schule hinausgeworfen. Verzweifelt ging ich direkt zu meinem Vater. Der Lärm auf der Straße zog uns auf den Balkon. Ich wurde Zeuge einer der schrecklichsten Szenen meines Lebens. Eine Menschenmenge von Berlinern hatte ein kleines Mädchen erwischt und sie als ‚Saujüdin‘ beschimpft. Sie war etwa zehn Jahre alt. Im Abstand von etwa 15 Metern vor dem Balkon befand sich eine Straßenlaterne, über dessen Querstrebe ein Nazi ein Seil gezogen hatte. Ein anderer legte eine Schlinge um den Hals des zitternden, schreienden Mädchens und zog sie sie daran hoch. Ihre Stimme verstummte. Dann sah ich, wie unter ihrem roten, mit einem weißen Pelzkragen versehenen Wintermantel und auf ihren schneeweißen Strümpfen gelber Urin wie eine kleine Schlange in ihre schwarzen Schuhe herunterlief. Die ganze
Menschenmenge um sie herum wurde mucksmäuschenstill und starrte mit Schrecken und Entsetzen auf ihren still gewordenen toten kleinen Körper. Tränen brannten in meinen Augen. Im Bad musste ich mich übergeben. Wieder zu Hause, erzählte ich meiner Mutter von den schrecklichen Ereignissen dieses Tages.“
Als sich die Möglichkeit bot, im Februar 1939 den inzwischen 16-jährigen Paul mit einem Kindertransport nach England zu schicken, nahm sie diese an.
„So sehr ich zum Abschied hoffte, dass meine Mutter und Schwester nachkommen könnten, wusste ich auch, dass ich meinen Vater nie wiedersehen würde“, notierte er. „Kein Land wäre einen so kranken Menschen wie ihn aufzunehmen bereit gewesen. Noch heute sehe ich den gelähmten Vater weinend an jenem eiskalten 6. Februar auf seinem Balkon stehen und mir mit dem Stock in der linken Hand zum Abschied winken. Diese Szene wie auch der Abschied von der geliebten Mutter und Schwester zwei Tage später am Anhalter Bahnhof haben sich mir tief eingebrannt.“
1941, während des Zweiten Weltkriegs, musste sich Dr. Paul Kuttner von seiner zweiten Frau Ida, die nach den NS-Rassebestimmungen arisch war, scheiden lassen und das gemeinsame Leben in der Wohnung am Kudamm aufgeben. Ida ließ ihren geliebten Mann deswegen aber nicht im Stich. Gelähmt, geistig eingeschränkt und hilfebedürftig wie er war, fand sie ein Zimmer für ihn im obersten Stockwerk des Hauses. Dort holte sie ihn jeden Morgen ab, sodass er tagsüber in seinem alten Zuhause in der Belle Etage weiter bei und mit ihr leben konnte. Sie betreute ihn hingebungsvoll. Nach einiger Zeit wurde das allerdings der Gestapo bekannt. Sie verlangte, dass er – weit von ihr entfernt – in ein jüdisches Altersheim in die Auguststraße 4 nach Berlin-Mitte gebracht wurde.
Sein Aufenthalt dort muss menschenunwürdig gewesen sein. Ida fuhr täglich zu ihm, brachte ihm selbstgekochtes Essen und saubere Kleidung. Sie pflegte ihn, bis sie eines Tages, es muss gegen Ende 1942 gewesen sein, dort ankam und ihn nicht mehr vorfand. Es stellte sich heraus, dass er ohne Vorankündigung, ohne Verabschiedung in das Ghetto Theresienstadt gebracht worden war. Einige Monate später erfuhr Ida, dass er verhungert sei.
Aus der Opferdatei des Ghettos Theresienstadt geht hervor, dass er am 16. Dezember 1942 deportiert wurde. Er war am Anhalter Bahnhof in Berlin mit 100 Menschen in einen von zwei an den fahrplanmäßigen Zug Richtung Prag angehängten Waggon 3. Klasse gesetzt worden. Sein Todestag ist auf den 24. Oktober 1943 datiert.
Zum Gedenken an seine erste Frau Margarete Kuttner, geb. Fraenkel, wurde in der Kaiserallee (heute Bundesallee) 26 ein Stolperstein verlegt. Sie ist im Alter von 59 Jahren am 26. Februar 1943 nach Auschwitz deportiert und dort ermordet worden.
Die Tochter Annemarie überlebte den Holocaust illegal in einem Versteck in Berlin und übersiedelte nach New York, wohin ihr der Bruder Paul von England aus folgte. Auch für sie wurde ein Stolperstein an der Bundesallee 26 verlegt.
Text: Paul Kuttner jr. (siehe auch Margarete Kuttner, Bundesallee 26 ). Literatur: Paul Kuttner: An Endless Struggle – Reminiscences and Reflections. Vantage Press, New York 2010. Fotos und Dokumente zur Familie befinden sich in Yad Vashem in Jerusalem, im Jüdischen Museum in Berlin, im Holocaust Memorial Museum in Washington D.C. und in der Steven Spielbergs Shoah Organisation in Los Angeles. Weitere Quellen: Bundesarchiv, Opferdatei des Ghettos Theresienstadt.