Warum soll die Straße seinen Namen nicht mehr tragen?
2019 hat die Bezirksverordnetenversammlung eine Initiative mit dem Ziel der Umbenennung der Wissmannstraße beschlossen.
Straßen tragen den Namen einer Persönlichkeit in aller Regel um die Persönlichkeit zu ehren und an ihre Verdienste zu erinnern. So auch im Falle der Wissmannstraße in Grunewald, die noch zu seinen Lebzeiten nach Wissmann benannt wurde.
Von 1884 bis zum Ende des Ersten Weltkriegs 1918 gehörte Deutschland zu den führenden europäischen Kolonialmächten. Kolonialismus war ein Unrechtssystem, in dem europäische Staaten Menschen im globalen Süden gewaltsam beherrschten, ihnen Grundrechte verweigerten und sie wirtschaftlich ausbeuteten. Als gewaltsame Fremdherrschaft wurde der Kolonialismus durch ein rassistisches Weltbild europäischer Überlegenheit legitimiert.
Eine kritische Erinnerung an den deutschen Kolonialismus hat in der Gegenwart an öffentlicher Bedeutung gewonnen. Gestiegen ist damit auch das Bewusstsein für die Auswirkungen des Kolonialismus bis in die Gegenwart. Wissmann spielte eine zentrale Rolle in der gewaltsamen Kolonisierung Ost- und Zentralafrikas. Eine ehrende Erinnerung an Akteure wie Wissmann ist daher mit demokratischen Werten der Gegenwart nicht mehr vereinbar. Seit vielen Jahren engagieren sich bereits zivilgesellschaftliche Initiativen für eine kritische Revision von Straßennamen mit kolonialem Kontext. Schauplätze sind unter anderem das Afrikanische Viertel im Bezirk Mitte, die Wissmannstraße in Neukölln, das May-Ayim-Ufer in Friedrichshain-Kreuzberg, das bereits seit 2010 den Namen der afrodeutschen Lyrikerin und Aktivistin trägt.
Gibt es eine, mehrere, viele Wissmannstraßen?
In mehr als zwanzig deutschen Städten tragen heute noch Straßen Wissmanns Namen. Seit 1945 haben zudem mehrere Städte nach Wissmann benannte Straßen umbenannt. In der DDR – in Erfurt, Frankfurt/Oder, Leipzig – geschah dies bereits in den 1950er-Jahren. Auch in den 1990er- und 2000er-Jahren wurden Wissmannstraßen umbenannt, beispielsweise in Bochum und Stuttgart. Im Berliner Bezirk Neukölln wurde 2020 eine Umbenennung der Wissmannstraße in Lucy-Lameck-Straße beschlossen. Lucy Lameck (1934-1993) war die erste Frau in einem tansanischen Regierungskabinett. Sie brachte Frauenrechte in Tansania voran und war eine wichtige Unterstützerin der panafrikanischen Idee.
Wie kam die Straße in Grunewald zu ihrem Namen?
In der Sekundärliteratur findet sich die Angabe, die Straße in Grunewald habe ihren Namen 1898 erhalten. Diese Jahreszahl wird auch im Antrag der Linksfraktion (DS-Nr: 0491/5, siehe oben) an die BVV Charlottenburg-Wilmersdorf genannt. Historische Adressbücher erwähnen eine Wissmannstraße in der Villenkolonie Grunewald jedoch bereits im Jahr 1893. Spätestens zu diesem Zeitpunkt scheint es also eine Straße in Grunewald mit diesem Namen gegeben zu haben. Damit handelt es sich bei der Wissmannstraße in Grunewald im Gegensatz zu denen in anderen deutschen Städten weder um eine posthume Ehrung noch um eine, die dem Kolonialrevisionismus nach 1918 zuzurechnen ist. Stattdessen ehrte diese Straßenbenennung Wissmann bereits zu Lebzeiten für seine Niederschlagung des Widerstands in Ostafrika 1889/1890.
Für einige Monate im Jahr 1895 wohnte Wissmann mit seiner Ehefrau Hedwig (geb. Langen) selbst in der Villenkolonie Grunewald. Das Paar mietete laut Wissmanns Biografen eine Wohnung in der Hagenstraße 39. Mehr oder weniger zeitgleich mit dem Einzug in Grunewald wurde Wissmann im April 1895 zum Kaiserlichen Gouverneur für “Deutsch-Ostafrika” ernannt und reiste im Juli dorthin aus.
Welche Rolle spielte Wissmann für die Kolonialbewegung?
Seit der Niederschlagung des Widerstands in Ostafrika 1889/1890 war Wissmann bekannt und wurde hierfür in den Adelsstand erhoben. Zur Reichsregierung hatte Wissmann zu Lebzeiten jedoch ein angespanntes Verhältnis. So war es insbesondere die organisierte Kolonialbewegung, die einen Heldenkult um ihn pflegte, auch über seinen Tod hinaus. 1905 regte die Deutsche Kolonialgesellschaft (DKG) mehrere Denkmäler zu seinen Ehren an. Eine Statue des Bildhauers Adolf Kürle wurde 1909 im ostafrikanischen Daressalam eingeweiht. Nach der Aberkennung der Kolonien in Folge des Ersten Weltkriegs versuchte eine zahlenmäßig kleine Kolonialbewegung, in der ehemalige Kolonialmilitärs, Siedler und Händler mobilisierten, die deutsche Öffentlichkeit und Regierung zu einer schärferen Revisionspolitik des Versailler Vertrags zu bewegen. Gedenkveranstaltungen für Wissmann spielten dabei wiederum eine Rolle – wie etwa das Wiederaufstellen der Wissmann-Statue aus Daressalam vor der Hamburger
Universität 1922. An diese revisionistische Erinnerungspolitik knüpfte das NS-Regime an. Nach mehreren gescheiterten Versuchen gelang Studierenden der Universität Hamburg der Denkmalsturz 1967. Das Denkmal ist ein Beispiel für den wechselvollen Umgang mit Zeugnissen des deutschen Kolonialismus.
Was ist mit Wissmanns Verdiensten als Afrikaforscher?
Bevor Wissmann im Auftrag des Deutschen Reiches einen Kolonialkrieg führte, nahm er in den 1880er-Jahren an mehreren Forschungsexpeditionen durch Zentralafrika teil. Er erwarb sich den Ruf, als erster Europäer den Kontinent auf dem Landweg durchquert zu haben.
Die Forschungsziele der Expeditionen im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts sind jedoch vom “Wettlauf um Afrika” und der gewaltsamen Kolonisierung des Kontinents nicht zu trennen. Sie trugen durch landeskundliche Kenntnisse und den Aufbau von Infrastruktur zur Kolonisierung bei und hatten teils militärischen Charakter. Dies gilt insbesondere für die Expedition, die Wissmann 1886/87 im Auftrag des belgischen Königs Leopold II. anführte. Sie diente der Eingliederung des bereisten Gebiets in Leopolds Privatkolonie, den “Kongo-Freistaat”.
Wird durch eine Umbenennung nicht dieses Kapitel der deutschen Geschichte aus dem öffentlichen Gedächtnis verbannt?
Initiativen für Umbenennungen haben in den vergangenen Jahren überhaupt erst eine öffentliche Auseinandersetzung mit deutscher Kolonialgeschichte mit angestoßen. In diesem Prozess hat Wissen über den deutschen Kolonialismus Verbreitung gefunden. Durch eine Umbenennung soll lediglich die ehrende öffentliche Erinnerung beendet werden – nicht die kritische, öffentliche Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus.
Auch der Beschluss der Bezirksverordnetenversammlung regt eine Informationstafel an, die über den Namensgeber, die Umbenennung und den neuen Namen aufklären soll. Damit wird es in Zukunft mehr – und nicht weniger – Information im Stadtraum über den historischen Kontext des deutschen Kolonialismus geben als bisher.
Zudem setzen sich zivilgesellschaftliche Initiativen neben ergänzenden Informationstafeln auch ausdrücklich dafür ein, dass in neuen Straßennamen historische Bezüge zur deutschen Kolonialzeit, afrodeutsche und panafrikanisch bedeutsame Persönlichkeiten berücksichtigt werden. Dabei wird die Perspektive umgekehrt: Nicht Profiteure des Kolonialismus sollen geehrt werden, sondern seine Kritiker und diejenigen, die gegen Kolonialismus und Rassismus Widerstand geleistet haben und deren Geschichten bisher im öffentlichen Raum kaum Sichtbarkeit haben. Bürger*innen Charlottenburg-Wilmersdorfs haben die Möglichkeit, solche Vorschläge einzureichen, wenn ihnen ein solcher Bezug im neuen Straßennamen wichtig ist.
Warum sollten wir uns mit (kolonialen) Straßennamen auseinandersetzen?
Auch vor dem Hintergrund, dass die Ressource Stadt als Erinnerungslandschaft beschränkt ist (es gibt nicht ständig neue Straßen), sind Straßennamen ein Bereich von Erinnerungspolitik, der in den Alltag der Stadtgesellschaft wirkt. Im politischen Wandel der Berliner Geschichte wurde die Stadtlandschaft wiederholt umgestaltet und Orte wie Straßen benannt und auch umbenannt, jedoch nicht immer umfassend. Straßennamen können auch im Widerspruch zu einem politischen Wandel oder historischen Narrativen weiterbestehen – und zu einem bestimmten Zeitpunkt damit in Konflikt geraten.
Straßennamen sind nicht die einzigen kolonialen Spuren im Raum. Das Problem: Die kolonialen Spuren im öffentlichen Raum sind für viele die meiste Zeit unsichtbar. Und schon auf die Frage, was denn koloniale Spuren sind, gibt es vielfältige Antworten. Das Ziel einer Dekolonisierung des öffentlichen Raums ist es, dass die breite Stadtgesellschaft darüber in eine Auseinandersetzung mit kolonialen Spuren tritt. Damit sind alle aufgefordert, sich in diesen Blicken zu üben. Gerade in der Vielfalt der Sichtweisen liegt dabei das Potenzial, den Austausch fruchtbar zu gestalten: Postkoloniale Geschichtswerkstätten, Diaspora-Communities und zivilgesellschaftliche Initiativen haben hier bereits viel Arbeit geleistet und können in diesem Prozess Positionen beziehen. Die Spurensuche bringt also eine zweite Aufgabe mit sich: Einander Zuzuhören. Aus diesem Grund werden auch an dem Namensfindungsprozess für die Wissmannstraße zivilgesellschaftliche Initiativen beteiligt.
Über die Umbenennung von Straßen hinaus gibt es verschiedene Ansätze, um die Stadtgesellschaft mit kolonialen Spuren im öffentlichen Raum zu konfrontieren. Tafeln oder digitale Verweise können die Orte historisch kontextualisieren. Künstlerische Positionen und Gegendenkmäler können zu einer Reflexion einladen. An vielen Orten gibt es bereits kritische Stadtführungen, um über Kolonialgeschichte in einen Austausch zu treten.
Und wo soll das noch hinführen?
Antikoloniale und antirassistische Proteste gegen Manifestationen im Stadtraum haben wir in großer Fülle in letzter Zeit erfahren. Diese Proteste sind global vernetzt, und zugleich in jeweils spezifischen lokalen Anliegen eingebettet. Eine Dekolonisierung des Stadtraums ist ein unabgeschlossener Prozess. Eine Umbenennung trägt zu einer kritischen öffentlichen Aufarbeitung der deutschen Kolonialgeschichte bei.