01/2023 – Stabilisierung auf niedrigem Niveau: Antisemitische Vorfälle 2021 in Steglitz-Zehlendorf

Logo der RIAS Berlin (Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin)

Januar 2023

RIAS-Jahresbericht „Antisemitische Vorfälle in Berlin 2021“

Vor genau zwei Jahren, am 4. Januar 2021, wurde der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin (RIAS) der erste Vorfall antisemitisch motivierter Gewaltbereitschaft aus Steglitz-Zehlendorf gemeldet: An diesem Tag ereignete sich ein körperlicher Angriff in einem Mietshaus, bei der es nicht „nur“ zu verbalen Beleidigungen kam. Es war der schwerwiegendste Fall von insgesamt 16 dokumentierten antisemitischen Ereignissen (zum Vergleich: 15 Fälle im Jahr 2020) des Jahres 2021. Als „verletzendes Verhalten“ ordnet RIAS ein weiteres Ereignis am Jahresende ein: Am 29. November 2021 habe sich ein Mann über die pandemiebedingten Zulassungsbeschränkungen eines Lankwitzer Geschäfts beschwert und gesagt, es müsse nur noch „Juden“ an das Geschäft geschrieben werden. Beide Vorfälle werden im Jahresbericht „Antisemitische Vorfälle in Berlin 2021“ der RIAS explizit aufgeführt. Aufgrund datenschutzrechtlicher Bedenken durften die Daten des Meldedienstes zur politisch motivierten Kriminalität (PMK) des Landeskriminalamtes erstmals nicht mehr in die von RIAS verbreiteten Zahlen einfließen.

Je nach Art und Schwere des Einzelfalls unterscheidet RIAS in ihrem Dossier verschiedene Eskalationsstufen („Vorfalltypen“) antisemitisch motivierten Verhaltens. Dabei orientiert sich die Recherchestelle an der allgemein anerkannten und von der Bundesregierung empfohlenen Arbeitsdefinition von Antisemitismus:

„Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Jüdinnen und Juden, die sich als Hass gegenüber Jüdinnen und Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen.“

Diese Definition wurde am 26. Mai 2016 vom Plenum der „International Holocaust Remembrance Alliance“ (IHRA) in Bukarest verabschiedet.

RIAS zufolge zeigen die

„Dynamiken in der Entwicklung antisemitischer Vorfälle in Berlin (…) die inhaltliche Anpassungsfähigkeit des Antisemitismus und verweisen auf ein großes antisemitisches Potenzial, das durch spezifische Anlässe, wie politische Ereignisse in Israel oder gesellschaftliche Entwicklungen in Deutschland, gleichsam abgerufen werden kann“.

ein Justiziar-Hammer liegt auf einer Mappe mit Aufschrift Antisemitismus

Verfassungsschutzbericht 2021 des Bundesministeriums des Innern und für Heimat

Solche politischen Ereignisse können Anti-Impf-Protestaktionen sein, Aufmärsche mit rechtsradikalem und –extremem Hintergrund, oder auch Umsturzpläne sogenannter „Reichsbürger“, die die freiheitlich-demokratische Grundordnung ablehnen. In Teilen zeigen Mitglieder dieser Bewegung antisemitische, verschwörungstheoretische Reflexe. Am 7. Dezember 2022 ist es zuletzt zu einer bundesweiten Razzia gegen die Reichsbürger gekommen.

Das Potential der Reichsbürger steigt bundesweit weiter an, wie aus dem am 7. Juni 2022 veröffentlichten Verfassungsschutzbericht des Bundesinnenministeriums für das Jahr 2021 hervorgeht.

In Bezug auf antisemitisch motivierte Straftaten im Berichtszeitraum stellen die Verfasser für die Bundesrepublik Deutschland fest:

„Die Zahl der *rechtsextremistisch motivierten Straftaten mit antisemitischem Hintergrund stieg um 12,2 % auf insgesamt 2.439 Taten (2020: 2.173); die Zahl der Gewaltdelikte mit antisemitischem Hintergrund sank hingegen (- 27,1 %) auf insgesamt 35 Delikte (2020: 48). Darunter befindet sich jedoch insbesondere 1 vollendetes Tötungsdelikt mit 4 Todesopfern“.*

Hinzu kommen 6 „als linksextremistisch motiviert“ eingestufte Straftaten (2020: 10). Der Verfassungsschutzbericht bestätigt den Befund in Bezug auf antisemitische Narrative, die im Kontext der Pandemie als Spielart des „Modernen Antisemitismus“ aufgetaucht sind:

„Antisemitismus und antisemitische Narrative wurden durch die Coronapandemie verstärkt. Insbesondere über soziale Medien werden antisemitisch konnotierte Verschwörungstheorien auch über die Grenzen des rechtsextremistischen Spektrums hinaus verbreitet“.

Symbolbild Stolperstein mit Trauerkränzen

Nationale Strategie gegen Antisemitismus und für jüdisches Leben (NASAS)

In Reaktion auf die bleibende Herausforderung des Antisemitismus hat die Bundesregierung am 30. November 2022 eine „Nationale Strategie gegen Antisemitismus und für jüdisches Leben“ (NASAS) vorgelegt. Erarbeitet wurde sie unter Federführung des Beauftragten der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus, Dr. Felix Klein. NASAS begreift die Bekämpfung von Antisemitismus als „Querschnittsaufgabe in einem ganzheitlichen Ansatz“.

Als eines der NASAS-Kernziele formulieren die Autoren:

„Die Existenz und Vielfalt jüdischer Gegenwart ist großen Teilen der nicht jüdischen Bevölkerung nur wenig bekannt. Das führt dazu, dass antisemitische Vorstellungen und Ressentiments unkritisch übernommen und leichter reproduziert werden. Die Sichtbarmachung und Stärkung jüdischer Lebensrealitäten kann deshalb auch zur Vorbeugung von Antisemitismus beitragen, wenn sie mit den betroffenen Gemeinschaften und Personen abgestimmt ist“.

Jüdische Existenz und jüdische Realität sichtbar zu machen wird als Kernelement von Antisemitismusprävention begriffen. Sie bindet staatliche und zivilgesellschaftliche Akteure, unabhängig von der jeweiligen Ebene. Auf der Bezirksebene gehört dazu maßgebend die Schaffung von Geschichtsbewusstsein und die Pflege von Erinnerungskultur. Das Kulturamt Steglitz-Zehlendorf ist in diesem Bereich gut aufgestellt, etwa bei Entwicklung und Konzeption regionalhistorischer Informations- und Gedenkstelen.

Ausblick: Wachsamkeit ist gefordert

Zurück zu RIAS: Bei den für das Jahr 2021 dokumentierten Zahlen der Dokumentationsstelle steht Steglitz-Zehlendorf im Vergleich zu anderen Bezirken relativ gut da. Dennoch gilt es wachsam zu bleiben und die Menschen zu ermuntern, antisemitisch motivierte Fälle zu melden: entweder an RIAS selbst, oder auch an den bezirklichen Beauftragten für Antisemitismusprävention.

Das RIAS-Meldeportal finden Sie hier.

Jeder einzelne Vorfall ist einer zu viel, egal ob es sich um digitale Hetze in den Sozialen Medien, oder um tatsächliche – „analoge“ – Handgreiflichkeiten und körperliche Übergriffe handelt. Das Dunkelfeld antisemitischer Vorfälle wird auf rund 80 Prozent geschätzt. Entscheidend ist, das Vertrauen Betroffener in die staatlichen Strafverfolgungsbehörden weiter zu fördern und die Dunkelziffer möglichst gering zu halten.

Im Laufe des Jahres 2023 legt die Recherche- und Informationsstelle RIAS auch eine Auflistung und Bewertung antisemitisch motivierter Vorfälle des vergangenen Jahres 2022 vor.