LoGo! Europe: Melanie Brüggenkamp berichtet aus Solna und Stockholm

_Im Jugendamt von Charlottenburg-Wilmersdorf ist Melanie Brüggenkamp im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe tätig. Im März 2023 hospitiert sie für vier Wochen in der Metropolregion Stockholm. Hier ihr Bericht:_

Seit 2020 arbeite ich in der Region 1 im Regionalen Sozialpädagogischen Dienst (RSD) im Jugendamt. Zu meinen Aufgaben gehören primär die Beratung von Familien mit Kindern im Alter von 0 bis 13 Jahren, die Bedarfsfeststellung für mögliche Hilfen, das Agieren in familiengerichtlichen Verfahren, aber auch die Arbeit im Kinderschutz. Ich arbeite mit Familien im Leistungsbereich (auf freiwilliger Basis) und im Gefährdungsbereich (Kontrollbereich), um die Entwicklung des Kindes positiv zu unterstützen. Mitarbeitende des Jugendamtes verfügen im Rahmen des staatlichen Wächteramtes über die Möglichkeit, Kinder in Obhut zu nehmen. Eine Arbeit im multiprofessionellen Team ist daher essentiell.

Das LoGo!-Europe-Programm verschafft mir die Möglichkeit, vier Wochen im März 2023 bei meinen Kollegen in Schweden hospitieren zu können. Ich habe das Glück, mir zwei schwedische Städte anschauen zu dürfen und vor Ort die Arbeit der Kinder- und Jugendhilfe begleiten zu können. Die ersten zwei Wochen verbringe ich in Solna und wechsele dann nach Stockholm.

Erste Woche

An meinem ersten Tag gab es eine kleine Willkommensrunde mit Susanne und Monika, welche das gesamte Programm für mich auf die Beine gestellt hat. Zu meiner Überraschung befand sich das Rathaus von Solna in einem Einkaufszentrum, welches ich ohne Wegbeschreibung dort nicht lokalisiert hätte. Da ich vor meinem ersten Tag etwas aufgeregt und 15 Minuten zu früh war, schlenderte ich durch das Einkaufszentrum und erkannte die eigentlich optimale Lage des Rathauses. Keiner wird komisch angeguckt, wenn er auf den Weg zum “Einkaufszentrum” ist und sozialraumorientiert ist es definitiv. Ich empfand die Hürde als sehr gering, in den Eingangsbereich einzutreten. Monika und Susanne warteten bereits auf mich und führten mich dann zu einem kleinen Konferenzraum. Beide haben eine kleine Präsentation über Solna vorbereitet und mit ein paar Daten und Fakten hantiert.

In Solna leben ca. 85.000 Einwohner, im Vergleich zu Charlottenburg-Wilmersdorf mit ca. 334.000 ein großer Unterschied. Ein Fakt, welchen ich bis heute noch nicht verarbeiten konnte ist, dass nur 130 Haushalte staatliche Unterstützung erhalten. Ich habe mehrmals nachgefragt, da meine Vorstellungskraft hier ausgesetzt hat, hier wird jegliche Art von Unterstützung gemeint. Die Arbeitslosenrate in Solna ist ebenfalls sehr niedrig, leider hab ich weiterhin nur die 130 Haushalte im Kopf gehabt, weshalb an dieser Stelle die Zahl fehlt. Mich hat natürlich auch sehr interessiert, wie die Mitarbeiter die Lage des Rathauses in einem Einkaufszentrum finden, woraufhin mir erklärt wurde, dass das Einkaufszentrum einen Anbau darstellt und das eigentliche Rathaus bereits viele Jahre zuvor ein freistehendes Gebäude darstellte. Beide erklärten, dass sie der Trubel nicht stören würde und viele Klienten auch in ihren Wartezeiten sich so die Zeit vertreiben konnten. Nach der kurzen Vorstellungsrunde und einen Einblick in meine Interessen und Wünsche zu der Hospitation ging es in einen Royal Garden zum Mittagessen.

  • Einkaufszentrum Solna

    Einkaufszentrum Solna

  • Eingang zum Einkaufszentrum und Rathaus

    Eingang zum Einkaufszentrum und Rathaus

Paula hat mich aus dem Rathaus abgeholt und ist mit mir zum “Ulriksdala Trädgardscafé” gefahren. Das Café liegt in einem royalen Park und ist ein beliebtes Ausflugsziel für Einheimische und Touristen. Das vegetarische Mittagessen haben wir dann inmitten von tropischen Pflanzen und Blumen verbracht.

Abschließend sind wir zu einem Familienzentrum gefahren, welches das Projekt namens “En plats – Ett folk” vorgestellt hat. Zu dem Zeitpunkt hat ebenfalls eine Schulklasse das Zentrum besucht, sodass ich die Mitarbeitenden auch in Aktion erlebt habe. Bei deren Projekt handelt es sich um ein Kunstprojekt. Sie wollen die Kinder zur nachhaltigen Lebensweise ermutigen und ihnen gleichzeitig Raum zur Reflektion geben. Ihre Sichtweise einer gesunden und schönen Welt sollen sie dann künstlerisch darstellen. Gemeinsam mit den Mitarbeitenden haben wir uns im Anschluss die Kunstwerke der Schüler aus dem letzten Jahr angeschaut. Sie hatten die Möglichkeit, eine Wand in einem Dachstuhl eines Supermarktes zu bemalen. Dieser Raum kann für Gruppen und Kurse jeglicher Art gemietet werden. Der Inhaber sah das Projekt als wichtigen Schritt für die Möglichkeit der Konfrontation mit Kindern an und stellte seine Wände zur Verfügung. Er erklärte uns, dass viele Menschen, die den Raum buchen, nach der Geschichte der bemalten Wände fragen, wodurch die “Nachricht” weitergetragen werden kann. Die Betreiber des Projektes gaben mir zudem die Rückmeldung, dass sie Kooperationspartner in Berlin hätten und über meinen Besuch sehr erfreut sind. Der erste Tag ging sehr schnell zu Ende und meine Freude auf die nächsten Tage stieg.

Nach dem ersten Tag wurde mir bewusst, dass ich sehr viele Menschen treffen werde und immer nur sehr kurz mit ihnen verweilen werde, weshalb ich an dieser Stelle die Vorstellung der Begleit- und Kooperationspersonen auslassen werde. Vorweg, nach einer Woche waren es schon mehr als 80 Personen.

Social Services Office

Die nächsten beiden Tage habe ich im “Social Services Office” verbracht, welches das Äquivalent zu dem deutschen RSD darstellt. Ich wurde herzlich von Emma und Eva begrüßt, welche mich in Empfang genommen haben. Die Sozialarbeitenden sitzen nicht im Rathaus, sondern in einem Bürokomplex im Solna Business Park – einer Außenstelle – nur ein paar Tramhaltestellen entfernt. Ich habe eine kleine Führung durch das Dienstgebäude bekommen und war über die moderne Anlage sehr überrascht. Der Empfangsbereich der Klienten ist von dem Mitarbeiterbereich durch Sicherheitstüren getrennt, sodass niemand Zutritt zu den Büros haben kann. Jeder Mitarbeiter besitzt eine Schlüsselkarte, mit der die Türen und spezielle Schränke aufgemacht werden können. Zudem gibt es ein tragbares Alarmsystem, welches mit Hilfe von Knöpfen bedient werden kann, sollte ein Mitarbeiter während einer Beratung in Not geraten. Die Beratungsräume sind zudem mit Smartboards und Tafeln ausgestattet. Insgesamt können die Mitarbeitenden auf über 20 Räume zurückgreifen. Der Eingangsbereich für die Klienten ist mit diversen Sitzmöglichkeiten (Couch, Stühle, Hocker, Sessel) und Computerplätzen ausgestattet. Es gibt ebenfalls einen Empfangsbereich, welcher zu den Öffnungszeiten bedient wird.

Die meiste Zeit habe ich mich an Emma und Eva gehalten, da dieser Bürokomplex einem Labyrinth glich. Die meisten Mitarbeitenden besitzen ein Einzelbüro, wenige teilten sich ein Büro. Die unterschiedlichen Ecken des Gebäudes spiegelten die verschiedenen Abteilungen wider. In Schweden wird der Aufgabenbereich des RSD enorm aufgegliedert. Es gibt insgesamt acht unterschiedliche Abteilungen, welche sich mit der Kinder- und Jugendhilfe beschäftigen. Zum einen das Eingangsmanagement, dann die “Assessment”-Gruppe 1 für die 0- bis 12-Jährigen und die Gruppe 2 für die 13- bis 20-Jährigen, die Abteilung für familiengerichtliche Verfahren, die Netzwerkarbeit, die Abteilungen für die Hilfe zur Erziehung, die Einrichtungsplatzsuche für Unterbringungen in Pflegefamilien und in Einrichtungen sowie die Abteilung für häusliche Gewalt. Alle Abteilungen sitzen in einem Gebäude und sind sehr gut miteinander vernetzt. Ich muss sagen, an diesem Punkt kam ich aus dem Staunen nicht mehr raus, da mein Aufgabengebiet alle diese Bereiche umfasst und meine Fallanzahl das Fünffache ist. Am Dienstag und Mittwoch habe ich dann alle acht Abteilungen durchlaufen dürfen und das spezifische Aufgabengebiet erkunden dürfen. Die einzelnen Anforderungsbereiche ähneln meinen sehr stark, jedoch ist mir vor Augen geführt worden, dass ich deutlich weniger am Klienten arbeite, als ich es für nötig halte. Alle meine schwedischen Kollegen haben von intensiver Elternarbeit erzählt und wie sie die wöchentlichen Gesprächstermine mit den Familien gestalten, um so an umfängliche Informationen zu gelangen. Mir wurde bereits jetzt verdeutlicht, wie ähnlich und doch unterschiedlich unsere Arbeit in der Umsetzung aussieht. Es hat definitiv Vor- und Nachteile, in unterschiedliche Abteilungen abgesteckt zu werden, jedoch empfand ich das Miteinander und die Zusammenarbeit als äußerst durchdacht.

Besonders intensiv wird die “Fika”-Zeit zelebriert. Es wird als eine Art Kaffee- und Gebäckzeit angesehen, welche eine zusätzliche Pause für die Mitarbeitenden darstellt. Meistens startet diese um 14:30 Uhr und geht bis 15 Uhr. Mein Highlight des Tages, da Schweden wirklich die besten Zimtschnecken backen und kreieren kann.

Am Donnerstagmorgen hab ich ein “Youth Welfare Office” besucht, welches sich mit der psychischen, sexuellen und körperlichen Gesundheit von Jugendlichen befasst. Dieses Konzept ist einzigartig für das Land Schweden. Bereits Dänemark und Russland erkennen die Wichtigkeit und versuchen mit Hilfe der schwedischen Kollegen die Umsetzung dieser Zentren auch in ihren Ländern. Vor Ort arbeiten Krankenschwestern und Berater, welche sich auf sexuelle und damit einhergehende psychische Barrieren von Jugendlichen spezialisiert haben. Das Angebot ist niederschwellig und kostenfrei. Jugendliche ab 12 Jahren erhalten Beratung und können sich körperlich untersuchen lassen. Besonders an diesen Zentren ist, dass Mädchen gynäkologisch untersucht und ihnen verschiedene Verhütungsmethoden verschrieben oder eingesetzt werden können. Ebenfalls kann vor Ort eine Abtreibung bis zur 18. Schwangerschaftswoche durchgeführt werden. Die Berater und Krankenschwestern unterliegen der Schweigepflicht und müssen keine Informationen an die Eltern herausgeben. Dieses Angebot richtet sich vorrangig an Jugendliche. Insgesamt 200 Zentren existieren in Schweden und gehören einer Organisation an, welche vom Staat finanziert wird. Ich war von dem gesamten Konzept begeistert und habe erneut gemerkt, wie stark der Fokus auf Familien und Kinder gerichtet wird. Bestärkt wurde ich in meinem Gedanken im weiteren Verlauf des Tages und auch am Freitag. Ich habe eine weiterführende Schule (Gymnasium) und eine Grundschule besucht. Zum Inventar einer jeden Schule gehören die Schulsozialarbeiter, Schulpsychologen, Sonderpädagogen und Schulkrankenschwestern. Zudem gibt es für jeden Schüler und jede Schülerin einen individuell erarbeiteten Leistungsplan, welche die schulische Laufbahn ab der weiterführenden Schule (ab der 9. Klasse) spezialisieren soll. Wow! Das schwedische System legt viel Wert auf die Begleitung und Betreuung von Kindern und Jugendlichen.

Mein letzter Programmpunkt am Freitag konzentrierte sich auf die Sommerjobs von Jugendlichen. Jedes Jahr haben 16- bis 17-Jährige die Möglichkeit, für zwei Wochen in unterschiedliche Berufe schnuppern zu können. Ihnen soll so ein Berufseinstieg erleichtert werden. Diverse Unternehmen bewerben sich bei der Stadt Solna, um einen Jugendlichen aufnehmen zu dürfen. Im letzten Jahr haben sich insgesamt 520 Jugendliche beworben und 406 davon haben einen Job erhalten. Das Projekt soll ebenfalls die einkommensschwächeren Haushalte unterstützen sowie Familien, welche jugendsamterfahren sind. Aufgrund der hohen Kriminalität wird versucht, den Jugendlichen neue Perspektiven aufzuzeigen und ihnen alternative Möglichkeiten zu bieten. Das Sommerjob-Projekt wird bereits seit 14 Jahren erfolgreich durchgeführt und von den Familien sowie Jugendlichen sehr geschätzt.

Meine erste Woche in Solna ging so schnell zu Ende, wie sie angefangen hat. Ich bin ganz begeistert von den vielen unterschiedlichen Projekten und Ausführungen der Kinder- und Jugendhilfe in Solna. Viele Projekte arbeiten präventiv und niederschwellig mit den Kindern und Jugendlichen, was mir ganz besonders gefällt. Ich bin mir ziemlich sicher, ein paar gute Ideen und Impulse bereits aus der ersten Woche mitnehmen zu können. Jetzt freue ich mich auf das Wochenende und eine Tour durch die Parks von Stockholm.

  • Stockholm 1
  • Stockholm 2
  • Stockholm 3
  • Stockholm 4

Zweite Woche

Die zweite Woche startete mit einem kleinen Schneesturm und ein paar unsicheren Versuchen, der Glätte auszuweichen.

Am Montag ging es für mich in einen Jugendclub, welcher sich auf die Altersgruppe von 16 bis 22 Jahren spezialisiert hat. Das Besondere an diesem Jugendclub ist die gezielte Ausrichtung. Die Mitarbeitenden versuchen die Jugendlichen zu unterstützen, einen Fuß in die Arbeitswelt zu bekommen. In Schweden ist es schwer, einen Job zu finden, wenn man noch nicht volljährig ist und vor allem, wenn man die Schule abgebrochen hat. Aus diesem Grund wird auch gezielt mit diesen Jugendlichen gearbeitet. Jeden Montag können sie in den Jugendclub “Jobbfabriken” kommen und sich vorstellen. Es handelt sich um ein freiwilliges Angebot, sodass niemand gezwungen wird, wiederzukommen oder da zu bleiben. Gemeinsam mit einem Sozialarbeiter wird ein Erstgespräch durchgeführt und das Anliegen des Jugendlichen festgehalten. Im weiteren Verlauf wird ein gemeinsamer Fahrplan erarbeitet, wie die nächsten Schritte für die Jugendlichen oder jungen Erwachsenen aussehen könnten. Da es in Solna keine Streetworker gibt, bestehen die meisten Arbeitsbündnisse aus “Komm-Strukturen”, welche jedoch ausschließlich auf freiwilliger Basis angeboten werden. Leider berichten die Mitarbeitenden häufig von ambivalenter Zusammenarbeit mit den Jugendlichen. Zum Teil haben sie den Kontakt zu den Sozialarbeitern für Monate unterbunden und starten dann wieder bei null.

Der Jugendclub bietet jedoch auch Programm an. So können die Heranwachsenden dort zusammen kochen, tanzen, Musik aufnehmen oder spielen und ihre Freizeit in einem geschützten Rahmen verbringen. Der Jugendclub befindet sich inmitten der “Blue Hills”, einer blauen Hochhaussiedlung bestehend aus sechs Gebäuden, welche das dortige “Problemviertel” abstecken. Mir wurde erzählt, dass viele Gangmitglieder in den Häusern leben und es zu einer vermehrten organisierten Kriminalität in diesem Gebiet kommt. Häufig arbeiten die Sozialarbeiter mit der “Jugendpolizei” zusammen, welche sich auf die organisierte Kriminalität unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen spezialisiert hat. Gemeinsam wollen sie so einen Austritt erleichtern. Für mich war es schwer zu greifen, dass Schweden ein großes Problem mit der organisierten Kriminalität hat. Schweden steht für mich als ein ruhiges, naturbelassenes und ausgeglichenes Land, aber seit ein paar Jahren steigen die Zahlen für organisierte Kriminalität an. Ebenfalls werden auch immer mehr Kinder in die Machenschaften involviert. In allen Bereichen wird nach einem guten und sicheren Umgang mit dieser Problematik gearbeitet. So erklärten sie mir ebenfalls, dass es erst gestern Nacht wieder zu einer Schießerei gekommen sei. Zwei rivalisierende Gangs seien aufeinandergetroffen. Da war der Punkt angekommen, an dem ich doch kurz schlucken musste. Das höre ich auch nicht alle Tage, dass ich quasi mitten im Geschehen stehe. Mein Weg zurück zur Metro wurde dann in Rekordzeit gestoppt.

  • Blue Hills

    Blue Hills

  • Blue Hills

    Blue Hills

Am Dienstag war ich erneut im “Social Services Office”, jedoch diesmal in der “Erwachsenenabteilung”. In Deutschland endet die Hilfe mit spätestens 25 Jahren, hier in Solna endet sie jedoch nie. Die Erwachsenenabteilung umfasst die Altersstufen 20 bis 65. Aufgebaut ist die Abteilung wie die der Kinder und Jugendlichen. Spezialisiert sind die Sozialarbeiter jedoch auf die Bereiche der psychischen Erkrankung oder auch einfach des “mentalen Unwohlseins”, denn man benötigt hier keine Diagnose, um therapeutisch oder psychologisch behandelt zu werden. Eine weitere Spezialisierung ist der Umgang mit Drogen- und Alkoholabhängigkeit und zudem auch die Leistung der Hilfestellung, wenn junge Erwachsene die organisierte Kriminalität verlassen wollen. Enge Kooperationen bestehen deswegen zu der Polizei, aber auch dem Gefängnis.

Sollten die Erwachsenen Kinder haben, dann wird ebenfalls mit der entsprechenden Abteilung, die der Kinder oder die der Jugendlichen, zusammengearbeitet. Da alle zusammen in einem Gebäude sitzen, erleichtert es die Zusammenarbeit sehr. Auch in der Erwachsenenabteilung gibt es eine “treatment-Gruppe”, welche ich ebenfalls kennenlernen durfte. Auch hier beruht die Zusammenarbeit auf Freiwilligkeit. Ziel ist es, einen Plan für das Erreichen der Ziele zu erarbeiten und die Person zu vernetzen. So können die Sozialarbeiter auch mit Kliniken, speziellen Therapeuten oder Beratern zusammenarbeiten.

Schweden ist ein sehr freiheitsliebendes Land. Es wird versucht, den Gedanken der Eigenbestimmung durch alle Lebensbereiche zu ziehen. So gibt es zum Beispiel auch nur sehr wenige Gesetze, die einen Menschen unter Zwang und Kontrolle stellen. Ein Gesetz ist zum Beispiel das “LWU”, welches einen Menschen gegen seinen Willen in eine Entzugsklinik einweisen lassen kann, wenn sich dieser dem Tode nah befindet. Entschieden wird dies durch das Gericht. Deutlich vertretener sind Gruppen oder Maßnahmen, die auf freiwilliger Basis stattfinden. So gibt es diverse Sportgruppen, welche mit ihren unterschiedlichen Ausrichtungen verschiedene Felder abdecken können.

Für mich zeigte sich auch hier wieder, dass man nicht immer mit Zwang und Kontrolle arbeiten muss. Ich bekam viel Rückmeldung, dass die Sozialarbeiter lediglich den Rahmen vorgeben und die Menschen eigenverantwortlich in diesem Rahmen arbeiten müssen. Dies stellt einen anderen Gedanken der Partizipation für mich dar und ist eine wichtige Erkenntnis bereits jetzt.

Am Mittwoch habe ich zwei verschiedene Schulen kennenlernen dürfen, welche beide als “Special Need School” aufgeführt werden. Bei der einen handelt es sich um eine Grundschule und bei der anderen um eine weiterführende Schule. Die Schüler haben entweder eine geistige oder eine körperliche Beeinträchtigung, um auf diese Schulen aufgenommen zu werden. Ich wurde herzlich von der Schulleiterin empfangen und habe eine kleine Führung durch die Räumlichkeiten bekommen. Direkt zu Beginn sind wir in eine Klasse gegangen, welche zusammen Pizza gebacken hat. Ein etwa 14-jähriger Schüler kam auf mich zu und hat mich freudig angelächelt. Die Schulleiterin hat mich vorgestellt und erklärt, dass ich aus Deutschland komme. Der Junge, Hugo, fing an, mit mir Deutsch zu sprechen und sich sehr über meinen Besuch zu freuen. Ich fragte ihn, woher er denn so gut Deutsch sprechen könne und er erklärte mir, dass er in seiner Freizeit gerne neue Sprachen lernt. Hugo hat uns noch ein Stück begleitet und ist dann in seinen nächsten Unterricht verschwunden.

Bezugnehmend auf mein Fachgebiet erklärte mir die Schulleiterin, dass eine gute und enge Kooperation mit den Social Services bestehe. Da sich die Eltern die Schulen für ihre Kinder aussuchen können und es keine Begrenzung zu anderen Städten gibt, sind alle Schüler auch freiwillig auf dieser Schule. Dies lässt sich an der guten Zusammenarbeit zwischen Eltern und Schule erkennen, erzählte mir die Schulleiterin.

Mein Donnerstag startete in der Mall of Scandinavia, eines der größten Shoppingzentren europaweit. Dort fand die jährliche Jobmesse für die Schüler aus den Oberstufen statt. “Solna Stadt” hatte ebenfalls einen kleinen Stand. Sie wollten nicht nur Schüler für mögliche Sommerjobs gewinnen, sondern auch Unternehmen, welche diese aufnehmen können. Es war ein bunt gemischtes Publikum, welches unseren Stand besuchte.

  • Mall of Scandinavia

    Mall of Scandinavia

  • Stand in der Mall of Scandinavia mit Markus und Paula

    Stand in der Mall of Scandinavia mit Markus und Paula

Terrasse des Överjärva gard

Im Anschluss habe ich ein Projekt besucht, welches ein wenig außerhalb der Stadt gelegen war, mitten in der Natur. Das Gebiet nennt sich “Överjärva gard” und beherbergt eine “Natur-Skola” und verschiedene Museen und Gehege für Schafe und Hühner. Das Projekt soll ein Anlaufpunkt für Familien und Kinder sein, welche sich mit der Natur verbunden fühlen oder gerne mehr über die Natur wissen möchten. Es gibt im Sommer viele Programmpunkte für die Kinder und viel Wissenswertes zu lernen. Ich habe eine Führung über das Gelände bekommen und wir haben einen kurzen Blick in das Museum geworfen. Es fühlte sich für mich wie ein kleiner Urlaub von der nicht stillstehenden Stadt an. Der Tag endete mit einer “Fika” auf der Terrasse, mitten in der Sonne. Natürlich gab es auch hier viele Fragen über meine Arbeit und meine Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit Projekten in Berlin. Aber mit einem Kaffee und Kuchen lässt sich alles beantworten.

Sonnenuntergang in Stockholm

An meinem letzten Tag in Solna wurde ich von Monika im Rathaus begrüßt und wir haben die letzten zwei Wochen reflektiert. Ich bin so dankbar über die vielen verschiedenen Abteilungen, die ich kennenlernen durfte, welche mit den Kindern und Familien arbeiten. Ich empfand es als äußerst wichtig, einen gesamten Überblick zu erhalten, weil mir erst dadurch die Verzahnung und Vernetzung der einzelnen Bereiche deutlich wurde. Solna ist sehr gut organisiert und versucht in jeder Lebenslage ein Auffangnetz für Menschen zu haben, die Unterstützung benötigen. Ein wichtiger Lernfaktor für mich war die enge Kooperation mit den Klienten. Kein Sozialarbeiter hatte sich als koordinierend oder “hinter dem PC sitzend” beschrieben, was mir deutlich vor Augen geführt hat, dass ich mehr zu meiner eigentlichen Profession zurück kommen muss. Das System in Berlin lässt die gezielte Arbeit am Klienten wahrscheinlich nicht zu, aber ich versuche, meinen Fokus deutlich mehr auf die Partizipation und Selbstbestimmung der Klienten zu richten. Natürlich solange wir uns nicht im Kinderschutz befinden. Bereits aus den ersten zwei Wochen konnte ich eine Menge für mich persönlich und meine Arbeit mitnehmen. Mir wurde mein eigener Gestaltungsspielraum mehr vor Augen geführt und ich bin an so viel Erfahrung reicher. Leider hieß es nach einer zweistündigen Präsentation meinerseits schon Auf Wiedersehen. Die ersten zwei Wochen gingen sehr schnell um und ich kann den Reichtum meiner neuen Erkenntnisse noch nicht ganz in Worte fassen. Ich bin dankbar für diese Möglichkeit, meinen Horizont zu erweitern, aber auch meine eigene Arbeit aus einer anderen Perspektive sehen zu können. Nun bin ich sehr gespannt auf meine nächsten zwei Wochen in Stockholm, um einen Vergleich zwischen den drei Städten herstellen zu können.

An dieser Stelle möchte ich für die wunderschönen Städte Stockholm und Solna schwärmen. Sie sind definitiv einen Besuch wert und zaubern mir ein Lächeln aufs Gesicht, sobald ich durch die Straßen laufe. Es gibt hier übrigens kaum bis keine Graffitis, da die Städte auf “Sauberkeit” großen Wert legen. Aber immer einen Helm in der U-Bahn tragen, die Fahrten können sehr schnell in Gefahrenbremsungen enden …

Dritte Woche

Meine erste Woche in Stockholm startete mit einem herzlichen Willkommen von Susanna und ihrem Team. Susanna arbeitet in der “Sozialverwaltung” und hat alle 13 Bezirke der Jugendämter unter sich. Ihre Aufgabe ist es, gleiche Chancen in den einzelnen Bezirken zu schaffen und mit ihrem Team zu evaluieren, welche Schwerpunkte in welchen Bezirken herrschen. Damit ich einen guten Überblick über das Sozial- sowie Bildungssystem in Stockholm bekomme, durfte ich an einem Vortrag teilnehmen, welcher für einen internationalen Austausch diente.

Informationen, die ich erhalten habe, waren unter anderem diese: 2021 gingen 35.531 Meldungen in den Bezirken von Stockholm ein, wovon 20.918 Fälle entstanden sind. Laut Statistik haben am meisten Polizisten und Mitarbeiter aus dem Gesundheitssektor gemeldet. Würde ich den Vergleich zu den Quellen der Meldungen aus meinem Team ziehen, dann würde ich ebenfalls die Polizei aufzählen, aber auch Mitarbeiter aus den Schulen. Das Jahresbudget in Stockholm für 2023 liegt bei 70,8 Billionen SEK, wovon 10,5 Prozent in den “Social Service” gehen und 7,5 Prozent in die Arbeit mit Menschen mit Behinderung.

In Stockholm können sich die Eltern den Schulplatz ihrer Kinder selber aussuchen. Sowohl für die Grundschule als auch für die weiterführende Schule. Dies bedeutet, dass Kinder nicht in der ihnen nächstgelegenen Schule angemeldet werden müssen. Viele Eltern favorisieren einzelne Schulen, sodass es zu einem Ungleichgewicht der Verteilungen kommt. Einzelne Schulen bilden sich zu Eliteschulen aus und andere können kaum noch bestehen. Problematisch zeigt sich hier die große Kluft zwischen den leistungsstarken und den leistungsschwachen Schulen. Das System spaltet die Verhältnisse. Benannt wurde zudem das Problem, dass es sehr viele privatisierte Schulen in Stockholm gibt, welche den Fokus auf das Geld legen. So wurde beispielsweise genannt, dass das Lehrpersonal nicht immer ein Studium genossen hat oder adäquat auf Kinder und Jugendliche eingehen kann. Es wird mit gezielten Angeboten gelockt, um die Eltern zu überzeugen, die Schulen wären die “richtigen” für ihre Kinder. Diese kritische Beleuchtung fand ich besonders spannend, da sie uns sehr zum Diskutieren angeregt hat und wir so beide Systeme (Deutschland/Schweden) gegenüberstellen konnten. Zudem muss vielleicht noch gesagt werden, dass der Staat für jedes Schulkind ein Budget hat, welches automatisch an die Schule “überwiesen” wird, in welcher sich das Kind angemeldet hat. Demnach findet auch eine Ungleichverteilung der Gelder statt. Die bereits schwächeren Schulen befinden sich so in einer Abwärtsspirale und der Druck auf die leistungsstarken Schulen wächst.

Am Dienstag durfte ich die Organisation “Framtid” kennenlernen. Ich befinde mich jetzt in der dritten Woche und ich glaube, endlich habe ich das System in Schweden verstanden. In Deutschland gibt es das Jugendamt, und die freien Träger sind dem untergeordnet, während es in Schweden die sogenannte “Sozialverwaltung” gibt, wo das “Social Services Office” ein Teil von ist. Die Organisation “Framtid” ist ebenfalls Teil der “Sozialverwaltung” und wird somit von der Stadt finanziert. “Framtid” bedeutet in der deutschen Sprache “Zukunft” und soll nicht nur symbolisch für die Zukunft von Stockholm stehen, denn dort angebunden sind viele verschiedene Professionen, welche sich mit dem Wohl der Kinder und Jugendlichen auseinandersetzen.

Zu Beginn habe ich das Team “Mini-Maria” kennenlernen dürfen. Die Sozialarbeiter arbeiten mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen, welche eine Alkohol- oder Drogenabhängigkeit haben oder sich präventiv davor schützen wollen. Auftraggeber ist sowohl das “Social Services Office” als auch die Eltern und jungen Erwachsenen selber. Das Team besteht zudem auch aus Ärzten, Psychologen und Krankenschwestern. Ebenfalls unter der Organisation arbeitet die Profession der BSFT, welche eine spezielle Form der Familientherapie darstellt. Das Besondere ist hier, dass jede Sitzung mit der Kamera aufgenommen wird, um sie dann im Nachhinein analysieren oder mit dem Team/Supervision besprechen zu können.

Besonders interessant fand ich den Aspekt, dass es in Schweden kein Recht auf “Privatsphäre” für Kinder oder Jugendliche gibt. Dies inkludiert zudem, dass sie kein Recht auf Schweigepflicht oder Datenschutz ihren Eltern gegenüber haben. Therapeuten, Ärzte, Berater, Lehrer usw. müssen den Eltern Auskunft über die Inhalte der Gespräche mit ihren Kindern geben. Dieser Aspekt hat mich ganz besonders geschockt und ich glaube, ich konnte fünf Minuten nur sprachlos dasitzen. Keinem Elternteil darf die Auskunft verweigert werden, außer vielleicht im akuten Kinderschutz. Aber selbst Therapeuten müssen die Kindeseltern über die sensiblen Inhalte ihrer Sitzungen unterrichten, wenn sie dies wünschen. Mir wurde erzählt, dass es nur sehr wenige Ausnahmen gibt, anonym bleiben zu können. Ich glaube, meine schwedischen Kollegen haben meine Sprachlosigkeit mitbekommen.

Im Anschluss an unsere ausgiebige Diskussion bin ich mit den Streetworkern auf “Patrouille” gegangen. Es gibt tatsächlich einen aufsuchenden Dienst, welcher in den Straßen der Stadt unterwegs ist und schaut, ob Familien oder Kinder in Not sind. Dabei liegt der Fokus auf den Kindern und Jugendlichen, welche sich möglicherweise stundenlang am selben Ort aufhalten oder kindeswohlgefährdende Momente, wie alkoholisierte Kindeseltern im Umgang mit ihren Kindern. Die Streetworker arbeiten 24/7 und wechseln sich in Schichten ab. Es gibt eine sehr enge Kooperation mit der Polizei und dem “Social Services Office”. Sie selber beschreiben sich als einen verlängerten Arm des “Social Services Office” und haben Augen und Ohren immer offen. Zum Teil vermitteln sie Familien, welche im System noch nicht bekannt waren und unterstützen bei ersten akuten Maßnahmen. Die Sozialarbeiter tragen zudem eine Uniform und zeigen sich auf den Straßen erkenntlich. Nicht selten kommt es vor, dass sie von Kindern, Jugendlichen, Männern oder Frauen angesprochen werden. Ich persönlich finde diese Arbeit wirklich wichtig und auch bedeutend in ihrer Außenwirkung. Ich hatte somit das Gefühl, dass die Kinder- und Jugendhilfe nahbar und auch sichtbar für die Gesellschaft ist und dass in Stockholm hingeschaut wird. Mich hat dieser Bereich buchstäblich aus den Socken gehauen, und ich fühle mich umso mehr in meiner Vorannahme bezüglich des familienorientierten Schwedens bestätigt.

Am Mittwoch habe ich das Konzept des “Barnahuses” entdecken dürfen. Vor Ort arbeiten viele verschiedene Professionen zusammen, unter anderem die Polizisten, Hebammen, Psychologen, Sozialarbeiter und Ärzte. Sollte das “Social Services Office” eine Meldung bezüglich einer Kindeswohlgefährdung bekommen und stuft diese als schwerwiegend ein, dann schicken sie ihre Einschätzung mit Meldungsinhalt an das “Barnahus”. Das Barnahus ist ebenfalls Teil der Stadtverwaltung und somit ein enger Kooperationspartner. Die Polizei erhält diese Meldung und setzt sich mit dem multiprofessionellen Team zusammen und berät sich bezüglich der nächsten Schritte. Zu Beginn gibt es ein Interview mit einem speziell ausgebildeten Polizisten und dem Kind/Jugendlichen. Die Räumlichkeiten sind vertont und das Interview wird aufgezeichnet. Nebenan, in einem separaten Raum, sitzen die anderen Teammitglieder und protokollieren das Interview und achten gegebenenfalls auf Besonderheiten. Ist aus dem Meldungsinhalt eine “Straftat der Erziehungsberechtigten” zu entnehmen, dann werden die Kinder diesbezüglich befragt. So kann der Hintergrund eine sexuelle oder körperliche Misshandlung sein, aber auch Vernachlässigung, Zwang zur organisierten Kriminalität oder Ähnliches. Nach dem Interview gibt es meistens noch eine medizinische Untersuchung, um mögliche Gutachten bezüglich Wunden, Frakturen, Blessuren oder Blutergüsse festhalten zu können. Die zuständige Sozialarbeiterin des “Social Services Office” ist ebenfalls bei dem Interview im Nebenraum anwesend und wird zu den Beratungssequenzen im Team eingespannt, jedoch gibt es keinen abschließenden Bericht des Barnahuses an das “Social Services Office”, sondern es erfolgt eine Strafanzeige. Diese spezielle Einheit arbeitet nicht nach dem Auftrag des “Social Services Office”, sondern sie tätigen eigenständig Ermittlungen, und diese können zur eigenen Informationsgewinnung der zuständigen Sozialarbeiterin im “Social Services Office” mit verfolgt werden. Dieses Konzept kommt dem der deutschen Kinderschutzambulanz am nächsten, zeigt jedoch auch viele Unterschiede auf. Wir Mitarbeiter im Jugendamt sind nicht befugt, Anzeigen stellen zu können und arbeiten demnach auch nicht tiefgründig mit der Polizei zusammen. Dieses Beispiel der intensiven Zusammenarbeit eines multiprofessionellen Teams im Sinne des Kinderschutzes soll die Rechte der Kinder auf ein neues Niveau lenken. Viele Eltern misshandeln ihre Kinder und es kommt leider nie zu einer Strafanzeige. Die Eltern bleiben fast vollständig unbestraft von unserer Justiz. In Schweden werden die Rechte der Kinder, im Sinne der UN-Kinderrechtskonvention, nicht einfach übergangen, sondern versucht zu stärken.

Am Donnerstag habe ich eine weitere Abteilung der “Sozialverwaltung” anschauen dürfen. Ich war bei dem “Emergency Social Service” und habe in die Räumlichkeiten schnuppern dürfen. Das Besondere an der Abteilung ist, dass sie nicht auf ein bestimmtes Fachgebiet spezialisiert ist, sondern sich mit allen Notfällen in der Stadt auseinandersetzt. Bei Bränden (psychosoziale Beratung der Menschen), Terroranschlägen, Obdachlosigkeit, Krisen innerhalb der Familie, Prostitution oder geflüchteten Kindern/Jugendlichen/Erwachsenen helfen die Mitarbeitenden in Notsituationen für die erste Nacht oder über das Wochenende, bis die richtige Abteilung greift. Ebenfalls gibt es seit einiger Zeit das Pilot-Projekt “Islandsprojekt”, das die Zusammenarbeit zwischen Polizei und “Social Services Office” thematisiert. Sollte die Polizei die Meldung bekommen, dass ein Kind in eine Straftat verwickelt ist, sowohl aktiv als auch inaktiv (Gewalt), dann kontaktieren die Polizisten den “Emergency Social Service” und fragen einen Sozialarbeiter an, welcher die Polizei zu diesem Einsatz begleitet. So können die Sozialarbeiter bereits aus erster Hand die Informationen erhalten und vor Ort ggf. intervenieren. Ich glaube, von dieser Kooperation könnte auch ganz besonders Berlin profitieren, denn ich kann aus eigener Erfahrung sagen, dass wir als Sozialarbeiter häufig zu viele verbleibende Fragezeichen haben, nachdem wir Meldungen von der Polizei erhalten.

Abschließend durfte ich viele Projekte rund um die Pflegefamilien und Pflegekinder kennenlernen. Zum einen gibt es das “Skolfam”-Projekt, welches ebenfalls Teil der Sozialverwaltung ist und die Zusammenarbeit zwischen Schule, Sozialarbeiter, Kind und Pflegefamilie beschreibt. Sobald ein Kind (bis zur 9. Klasse) in eine Pflegefamilie vermittelt wird, greift dieses Projekt. Es hat somit auch einen präventiven Charakter. Gemeinsam schauen die Mitarbeitenden des “Skolfams” mit den Lehrern und der Pflegefamilie auf die individuellen schulischen Bedürfnisse des Kindes. Es wird ein Plan erarbeitet, wie die Schule und auch die Pflegefamilie das Kind adäquat unterstützen können. Hierbei soll es sich um ein niedrigschwelliges Angebot handeln, denn das “Social Service Office” ist nicht “Auftraggeber”. Es soll sehr viel positives Feedback eingegangen sein, und einige schulische Verbesserungen konnten ebenfalls verzeichnet werden. Mit “Skolfam” schaffen es ca. 80 Prozent der Kinder in Pflegefamilien, das Leistungsniveau in ihrer entsprechenden Klasse zu halten. Ohne “Skolfam” wird von ca. 50 Prozent der Kinder ausgegangen.

Eine weitere interessante Abteilung, welche den Namen “Stella” trägt, setzt sich mit den Kindeseltern auseinander, aus denen die Kinder in Obhut genommen wurden. Die Kindeseltern können die Mitarbeitenden kontaktieren und um eine Beratung bitten. Ziel ist es, sie in ihren Rechten sowie Anliegen zu stärken. Häufig verstehen Eltern die Gründe für eine Kindeswohlgefährdung mit anschließender Inobhutnahme nicht direkt und wollen/können sich emotional nicht mit dem zuständigen Sozialarbeiter auseinandersetzen. Dann greift das Team “Stella” und setzt sich mit den Eltern zusammen. Ebenfalls können sie die Kindeseltern bei Terminen begleiten oder auch Gerichtspost mit ihnen durchgehen. Die Mitarbeitenden arbeiten nicht unter dem “Social Services Office” und müssen demnach keine Berichte abgeben. Primär sollen sie die emotionalen Anliegen der Eltern auffangen und sie in ihrem positiven Weg bestärken. Diese emotionale Unterstützung empfinde ich als sehr wertvoll und auch wichtig für die Kindeseltern. Ich kenne aus meiner eigenen Praxis zu gut, dass Eltern zum Teil einfach nur nicht auf den Sozialarbeiter hören wollen, der die Inobhutnahme ausgesprochen hat, aber auf andere Kollegen aktiver eingehen und ihnen mehr Vertrauen schenken. Aber ein viel größerer Punkt ist auch, dass die fallführenden Sozialarbeiter entlastet werden! In meinen Augen ein großes Plus, was wir uns in Berlin abschauen sollten.

Vierte Woche

Außenstelle der Familientherapeuten

Meine letzte Woche begann mit der Besichtigung des “Social Services Office” in Skarpnäck sowie in Farsta, welches zwei benachbarte Stadtteile sind. Ähnlich wie in Solna wird auch hier das Aufgabengebiet in mehrere Abteilungen aufgeteilt. Es gibt die “Reception group”, welche die Meldungen und Neufälle annimmt und für maximal zwei Wochen bearbeitet, um sie dann in die “familiy group” zu vermitteln. Im Gegensatz zu Solna gibt es hier keine Gruppe, die extra mit dem Netzwerk arbeitet. Die zuständigen Sozialarbeiter treffen die Entscheidung, ob eine Arbeit mit der Familie notwendig ist oder nicht. Sollte eine Maßnahme eingeleitet werden, dann wird in diesem Zusammenhang häufig mit dem Netzwerk gearbeitet.

In Schweden gibt es die Ebene der Region, der Kommune und des Stadtteils. Das Besondere hierbei ist, dass nicht die Kommune für die Umsetzung der Kinder- und Jugendhilfe zuständig ist, sondern die Stadtteile einzeln für sich. Der Rahmen wird natürlich von der Kommune vorgegeben, jedoch liegt es an den Stadtteilen, wie sie den Rahmen ausfüllen wollen. Demnach können die “Social Services Offices” in den unterschiedlichen Stadtteilen auch divers aufgebaut sein. Eine Vernetzung ist demnach ganz besonders wichtig, damit die Familien auch überall in Stockholm die gleichen Hilfeformen und Unterstützungen angeboten bekommen können. So kann es sein, dass in Skarpnäck eine Hilfeform existiert, die 100 Meter weiter in Farsta nicht angeboten wird, wie zum Beispiel das Projekt “LOSAM”, welches präventiv mit Kindern arbeitet, damit sie nicht in die organisierte Kriminalität abrutschen. Dieses Projekt wird in Skarpnäck als eines der wichtigsten Kooperationsprojekte zwischen Schule und Sozialarbeit angesehen. Insgesamt vier Grundschulen haben sich vernetzt und treffen sich in diesem Rahmen alle zwei Wochen, um sich auszutauschen. Als ich den Kollegen in Farsta davon erzählt habe, kannte keiner dieses Projekt. Ihnen fehlt in diesem Bereich eine Anlaufstelle, weshalb sie sehr glücklich über meinen Vorschlag des Austausches mit dem anderen Stadtteil waren.

Stadtteilübergreifend ist das Projekt “SIG”, welches sich mit jungen alkohol- und drogenabhängigen Erwachsenen im Alter von 12 bis 23 Jahren auseinandersetzt. Ähnlich wie das Projekt “Mini-Maria” gibt es ein multiprofessionelles Team, bestehend aus Familientherapeuten, Sozialarbeitern und Beratern, welche über mehrere Sitzungen mit den Familien arbeiten. Im Unterschied zu “Mini-Maria” brauchen sie keinen Auftrag von dem “Social Services Office”, sondern können eigenständig Klienten gewinnen. So wie alle anderen Bereiche in der Kinder- und Jugendhilfe sind sie natürlich auch verpflichtet, Kindeswohlgefährdungen zu melden. Dieses Programm kann auch als ein Anschlussprogramm des “LOSAM”-Projekts angesehen werden. Sollte die Beratung in diesem Rahmen nicht mehr ausreichen, dann kann zum einen an das “Social Services Office” vermittelt werden, aber zum anderen auch zum “LOSAM”-Projekt. Die individuelle Betrachtung der Fälle findet im Vorfeld im Team statt.

Projektaufbau "Hummel"

Ein wirklich tolles Projekt, welches ich besuchen durfte, nennt sich “Hummel”. Über sechs Monate werden Kinder und Jugendliche wöchentlich zusammensitzen und über die häuslichen Problematiken bezüglich ihrer alkohol- oder drogenabhängigen Eltern sprechen. Der Name des Projektes soll den Kindern und Jugendlichen Mut machen, ihre eigene Geschichte erzählen zu können und die Welt auch mit ihrem “Rucksack/Päckchen” erkunden zu können. Aktuell gibt es zwei Gruppen mit jeweils sechs und acht Kindern und Jugendlichen. An diesem Donnerstagvormittag durfte ich eine solche Stunde begleiten und die unterschiedlichen Methoden der Arbeit kennenlernen. Einzigartig ist zum einen, dass die beiden Mitarbeiterinnen ein eigenes Buch geschrieben haben, welches sie in ihrer Arbeit begleitet, und zum anderen ist eine Kollegin von ihnen Designerin und hat 20 A2-Illustrationen über diverse Problematiken der Kinder und Jugendlichen gezeichnet. Die Kinder oder Jugendlichen werden jedoch als Hummeln dargestellt, sodass der Betrachter ein gezieltes Verständnis für die abgebildete Situation entwickeln kann. Die dargestellten Zeichnungen zeigen unter anderem Situationen, wo die Polizei ein Elternteil abgeführt hat, die Kinder oder Jugendlichen sich unter dem Bett versteckt haben, von den Eltern angeschrien wurden oder wie sie vor einem leeren Kühlschrank in einer verwüsteten Wohnung stehen. Mir wurde die Rückmeldung gegeben, dass sich bis dato alle Kinder und Jugendlichen mit mindestens einer illustrierten Situation identifizieren konnten.

Die beiden Mitarbeiterinnen sind zudem auch Familientherapeutinnen und arbeiten mit Familien im Kontext von Überforderung oder Vernachlässigung. Da es sich hierbei um keine Hilfeform des “Social Services Office” handelt, können maximal acht Sitzungen stattfinden. Die beiden erklärten mir, dass sie versuchen, den Eltern oder Kindern/Jugendlichen praktische Hilfsmittel und Skills zu vermitteln, um möglichst die aktuell herausfordernde Situation meistern zu können. Die Familien, die sich in diesem Rahmen melden, sind normalerweise gut aufgestellt und benötigen nur punktuell Hilfestellungen, weshalb eine Vermittlung an das “Social Services Office” nicht nötig ist. Die Interventionen oder Hilfestellungen können somit einen präventiven Charakter für das “Social Services Office” aufweisen.

Besonders interessant fand ich die methodische Arbeit der Familientherapeuten. Ich hatte das Glück, verschiedene Familientherapeuten in den unterschiedlichen Stadtteilen besuchen zu dürfen. Die Methodik sowie der systemische Gedanke hat mich sehr überzeugt und die Relevanz dieser Instanz feststellen lassen. Auch wir in Berlin haben die Möglichkeit, an die EFB vermitteln zu können und mir ist die Wichtigkeit dieser engen Zusammenarbeit vor Augen geführt worden.

Auch in dieser Woche kam eine interessante Diskussion auf. In Schweden steht das Recht der Eltern über dem Recht der Kinder. Zum Beispiel hat ein Elternteil das Recht auf Umgang mit seinem Kind, auch wenn es das nicht möchte. Dies wird von den Gerichten auch besonders streng umgesetzt, solange das Wohl des Kindes nicht unmittelbar verletzt wird. Vor ein paar Jahren gab es einen Todesfall, welcher das ganze Land beschäftigte. Der Kindesvater hat sein Kind umgebracht, nachdem er durch das Gericht den Umgang zugesprochen bekommen hat. Seitdem wird das Gewicht des Elternrechtes diskutiert. Zuspruch konnte ich diesbezüglich von vielen Sozialarbeitern und Familientherapeuten hören.

An meinem letzten Tag ging es für mich in das Rathaus von Stockholm. Dort habe ich das “Executive Office” und das Aufgabengebiet der internationalen Kommunikation kennenlernen dürfen. Das Rathaus gleicht einem Labyrinth, und da ich in unserem Rathaus schon nicht zurechtkomme, hätte man mich in Stockholm nicht alleine lassen dürfen. Extra für mich wurde ein Sitzungssaal gebucht, wo normalerweise die “großen” Entscheidungen getroffen werden, ich durfte sogar einmal den Beschlusshammer schwingen. Danach gab es noch eine Präsentation zur politischen Umsetzung der Sicherheit und Prävention zum Thema Kriminalität in Stockholm. Es war sehr spannend, direkt mit den Verantwortlichen sprechen und aus erster Hand hören zu können, wie diese Thematik in den nächsten Jahren angegangen und umgesetzt werden soll.

Danach ging es für mich zu einer geführten englischsprachigen Tour durch das Rathaus. Es fühlte sich witzig an, dass ich vor ein paar Stunden die Zeichen “Nicht betreten” einfach ignorieren sollte und eigentlich alles passieren konnte, nun aber penibel darauf hingewiesen wurde, den Wänden nicht zu nahe zu kommen. Mir wurde sogar der Hochzeitsraum gezeigt, welcher hinter fünf Sicherheitsbändern abgesperrt war und den wahrscheinlich kein Tourist je zu Gesicht bekommt. Ja, man kann schon sagen, ich fühlte mich wirklich besonders. Das Rathaus darf von Touristen nur im Rahmen einer geführten Tour betreten werden, sodass sich irgendwann viele Gruppen gebildet haben.

Spannenderweise ist das Rathaus erst 100 Jahre alt und so entworfen worden, dass es älter aussieht. Was mich wirklich beeindruckt hat, war der “Goldene Saal”, welcher aus Millionen von goldenen Mosaiksteinen besteht und die Geschichte von Schweden abbildet.

Nach dem Mittagessen gab es eine kleine Verabschiedungsrunde mit Susanna, und den restlichen Nachmittag habe ich die Sonne und die frische Lust von Stockholm genossen. Da ich gehört habe, dass Berlin sehr viel Regen abbekommen hat in den letzten Tagen, wollte ich die Sonnenstrahlen gründlich aufsaugen, bevor es wieder Richtung Heimat geht.

  • Rathaus von Stockholm

    Rathaus von Stockholm

  • Der "Goldene Saal" im Rathaus

    Der "Goldene Saal" im Rathaus

  • Der für mich gebuchte Besprechungssaal

    Der für mich gebuchte Besprechungssaal

Nach meinen vier Wochen in Stockholm und Solna bin ich immer noch hellauf begeistert von dem schwedischen System. In der Theorie habe ich bereits viel über das familienorientierte System gelesen, weshalb ich mich auch für diesen Austausch entschieden hatte. Ziel für mich persönlich war es nicht nur, das schwedische System kennenzulernen, sondern auch Visionen für meine eigene Arbeit und die meiner Kollegen mitnehmen zu können. Gerade in der Arbeit mit Menschen ist die persönliche sowie berufliche Weiterentwicklung von Bedeutung, weshalb ich das LoGo!- Austauschprojekt als ein essentielles Werkzeug ansehe, mich auch international fortbilden zu können. Ich absolviere viele Weiterbildungen in Berlin und bin stetig gewillt, mir neues Wissen anzueignen, jedoch ist dieses Wissen zum Teil auf das deutsche System ausgerichtet. Die Möglichkeit zu haben, ein anderes System kennenlernen zu können und aus der Vogelperspektive das eigene Gebiet sowie System betrachten, reflektieren und vergleichen zu können, hat mich persönlich sehr wachsen lassen.

Die Rahmenbedingungen, die mir Schweden aufgezeigt hat, sind definitiv auch eine Möglichkeit für das Berliner System. Warum nicht abgucken, was in anderen Ländern gut läuft? Wahrscheinlich ist dies leichter gesagt als getan, aber jeder noch so kleine Schritt nach vorne ist ein Schritt in die richtige Richtung.

Ich persönlich fühle mich durch die vier Wochen empowert und motiviert, meinen verloren geglaubten Fokus wiederzufinden und die Sozialarbeiterin zu sein, für die ich studiert habe und für die ich täglich auf Arbeit gehe. Bereits jetzt habe ich viele Ideen für die Umsetzung verschiedenster Methoden und Techniken in der Arbeit mit Familien und Kindern. Jetzt hoffe ich nur, dass meine Kollegen mich am Montag nicht gleich rauswerfen … Ich komme in Frieden und mit tollen Impulsen, ihr Lieben!