Am Dienstag durfte ich die Organisation “Framtid” kennenlernen. Ich befinde mich jetzt in der dritten Woche und ich glaube, endlich habe ich das System in Schweden verstanden. In Deutschland gibt es das Jugendamt, und die freien Träger sind dem untergeordnet, während es in Schweden die sogenannte “Sozialverwaltung” gibt, wo das “Social Services Office” ein Teil von ist. Die Organisation “Framtid” ist ebenfalls Teil der “Sozialverwaltung” und wird somit von der Stadt finanziert. “Framtid” bedeutet in der deutschen Sprache “Zukunft” und soll nicht nur symbolisch für die Zukunft von Stockholm stehen, denn dort angebunden sind viele verschiedene Professionen, welche sich mit dem Wohl der Kinder und Jugendlichen auseinandersetzen.
Zu Beginn habe ich das Team “Mini-Maria” kennenlernen dürfen. Die Sozialarbeiter arbeiten mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen, welche eine Alkohol- oder Drogenabhängigkeit haben oder sich präventiv davor schützen wollen. Auftraggeber ist sowohl das “Social Services Office” als auch die Eltern und jungen Erwachsenen selber. Das Team besteht zudem auch aus Ärzten, Psychologen und Krankenschwestern. Ebenfalls unter der Organisation arbeitet die Profession der BSFT, welche eine spezielle Form der Familientherapie darstellt. Das Besondere ist hier, dass jede Sitzung mit der Kamera aufgenommen wird, um sie dann im Nachhinein analysieren oder mit dem Team/Supervision besprechen zu können.
Besonders interessant fand ich den Aspekt, dass es in Schweden kein Recht auf “Privatsphäre” für Kinder oder Jugendliche gibt. Dies inkludiert zudem, dass sie kein Recht auf Schweigepflicht oder Datenschutz ihren Eltern gegenüber haben. Therapeuten, Ärzte, Berater, Lehrer usw. müssen den Eltern Auskunft über die Inhalte der Gespräche mit ihren Kindern geben. Dieser Aspekt hat mich ganz besonders geschockt und ich glaube, ich konnte fünf Minuten nur sprachlos dasitzen. Keinem Elternteil darf die Auskunft verweigert werden, außer vielleicht im akuten Kinderschutz. Aber selbst Therapeuten müssen die Kindeseltern über die sensiblen Inhalte ihrer Sitzungen unterrichten, wenn sie dies wünschen. Mir wurde erzählt, dass es nur sehr wenige Ausnahmen gibt, anonym bleiben zu können. Ich glaube, meine schwedischen Kollegen haben meine Sprachlosigkeit mitbekommen.
Im Anschluss an unsere ausgiebige Diskussion bin ich mit den Streetworkern auf “Patrouille” gegangen. Es gibt tatsächlich einen aufsuchenden Dienst, welcher in den Straßen der Stadt unterwegs ist und schaut, ob Familien oder Kinder in Not sind. Dabei liegt der Fokus auf den Kindern und Jugendlichen, welche sich möglicherweise stundenlang am selben Ort aufhalten oder kindeswohlgefährdende Momente, wie alkoholisierte Kindeseltern im Umgang mit ihren Kindern. Die Streetworker arbeiten 24/7 und wechseln sich in Schichten ab. Es gibt eine sehr enge Kooperation mit der Polizei und dem “Social Services Office”. Sie selber beschreiben sich als einen verlängerten Arm des “Social Services Office” und haben Augen und Ohren immer offen. Zum Teil vermitteln sie Familien, welche im System noch nicht bekannt waren und unterstützen bei ersten akuten Maßnahmen. Die Sozialarbeiter tragen zudem eine Uniform und zeigen sich auf den Straßen erkenntlich.
Nicht selten kommt es vor, dass sie von Kindern, Jugendlichen, Männern oder Frauen angesprochen werden. Ich persönlich finde diese Arbeit wirklich wichtig und auch bedeutend in ihrer Außenwirkung. Ich hatte somit das Gefühl, dass die Kinder- und Jugendhilfe nahbar und auch sichtbar für die Gesellschaft ist und dass in Stockholm hingeschaut wird. Mich hat dieser Bereich buchstäblich aus den Socken gehauen, und ich fühle mich umso mehr in meiner Vorannahme bezüglich des familienorientierten Schwedens bestätigt.