LoGo! Europe: Alexander Diener berichtet aus Barnet (London)

Im Jugendamt von Charlottenburg-Wilmersdorf ist Alexander Diener als Sozialarbeiter in der Jugendhilfe im Strafverfahren tätig. Im Februar 2023 hospitierte er hierzu für vier Wochen im Londoner Bezirk Barnet. Hier sein Bericht:

London Boroughs

Erste Woche

Ich bin seit September 2018 im Jugendamt Charlottenburg-Wilmersdorf tätig. Bis März 2020 arbeitete ich im Regionalen Sozialpädagogischen Dienst (Region 1) und wechselte anschließend in die Jugendgerichtshilfe/Jugendhilfe im Strafverfahren (künftig JGH abgekürzt). Hierbei handelt es sich um einen Fachdienst des Jugendamtes.
Die JGH berät und begleitet Jugendliche und Heranwachsende im Strafverfahren ab der Aufnahme polizeilicher Ermittlungen. Im Rahmen des Vorverfahrens (das bedeutet, vor Anklageerhebung) prüfen und erarbeiten wir mit Jugendlichen die Möglichkeiten einer Diversion, d. h. einer Verfahrenserledigung ohne Hauptverfahren, z. B. durch Schadenswiedergutmachung, Täter-Opfer-Ausgleich oder Ähnliches. Kommt es zur Anklageerhebung, geben wir gegenüber der Staatsanwaltschaft und dem Jugendgericht Empfehlungen im Hinblick auf mögliche erzieherische Maßnahmen (wie z. B. Anti-Gewalttraining, Suchtberatung o. Ä.), um straffälligem Verhalten von Jugendlichen entgegenzuwirken.

Im Rahmen von LoGo Europe! habe ich im Februar 2023 die Möglichkeit, vier Wochen im äquivalenten Fachdienst Youth Justice Services (künftig YJS abgekürzt) des Londoner Bezirks Barnet zu hospitieren.

Die Straße Melrose Gardens, in der sich mein Zimmer befindet

Der London Borough of Barnet (Borough bedeutet Bezirk) ist neben Enfield der nördlichste Bezirk der Stadt und entstand im Jahr 1965 bei der Gründung der Verwaltungsregion Greater London. Er hat Stand 2020 402.700 Einwohner*innen, davon ein Viertel minderjährig, und ist damit der bevölkerungsreichste aller Londoner Bezirke. Die Armut im Bezirk ist geringer als im Londoner Durchschnitt, ebenso die Arbeitslosenquote. Pro 1.000 Einwohner*innen kommt es zu 80,6 Straftaten, was ebenfalls knapp unterhalb des Londoner Durchschnitts liegt. (Quelle: Barnet‘s Youth Justice Plan 2020-2024)

Dienstgebäude

Meine Unterkunft befindet sich im Nachbarbezirk Brent nahe der Grenze, sodass ich den Weg zum Einsatzort bequem in einer halben Stunde zu Fuß gehen und dabei ein Gefühl für den Ort bekommen kann. Auf dem Bild hier sieht man das Dienstgebäude. Das Jugendamt bzw. die Child and Family Services sind im zweiten Obergeschoss untergebracht.

Schon das Betreten des Bürogebäudes fühlt sich anders an, als eine Behörde in Deutschland zu betreten. Am ersten Tag stehe ich ein bisschen ratlos im Eingangsbereich und werde skeptisch von mehreren Security-Mitarbeiter*innen gefragt, wohin ich möchte. Es gibt eine Barriere, für das Durchqueren benötigt man eine Chipkarte. Gleichzeitig treten gleich mehrere Personen auf mich zu und fragen, ob ich Hilfe benötige. Übrigens eine Erfahrung, die ich in der ersten Woche öfter mache – sobald ich in der Stadt nur den Anschein erwecke, die Richtung nicht zu wissen, höre ich jemanden “Can I help you, Sir?” fragen.

Die nächste große Überraschung erwartet mich beim Betreten des zweiten Obergeschosses: Das Jugendamt in Barnet ist vollständig in einem riesigen Großraumbüro untergebracht. Der Raum ist ringförmig angelegt, außen reiht sich Arbeitsplatz an Arbeitsplatz, wobei alle Plätze mobil sind und niemand einen festen Schreibtisch hat. In der Mitte des Rings befinden sich mehrere größere Räume mit Glastüren, die für Meetings genutzt werden. Ich stelle mir vor, dass hier ein enormer Geräuschpegel herrschen muss, wenn alle Mitarbeiter*innen anwesend sind und telefonieren – doch ein Großteil der Plätze blieb die ganze Woche über unbesetzt. Das Homeoffice hat sich in Barnet deutlich durchgesetzt und wird viel genutzt. Außerdem machen die Sozialarbeiter*innen des Jugendamtes, wie ich später lerne, wesentlich häufiger Hausbesuche als in Deutschland und führen weniger Beratungen im Amt selber durch.

Dies wird auch dadurch ermöglicht, dass keine Papierakten existieren. Als ich berichte (alle haben großes Interesse an den Prozessen in Berlin), dass wir Papierakten verwenden, ebenso wie die Staatsanwaltschaften und Jugendgerichte in Berlin, schwanken die Reaktionen zwischen entsetzt und amüsiert. Dementsprechend gibt es auch keine Aktenkammer oder Ähnliches, alle Sozialarbeiter*innen wirken hervorragend im Umgang mit Office, Teams, Outlook etc. geschult.

Ein weiterer schon auf den ersten Blick erkennbarer Unterschied sind die Beratungszimmer im sogenannten Family Hub im Erdgeschoss. Die Räume, die die Youth Justice Services verwenden, sind karg und kaum dekoriert, dafür gibt eine gut sichtbare Überwachungskamera und zwei rote Notfallknöpfe. Jugendliche dürfen keine Wasserflaschen mit in die Gebäude nehmen. Mein Praxisbegleiter Cezar erzählt mir später, dass die Regeln noch mal verschärft wurden, nachdem es in einem anderen Teil der Stadt zu einem Angriff mit Säure gekommen war.

In der ersten Woche nahm ich an den Vormittagen an Workshops teil, zusammen mit einer Gruppe Think-Ahead-Studierenden. Think Ahead ist ein Masterprogramm, in dem Absolvent*innen und Berufserfahrene anderer Berufe (z. B. Jurist*innen, Soziolog*innen und Psycholog*innen) sich in einem Dualen Studium zu Sozialarbeiter*innen im öffentlichen Dienst umbilden lassen können – auch in London ist der Fachkräftemangel spürbar, und die Boroughs müssen kreativ werden, um Arbeitskräfte zu finden.

Obwohl ich mich lieber direkt in die Hospitation von Beratungen oder Gerichtsterminen gestürzt hätte, erweisen sich die Workshops als enorm hilfreich. Die Child Services in Barnet sind deutlich anders strukturiert als das deutsche Jugendamt. Der Hauptunterschied liegt in der Spezialisierung. In Deutschland gibt es zwar einige Spezialdienste wie die Jugendhilfe im Strafverfahren, die Jugendberufsagentur oder den Pflegekinderdienst. Die Bearbeitung von Kinderschutzmeldungen, die Organisation ambulanter und stationärer Hilfen und die Teilnahme an familiengerichtlichen (nicht strafrechtlichen!) Prozessen fällt neben anderen Aufgaben in die Zuständigkeit des Regionalen Sozialpädagogischen Dienstes. Was den Vorteil nach sich zieht, dass Familien über Jahre hinweg eine*n Ansprechpartner*in haben und den Nachteil, dass einzelne Sozialarbeiter*innen eine enorme Bandbreite an Aufgaben bewältigen müssen.

In England dagegen gibt es wesentlich mehr spezialisierte Teams, die deutlich kleinere Aufgabenbereiche bearbeiten. Ein Überblick darüber gibt folgendes Schaubild:

Schaubild

Journey of a Child

Anders als in Deutschland gibt es übrigens kaum freie Träger, abgesehen von bestimmten Beratungsstellen und einigen Heimen, Wohngruppen etc. Die Sozialarbeiter*innen, die die Hilfen durchführen, sind hier ebenfalls Teil des öffentlichen Dienstes.

Ein weiterer aus meiner Sicht wichtiger Unterschied ist, dass in Barnet großer Wert auf die Bildung von Multi-Agency-Teams, also multiprofessionellen Teams, gelegt wird. So arbeiten beispielsweise in den Youth Justice Services Sozialarbeiter*innen, Psycholog*innen und spezialisierte Police Officers zusammen.

Neben diesen Kenntnissen zur Funktionsweise des Jugendamtes in Barnet nehme ich auch an einem Workshop zum Thema Social Graces and Humility teil, in dem es um soziale und persönliche Identitätsmerkmale wie z. B. race, gender, sexuality, class, culture im Kontext sozialer Arbeit geht. Insgesamt wird deutlich, dass auf diese Themen großer Fokus gelegt wird, sowohl auf der Ebene der Mitarbeiter*innen-Schulung als auch in der alltäglichen Arbeit. In die court reports (die Gerichtsberichte), die ich später lese, fließen Erkenntnisse über die Social Graces der Klient*innen ein.

Da ich in der ersten Woche sehr damit beschäftigt war, einen Überblick über die Funktionsweise der Behörde an sich zu gewinnen, habe ich in meinem eigenen Fachgebiet bislang nur erste Eindrücke gewonnen.

Natürlich gibt es Überschneidungen in der Arbeit mit straffälligen Jugendlichen, aber die Unterschiede sind enorm. Diese beginnen schon bei der Zielgruppe der Arbeit: So sind Kinder (was ich zuvor nicht wusste: Man verwendet hier bis zum 17. Lebensjahr das Wort Child) ab 10 Jahren strafmündig; ab 12 Jahren können sie prinzipiell eine Haftstrafe bekommen, was erwartungsgemäß äußerst selten vorkommt. In Deutschland beginnt die Strafmündigkeit mit dem 14. Lebensjahr, und Heranwachsende (18 bis 20 Jahre) können unter bestimmten Voraussetzungen nach dem Jugendstrafrecht behandelt werden.

Schon im Vorfeld habe ich gelesen, dass das Konzept der Restaurative Justice (frei übersetzt: am Opfer orientierte Justiz) eine größere Rolle spielt als in Deutschland. Dies wird auch in der Praxis deutlich: Geschädigte einer Straftat werden deutlich stärker in den Prozess einbezogen als ich es aus Deutschland kenne. Opfer meint dabei übrigens nicht nur die unmittelbaren Geschädigten, sondern die Gemeinschaft an sich. Bei den sogenannten Panel Meetings, in denen festgelegt wird, welche Auflagen ein jugendlicher “Offender” erfüllen muss, sind stets zwei freiwillige Mitglieder der “Community” anwesend. Es wird großen Wert darauf gelegt, dass der “Offender” der Gemeinschaft Wiedergutmachung leistet.

Mehr dazu kann ich hoffentlich in den kommenden Wochen berichten!

Die Themse am Abend

Die Themse am Abend

Zweite Woche

Auch in der zweiten Woche erlebe ich fast ausschließlich sonnige Tage – das nebelige Regenwetter, auf das ich meinen Vorstellungen von England entsprechend eingestellt war, bleibt aus. Einzig am Dienstagmorgen zieht sich der Nebel so plötzlich und eng zusammen, dass man die Hochhäuser im Hintergrund kaum erkennt:

Nebel

Am Montagmorgen kommen mehrere Kolleg*innen aus dem Team sowie aus anderen Teams zu einem Online-Meeting zusammen – da stets ein Teil der Mitarbeiter*innen von zuhause arbeitet, finden Meetings grundsätzlich online statt. Ich sitze mit den Kolleg*innen vor Ort im Raum “Cherry Tree” (andere Meeting-Räume haben Namen wie “Sunny Hill” oder “Woodside”). Cezar, Team Manager und mein Praxisanleiter, moderiert das Gespräch.

Ein Vierzehnjähriger, der den YJS seit sechs Monaten bekannt ist, wird vermisst, weswegen auch eine für vermisste Minderjährige zuständige Polizistin am Meeting teilnimmt. Sie berichtet, dass die Mutter, die schon in der Vergangenheit nicht zuverlässig mit den Behörden zusammengearbeitet hat, ihn nicht als vermisst gemeldet, sondern versucht hat, sein Fehlen geheim zu halten.

Der Jugendliche war vor einem halben Jahr an fünf Raubüberfällen beteiligt, in zwei Fällen mit vorgehaltenem Messer. Vor Gericht bekam er eine richterliche Weisung, die unter anderem beinhaltete, dass er sich wöchentlich mit seinem zuständigen Case Manager trifft und abends ab einer bestimmten Uhrzeit das Haus nicht verlässt.

Erst durch das Fehlen bei seinen wöchentlichen Terminen fiel auf, dass der Jugendliche sich nicht mehr zuhause aufhält. Seine Weisung beinhaltete weiterhin, verschiedene Beratungsgespräche (zu Themen wie Sucht, Straftataufarbeitung, Schulbildung) bei unterschiedlichen Sozialarbeiter*innen wahrzunehmen. Alle Kolleg*innen, die mit ihm zu tun hatten, berichten nacheinander von der Arbeit. Wie sich herausstellt, hat der Jugendliche anfangs zuverlässig an den Weisungen teilgenommen. Erst vor wenigen Wochen begann er, Termine zu versäumen oder in den Gesprächen innerlich abwesend zu wirken. Auf telefonische Kontaktversuche reagiert er nicht.

In den Gesprächen stellt sich heraus, dass der Jugendliche seit einigen Wochen eine neue Freundin hat, die den Children Services ebenfalls bekannt ist und zu einer Gruppe von Intensivstraftäter*innen gehört. Durch die anwesende Vertreterin der Polizei wird außerdem bekannt, dass seit Ende vergangener Woche zwei neue polizeiliche Ermittlungen gegen ihn laufen, einmal erneut wegen Raubüberfall und eine weitere wegen Waffenbesitz. Es gibt einen Haftbefehl.

Im Vergleich zu Deutschland fällt mir auf, dass die Behörden und Institutionen hier deutlich rascher Informationen austauschen und enger zusammenarbeiten. An dem Meeting nehmen neben den YJS zwei Vertreterinnen der Polizei sowie ein Vertreter aus der Schule teil. Gemeinsam erstellen die Mitarbeiter*innen unterschiedlicher Professionen eine Risikoeinschätzung anhand eines standardisierten Tools (“Vulnerable Adolescents Child Exploitation and Missing (CEAM) Measurement Tool”). Mithilfe dieses Tools wird eine Einschätzung erstellt, welches Risiko der Jugendliche zurzeit für andere und auch für sich selbst darstellt. Die Case Manager*innen der YJS sind angehalten, solche Einschätzungen in regelmäßigen Abständen durchzuführen.

Auf der Skala von Very Low bis Very High erhält der Jugendliche, über den wir sprechen, die Wertung High, wobei nur ein Punkt zur Einschätzung Very High fehlt. Diese Wertung hat wiederum direkte Auswirkung auf das “Action Planning”, die Planung der weiteren Vorgehensweise. Es wird festgelegt, wer welche Aufgaben in welchem Zeitraum zu erfüllen hat.

Zwei Tage später gibt es neue Entwicklungen: Der Jugendliche wird aufgegriffen und kommt in Untersuchungshaft. Da er die richterlichen Weisungen nicht erfüllt hat und erneut Verdächtiger polizeilicher Ermittlungen ist, werden nicht nur die neuen Delikte, sondern auch die ursprünglichen nochmals verhandelt. Seine Case Managerin hält es für möglich, dass er eine Bewährungs- oder eine Haftstrafe bekommen wird. Es kann sein, dass sein Fall noch in meinem Monat hier verhandelt wird.

Zum Lunch gehe ich in dieser Woche mehrmals auf die Dachterrasse des Dienstgebäudes. Neben interessierten Nachfragen zur Jugendgerichtshilfe in Deutschland erhalte ich hier wertvolle Sightseeing-Tipps von den Kolleg*innen:

Dachterrasse

Neben schwerwiegenden Fällen wie dem oben beschriebenen bearbeiten die YJS natürlich auch weniger schwere Fälle, ebenso wie in Deutschland, wobei, wie ich schon letzte Woche geschrieben habe, bestimmte sehr geringfügige Delikte von einem anderen Team bearbeitet werden.

Mitte der Woche hospitiere ich bei einem Abschlussgespräch mit einem Jugendlichen, der vor Gericht eine sogenannte “Referral Order” bekam. Diese einfachen Weisungen stellen das mildeste Mittel dar, das von den Gerichten verhängt werden kann. (Bei Ersttäter*innen gibt es außerdem davor die sogenannten Out-Of-Court-Disposals, bei denen sich die YJS und die zuständigen Police Officers auf Weisungen einigen, die Jugendliche zu erfüllen haben und bei denen das Gericht nicht beteiligt wird, wenn sie die Weisungen erfüllen.)

Zum Tathergang: Der Jugendliche hatte mit Freund*innen in einem Schnellrestaurant gegessen. Die Gruppe wurde von zwei Polizist*innen angesprochen, da einer seiner Freunde einer Straftat verdächtigt wurde. Sein Freund sollte verhaftet werden und widersetzte sich, worauf es zu einer Rangelei kam, in die der Jugendliche eingriff, indem er eine Polizistin beleidigte und schubste.

Der Jugendliche war zuvor nicht mit Straftaten aufgefallen, aber da es sich um einen tätlichen Angriff auf eine Polizeibeamtin handelte, war ein Out-Of-Court-Disposal (eine außergerichtliche Klärung) in diesem Fall nicht möglich. Vor Gericht bekannte der Jugendliche sich schuldig (pleaded guilty).

Während ein Geständnis auch in Deutschland strafmildernd berücksichtigt wird, hat es hier eine noch größere Bedeutung. In der ersten Sitzung vor Gericht erhält der Angeklagte die Gelegenheit, auf schuldig oder nicht schuldig zu plädieren. Plädiert der Angeklagte auf schuldig, gibt es keine weitere Beweisaufnahme und das Gericht kann je nach Fall unmittelbar zu einer Entscheidung kommen. Erst wenn der Angeklagte auf nicht schuldig plädiert, kommt es zur eigentlichen Verhandlung und Beweisaufnahme (Trial) und erst dann werden Zeugen geladen. Wird der Angeklagte am Ende der Beweisaufnahme für schuldig befunden (“found guilty”), wird die Tatsache, dass ein Trial durchgeführt werden musste, deutlich zu seinen Lasten ausgelegt.

In Reaktion auf die Tat erhielt der Jugendliche in diesem Fall eine “Referral Ordner” von vier Monaten. Er ist verpflichtet, in einem festgelegten Rhythmus (in diesem Beispiel einmal wöchentlich) Gespräche bei seiner zuständigen Case Managerin wahrzunehmen sowie eine Anzahl Freizeitarbeiten abzuleisten. Inhalte der Gespräche waren in diesem Fall:

  1. Ausgleich des durch die Straftat entstandenen Schadens
  2. die Art und Weise, wie er in seinem Leben Entscheidungen trifft
  3. welchen Einfluss seine Freundschaften auf sein eigenes Handeln nehmen
  4. in welcher Hinsicht die Gemeinschaft (die Community) durch die Straftat beeinträchtigt wurde

Im Abschlussgespräch wurde der gesamte Prozess mit dem Jugendlichen noch einmal reflektiert. Der Jugendliche schilderte, was für ihn einen guten Freund ausmacht und dass er selber ein guter Freund sein möchte. Er hat sich von Freund*innen, die wiederholt Straftaten verüben, losgesagt. Er benannte die (möglichen) Auswirkungen der Tat auf das Opfer, wie z. B. dass die Polizistin bei künftigen Einsätzen misstrauischer sein könnte, dass sie hätte stürzen und sich verletzen können, dass die Familie des Opfers sich Sorgen macht. Im Rahmen der Schadenswiedergutmachung arbeitete er in einer Fahrradwerkstatt, die Fahrräder für mittellose junge Menschen repariert. Er hat außerdem einen Entschuldigungsbrief an die Polizistin und einen an seine Mutter geschrieben.

Erfüllt ein Jugendlicher seine “Referral Order”, erhält er keinen “criminal record”, gilt also nicht als vorbestraft, damit ihm für seine weitere berufliche Laufbahn keine Steine in den Weg gelegt werden.

Bei der Teamsitzung in der zweiten Woche sind zum ersten Mal alle anwesend, und ich stelle fest, dass das Team tatsächlich aus 25 Mitarbeiter*innen besteht.

Während der Sitzung zeigen sich die Kolleg*innen sehr interessiert an der Arbeit in Deutschland. Besonders die Tatsache, dass man in Deutschland erst mit 14 strafmündig wird und unter Umständen bis zum 20. Lebensjahr nach dem Jugendstrafrecht behandelt werden kann, überrascht viele, und es kommt zu einer längeren Diskussion, ob ein früherer oder späterer Eintritt in die Strafmündigkeit sinnvoll ist.

Wir vereinbaren, dass ich für meine vierte Woche in Barnet einen kleinen Vortrag vorbereite, in dem ich die Kolleg*innen genauer mit der Arbeit der Jugendgerichtshilfe in Deutschland vertraut mache.

Ich habe oben kurz die Out-Of-Court-Disposals (kurz OOCD) erwähnt. Diese sind möglich bei weniger schweren Fällen. Die Entscheidung darüber, ob sich ein Fall für eine solche außergerichtliche Klärung eignet, trifft der ermittelnde Polizist.

Am Donnerstag nehme ich zum ersten Mal an einem OOCD-Panel teil, ein Meeting, das einmal wöchentlich stattfindet. In diesem Gremium werden Weisungen festgelegt, die der oder die Jugendliche erfüllen muss, damit es nicht zu einer Gerichtsverhandlung kommt. Diese Weisungen richten sich nach dem pädagogischen Bedarf der Jugendlichen. Das Prozedere soll eine schnellere Reaktion auf straffälliges Verhalten garantieren als es im Rahmen von Gerichtsprozessen möglich ist.

Auch an diesem Meeting nehmen Mitarbeiter*innen unterschiedlicher Teams und Professionen teil: Eine auf Jugendkriminalität spezialisierte Polizistin, eine Bildungsberaterin, eine Psychologin, ein Opferberater und die zuständigen Case Manager*innen. Diesen multiprofessionellen Ansatz empfinde ich als große Ressource, erstens da auf diese Weise unterschiedliche Perspektiven auf den Jugendlichen eingebracht werden und zweitens da ohne Verzögerung Vereinbarungen über das weitere Vorgehen getroffen werden können. Außerdem nehmen zwei Freiwillige an der Sitzung teil, die im Bezirk leben und als Vertreterinnen der Community Gehör finden.

Bei einem der Jugendlichen, über die heute gesprochen wird, handelt es sich um einen Ersttäter, gegen den aber weitere Ermittlungen laufen. In diesem Fall hat er gegenüber der Polizei eingeräumt (pleaded guilty), in der Turnhalle der Schule Airpods aus dem Rucksack eines Mitschülers entwendet zu haben. Durch den Opferberater werden auch die Sichtweise des Opfers und dessen Wünsche in die Sitzung eingebracht. (Auch die Opferberatung ist hier Teil der Youth Justice Services.)

Gemeinsam einigen sich die Teilnehmer*innen darauf, in diesem Fall mit einer Youth Conditional Caution zu reagieren: Ähnlich wie bei einer richterlichen Weisung muss der Jugendliche für einen Zeitraum von sechzehn Wochen regelmäßig Gespräche bei seinem Case Manager wahrnehmen, wobei insgesamt weniger Termine nötig sind als bei einer richterlichen Weisung. Er muss außerdem eine Beratung bei der Bildungsberaterin wahrnehmen, da er häufige Fehlzeiten in der Schule hat. Diese Reaktion ist für einen Ersttäter mit einem Diebstahl vergleichsweise deutlich und wird begründet durch die weiteren Ermittlungen.

Sollte der Jugendliche die Weisungen nicht erfüllen, kommt es zu einer Anklage und Gerichtsverhandlung.

Am Freitagnachmittag sind nur noch wenige Kolleg*innen im Büro, als plötzlich Aufregung aufkommt. Zuerst bekomme ich im Durcheinander englischer Stimmen nicht ganz mit, worum es geht, doch nach und nach verstehe ich, dass ein Crown Court – also ein höheres Gericht – die sofortige Anwesenheit der YJS vor Gericht angefordert hat. Ein Jugendlicher, dem Drogenhandel, Diebstahl von Fahrzeugen, Waffenbesitz und Körperverletzung mit einer Waffe vorgeworfen werden und der bislang nicht auffindbar war, wurde aufgegriffen und sofort vor Gericht gestellt.
Der Jugendliche ist Teil eines Phänomens, das hier als “County Lines” bezeichnet wird. Infolge des härteren Vorgehens der Ermittlungsbehörden gegen Bandenkriminalität und der Territorialkämpfe krimineller “Gangs” in London expandiert der Drogenhandel seit einigen Jahren in das Londoner Umland. Gangs führen Kinder und Jugendliche bewusst an Drogen heran, um sie anschließend als Kuriere auszunutzen, die von London aus mit Kokain, Heroin o. Ä. aufs Land fahren und es dort verkaufen – oft werden die betreffenden Jugendlichen von ihren Eltern als vermisst gemeldet.

Da die zuständige Case Managerin im Urlaub ist, fährt eine Vertreterin ins Gericht und nimmt mich mit. Weder die Kollegin noch ich sind für eine Verhandlung vor dem Crown Court gekleidet, was mit einem skeptischen Blick der Sicherheitskontrolle im Gerichtsgebäude quittiert wird. Dass wir underdressed sind, fällt umso deutlicher auf, weil der Richter, der Staatsanwalt und die Verteidiger*innen am Crown Court nicht nur Roben tragen, sondern die aus dem Fernsehen bekannten “Wigs” – den höheren Richter*innen vorbehaltene Perücken.

Eingeführt wurden die Perücken übrigens, um im alten England, in dessen Gemeinden die Menschen sich vermutlich häufiger über den Weg liefen als heutzutage in London, die Anonymität der Richter*innen zu wahren. Interessanterweise wurden sie an bestimmten Gerichten wie dem Zivil- und Familiengericht im Jahr 2008 abgeschafft, um die Justiz zugänglicher zu gestalten, in den höheren Strafgerichten jedoch nicht.

So spannend es ist, hier ein Gefühl für das Prozedere im Crown Court zu erhalten, verhandelt wird die Sache am heutigen Tag nicht. Es gibt zwei weitere Angeklagte, und alle drei Verteidiger*innen wollen weitere Beweismittel einbringen, bevor ihre Mandanten schuldig oder nicht schuldig plädieren. Nachdem dies geklärt ist, lockert sich die zuvor angespannte und getragene Stimmung beträchtlich: Alle Anwesenden zücken ihre Handys und versuchen, neue Verhandlungstermine zu finden.

Mehr zu den County Lines und dem Vorgehen der Polizei und des Jugendamtes gegen diese Entwicklung kann ich hoffentlich in der kommenden Woche berichten.

Sightseeing kam natürlich auch in der zweiten Woche nicht zu kurz…

  • Auf ein Bild mit der Tower Bridge konnte ich nicht verzichten

    Auf ein Bild mit der Tower Bridge konnte ich nicht verzichten

  • Haupteingang zum Central Criminal Court, eines der ältesten Gerichtsgebäude in London – im Volksmund auch Old Baileys genannt

    Haupteingang zum Central Criminal Court, eines der ältesten Gerichtsgebäude in London – im Volksmund auch Old Baileys genannt

  • Buchhändler*innen und andere Kunden*innen lassen sich gerne auf einen kleinen Plausch mit gegenseitigen Leseempfehlungen ein

    Buchhändler*innen und andere Kunden*innen lassen sich gerne auf einen kleinen Plausch mit gegenseitigen Leseempfehlungen ein

  • Ein Restaurant mit einem schönen Namen und einem noch schöneren Zitat an der Wand direkt in der City

    Ein Restaurant mit einem schönen Namen und einem noch schöneren Zitat an der Wand direkt in der City

  • Tower of London

    Tower of London

  • Blick vom Primrose Hill über den Regent's Park und das Zentrum

    Blick vom Primrose Hill über den Regent's Park und das Zentrum

  • Rekonstruktion von Charles Dickens' Schlafzimmer, nachdem dieser durch seinen Erfolg zu Wohlstand gekommen war. Das Museum befindet sich in einem Haus, das die Familie Dickens für Jahrzehnte bewohnt hat. Als der Schriftsteller ein Kind war, mussten seine Eltern und Geschwister in einem berüchtigten Londoner Schuldnergefängnis leben, während der zwölfjährige Dickens in Fabriken arbeitete, um die Schulden des Vaters abzubezahlen.

    Rekonstruktion von Charles Dickens' Schlafzimmer, nachdem dieser durch seinen Erfolg zu Wohlstand gekommen war. Das Museum befindet sich in einem Haus, das die Familie Dickens für Jahrzehnte bewohnt hat. Als der Schriftsteller ein Kind war, mussten seine Eltern und Geschwister in einem berüchtigten Londoner Schuldnergefängnis leben, während der zwölfjährige Dickens in Fabriken arbeitete, um die Schulden des Vaters abzubezahlen.

  • Feierabend mit einem Stout Beer im Pub – natürlich stilecht mit einer Tüte Sea Salt and Vinegar-Chips als Snack

    Feierabend mit einem Stout Beer im Pub – natürlich stilecht mit einer Tüte Sea Salt and Vinegar-Chips als Snack

Im Doppeldecker auf dem Weg zur Arbeit

Dritte Woche

Am Montagmorgen nehme ich den Bus – auch hier in den Randgebieten der Stadt fahren die bekannten Doppeldecker. Es empfiehlt sich, zwei oder drei Busse früher zu nehmen, da man im Berufsverkehr nicht selten steckenbleibt.

Zu Beginn der dritten Woche ist das Büro fast wie ausgestorben. An Freitagen und Montagen bietet sich oft ein ähnliches Bild: Eine E-Mail nach der anderen trudelt ein, in der die Kolleg*innen mitteilen, dass sie “wfh” machen – die hiesige Abkürzung für Homeoffice bzw. “working from home”. In Gesprächen erfahre ich, dass dieses Modell hierzulande in vielen Bereichen Einzug gehalten hat: Von Dienstag bis Donnerstag im Büro und Montag und Freitag im Homeoffice.

Ich nutze die Ruhe am Vormittag für ein langes Gespräch mit einer erfahrenen Case Managerin in den Youth Justice Services, die heute “duty” hat, also erreichbar für die Polizei und die Gerichte sein muss.
Wir sprechen über aktuelle Entwicklungen der Kriminalität in London. Dabei kommen wir schnell auf die steigenden Probleme mit Bandenkriminalität und die schon letzte Woche erwähnten County Lines zu sprechen. Der Fall, den ich am Ende des letzten Berichts kurz umrissen habe, ist offenbar keine Seltenheit. Das Vorgehen ähnelt sich: Kinder und Jugendliche werden von Teilen der organisierten Kriminalität bewusst an harte Drogen herangeführt, um sie anschließend als Kuriere für den Drogenhandel außerhalb Londons zu missbrauchen. Viele der Jugendlichen tragen illegale Waffen, insbesondere Messer mit sich, um sich gegen Angriffe verfeindeter Dealer zu verteidigen. (Bewaffnete Gewalt mit Messern ist seit einigen Jahren im ganzen Land ein großes Problem.)
Ein typisches Vorgehen besteht darin, dass die Kinder und Jugendlichen in den Dörfern und Kleinstädten der Umgebung eine vulnerable Person suchen, z. B. allein lebende Ältere oder Menschen mit einer Behinderung, und unter Androhungen von Gewalt einige Wochen in deren Unterkünften hausen und die aus London mitgebrachten Drogen verkaufen. Das Phänomen wird auch als “modern slavery” bezeichnet. Es wurden Gesetze verändert (“Modern Slavery Act 2015”) und neue Teams ins Leben gerufen, um dem Problem zu begegnen, und tatsächlich sind zumindest für Barnet die Zahlen seit einigen Jahren rückläufig.
Die Schwierigkeit im Umgang mit den betreffenden Kindern und Jugendlichen ist, dass sie häufig unter Druck oder Zwang erwachsener Krimineller handeln und daher zugleich als Opfer und Täter*innen betrachtet werden müssen. Sie stellen eine Gefährdung der Gemeinschaft dar und werden zugleich oft selber Opfer von Straftaten.
Diese Gleichzeitigkeit bildet auch die Grundlage der Arbeit mit den betreffenden Kindern und Jugendlichen. Als Reaktion auf die steigenden Zahlen wurde das “Rescue and Response County Line Project” ins Leben gerufen, das auf der Annahme beruht, dass die Betreffenden neben einer strafrechtlichen Reaktion Unterstützung und Schutz bedürfen. Meine Gesprächspartnerin schildert, dass es oft schwierig ist, die richtige Balance zwischen Hilfe und Kontrolle zu finden.

Flyer für Jugendliche mit einer elektronischen Fußfessel

Ein Teil der Kontrolle kann eine sogenannte “Intensive Supervision und Surveillance-Order” (ISS) sein. Das bedeutet, dass der oder die betreffende Jugendliche zu bestimmten Zeiten, z. B. zwischen acht Uhr abends und sechs Uhr morgens, das Haus nicht verlassen oder bestimmte Areale der Stadt nicht betreten darf. Überwacht wird dies in Fällen mit geringerem Risiko durch regelmäßige unangekündigte Besuche der Polizei oder, in schwereren Fällen, durch eine elektronische Fußfessel. Jugendliche, die eine ISS-Order erhalten, müssen außerdem einmal täglich von den in den YSJ zuständigen Kolleg*innen kontaktiert werden. Diese Maßnahme stellt das letzte Mittel dar, bevor eine Gefängnisstrafe verhängt wird.
Am Dienstag hospitiere ich bei einem Gespräch mit einer Vierzehnjährigen, die eine ISS-Order erhalten hat und eine elektronische Fußfessel trägt. Sie gehört zu einer kleinen Gruppe von Jugendlichen, die durch mehrere zum Teil schwerwiegende Raubüberfalle und Körperverletzungen aufgefallen sind. Zu ihrer richterlichen Weisung gehört, dass sie mit keinem der anderen Kontakt aufnehmen darf. Sie darf außerdem ihr Elternhaus nach acht Uhr abends nicht verlassen und den Park, den eines ihrer Opfer auf dem Weg zur Arbeit durchquert, nicht betreten.
In dem heutigen Gespräch geht es unter anderem darum, dass sie “breach” begangen, also die richterlichen Weisungen missachtet hat. Die zuständige Case Managerin hält ihr eine Liste vor, an mehreren Tagen ist die Jugendliche erst kurz nach acht oder halb neun nach Hause gekommen. In diesem Fall wurde festgelegt, dass ab einer Abweichung von zwei Stunden das Gericht informiert werden muss – wobei die Zeiten sich addieren, d. h. kommt die Jugendliche vier Mal eine halbe Stunde zu spät, gibt es eine neue Gerichtsverhandlung. Vor Gericht würde dann geprüft werden, ob die ISS-Ordner noch ausreicht, um die Öffentlichkeit zu schützen. Unter Umständen kann eine Haftstrafe verhängt werden. Bislang hat sie das Limit von zwei Stunden nicht erreicht und erhält daher eine “final warning”, eine letzte Warnung.

Gerichtsgebäude

Am Mittwoch hospitiere ich im Youth Court Willesden. Im Gegensatz zum letzte Woche besuchten Crown Court handelt es sich hierbei nicht um ein höheres Gericht, sondern ein normales Strafgericht, das sich mit einfachen Jugend- und Erwachsenenverfahren befasst.

Anders als in Deutschland gibt es keine eigenen Jugendabteilungen. Die mit Jugendsachen befassten Richter*innen müssen zwar entsprechende Weiterbildungen besucht haben, bearbeiten jedoch Verfahren gegen Erwachsene gleichermaßen. Als ich zusammen mit einer Kollegin den Gerichtssaal betrete, staune ich nicht schlecht, dass der Raum voller Menschen ist: Anwält*innen, Vertreter*innen der Medien und Sozialarbeiter*innen aus anderen Bezirken reden laut durcheinander.
Als der Richter den Saal betritt, ruft “Madame Usher” – sie ist dafür zuständig, korrekte Abläufe sicherzustellen – mit lauter Stimme zur Ordnung und fordert alle Anwesenden auf, sich zu erheben. Nachdem der Richter sich gesetzt hat, fragt er Madame Usher, welche Angelegenheit bereit ist, worauf mehrere Verteidiger*innen sich erheben und zu sprechen beginnen. Wer immer sich an den Richter wendet, muss sich erheben und ihn mit “his honoured judge” oder “your worship” ansprechen (wobei meine Kollegin erklärt, dass manche Richter*innen es damit nicht genau nehmen und mit einem einfachen “judge” Vorlieb nehmen). Madame Usher ruft erneut zur Ordnung und nennt einige Namen, deren Verfahren bereit sind.
Es werden zunächst mehrere kurze Verfahren gegen Erwachsene verhandelt, die allesamt nicht länger als fünfzehn Minuten dauern, da die Angeklagten auf schuldig plädieren. Es geht um Delikte wie Drogenbesitz in geringen Mengen oder Vergehen im Straßenverkehr. Trotz der Geringfügigkeit der Delikte sitzen die Angeklagten in einem Kasten aus Panzerglas und müssen fast rufen, um sich verständlich zu machen. Wer an diesen Verfahren nicht beteiligt ist (wie wir selber), bleibt einfach sitzen und arbeitet am Laptop – wie auch in Deutschland sind die Verfahren öffentlich, aber anders als dort herrscht ein ständiges Kommen und Gehen. Wenn man den Saal verlässt, muss man übrigens dem oder der Richter*in Ehre erweisen, indem man sich in der Tür kurz umdreht und in Richtung Richterpult nickt.

Ebenso wie in Deutschland sind Verfahren gegen Minderjährige auch in England nicht öffentlich. Als die erste Jugendsache verhandelt werden soll, geht Madame Usher durch den Saal und fordert rigoros alle nicht mit der Sache befassten Personen auf, den Saal zu verlassen.

Der erste Jugendliche, der vor Gericht erscheint, ist derselbe, über den ich am Anfang des Berichts letzte Woche berichtet habe und der seit einer Woche in Untersuchungshaft sitzt bzw., um genau zu sein, in einer geschlossenen Einrichtung für Jugendliche zur Haftvermeidung, wie es sie auch in Deutschland gibt. Bei der heutigen “court session” handelt es sich nicht um die Hauptverhandlung, sondern um einen Termin zur Haftprüfung. Der Jugendliche hat beantragt, “on bail”, also unter bestimmten Bedingungen auf Probe freigelassen zu werden. Die Kollegin der YJS berichtet über den Verlauf der Arbeit mit dem Jugendlichen. Da er, wie letzte Woche bereits beschrieben, in letzter Zeit nicht mehr zuverlässig zu Terminen erschienen ist, weist der Richter sein Anliegen ab.
Bei der zweiten Jugendlichen sollte heute eigentlich die Hauptverhandlung stattfinden, doch die Sache verzögert sich, da ein Polizeibeamter als Zeuge nicht anwesend ist und die Staatsanwältin und die Verteidigerin sich über bestimmte Beweise, die noch eingeholt werden sollen, nicht einig sind.
Die Jugendliche trägt ebenfalls eine elektronische Fußfessel, in ihrem Fall handelt es sich jedoch nicht um eine ISS-Ordner, sondern eine “Bail Condition”. Wie der vorherige Jugendliche saß sie, da sie auf nicht schuldig plädiert hat, nach der Tat in Untersuchungshaft. Sie kam unter bestimmten Voraussetzungen, wie z. B. die elektronische Fußfessel zu tragen, frei und darf bislang bis sechs Uhr abends nicht das Haus verlassen. Da aufgrund der fehlenden Beweise keine Beweisaufnahme stattfindet, stellt ihre Verteidigerin den Antrag, diese Bail Condition aufzuheben, da die Jugendliche die Fußfessel seit drei Monaten trägt, sich nichts zuschulden kommen lassen hat und ihre Termine bei den YJS zuverlässig wahrnimmt.
Da die Jugendliche jedoch unter den Augen der Staatsanwältin mit dem Opfer der Tat aneinandergerät und dieses beschimpft, entscheidet sich der Richter gegen eine Aufhebung der Bail Condition, mindert diese jedoch insofern, als dass er der Jugendlichen zwei Stunden länger gewährt, sodass sie künftig erst um acht Uhr abends zuhause sein muss.

Ausschnitt aus einem Manual zur Restaurative Justice

Abends hospitiere ich bei einer Gruppenveranstaltung für straffällige Jugendliche zum Thema “Victim Awareness”. Neben dem für diesen Bereich spezialisierten Sozialarbeiter und den Jugendlichen nimmt außerdem eine ehrenamtliche in diesem Bereich arbeitende Frau aus dem Bezirk teil. Die Gruppe befindet sich bereits in der fünften Sitzung und hat sich intensiv mit den Auswirkungen von Straftaten auf die Opfer und Möglichkeiten der Wiedergutmachung beschäftigt.
In der heutigen Sitzung geht es um den sogenannten “Ripple Effect” (Ripple = Welle), der beschreibt, welche Auswirkungen ein Verbrechen über das unmittelbare Opfer hinaus auf die Community hat.
In das rechts abgebildete Arbeitsblatt tragen die Jugendlichen ihre Ideen ein, wer außer dem Opfer von der Straftat betroffen ist. Vielen fallen als Erstes die eigenen Eltern und Geschwister ein, die sich Sorgen machten und schockiert waren, als plötzlich die Polizei vor der Tür stand. Die Ehrenamtlerin, die in der Nähe eines Parks wohnt, der schon mehrfach Tatort von bewaffneten Raubüberfällen war, erzählt, dass viele, insbesondere ältere Menschen in der Nachbarschaft sich nicht mehr in den Park trauen und weite Umwege für ihre Einkäufe in Kauf nehmen.
“Darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht”, sagt eine Jugendliche, und ein anderer berichtet von seiner eigenen Großmutter, die das Haus kaum noch verlässt, seit sie Zeugin einer Schlägerei wurde. Anschließend richtet der Sozialarbeiter das Gespräch auf das Umfeld und die Familie des Opfers und fragt die Jugendlichen, wie es ihren Eltern gehen würde, wenn sie selber Opfer eines Raubes werden würden.
“Wenn ihr eine Straftat begeht, schadet ihr nicht nur den Opfern und euch selbst, sondern eurer ganzen Nachbarschaft”, erklärt der Sozialarbeiter zum Abschluss der Sitzung.

Am Donnerstag lerne ich einen weiteren Jugendlichen bei einem Hausbesuch kennen. Die Arbeit mit ihm gestaltete sich bisher schwierig, mehrmals hat er die zuständige Case Managerin auf das Schwerste beleidigt und beschimpft und einmal in großer Runde bei einem der regelmäßig stattfindenden Review Meetings (siehe unten) sogar bedroht. Daher sollen Gespräche mit diesem Jugendlichen künftig zu zweit durchgeführt werden.
Da eine Kollegin kurzfristig erkrankt ist, begleite ich die Case Managerin zu dem Hausbesuch. Noch im Auto ruft uns die Mutter des Jugendlichen an und erklärt hörbar erleichtert, dass er zuhause ist und das Gespräch wahrnehmen wird. Das Verhalten des Jugendlichen wurde dem Gericht bereits zurückgemeldet, eine Anhörung vor Gericht steht noch aus. Wenn der Jugendliche nicht mit den YJS mitarbeitet, droht ihm eine Haftstrafe.
Im Zimmer des Jugendlichen erwartet er uns gemeinsam mit einem Freund und äußert den Wunsch, dass dieser bei dem Gespräch dabei bleiben darf. Der Freund ist dem YJS nicht bekannt. Die Case Managerin ist einverstanden, da sie es positiv findet, dass der Jugendliche Kontakte außerhalb der Gruppe, mit der er Straftaten verübte, knüpft.
Aufgrund der oben beschriebenen Umstände war eine konstruktive Arbeit mit dem Jugendlichen bislang kaum möglich, sodass es für die Case Managerin heute nicht um bestimmte Themen, sondern einfach um den Aufbau einer Beziehung geht.
Das Gespräch kommt zunächst schleppend voran. Der Jugendliche wird zwar nicht ausfällig, macht aber durch Augenrollen und demonstratives Gähnen deutlich, dass er die Gespräche als Zeitverschwendung ansieht. Die Case Managerin zieht ein Kartenspiel aus der Tasche. Auf den Karten stehen Fragen, teilweise zu unverfänglichen Smalltalk-Themen (“Wohin würdest du gerne einmal reisen?”) und teilweise zu persönlicheren Dingen (“Wie stellst du dir dein Leben in fünf Jahren vor?”). Wir ziehen abwechselnd Karten und stellen einander Fragen. Der Freund des Jugendlichen scheint mit gutem Beispiel vorangehen zu wollen, und der Jugendliche, um den es hier geht, taut selber nach und nach auf und versucht, auch persönliche Fragen zu beantworten, wobei er immer wieder darauf hingewiesen werden muss, das Ganze nicht ins Lächerliche zu ziehen.

Ausschnitt aus einem digitalen Flyer, mit dem die YSJ neue Ehrenamtliche suchen

Am Donnerstagabend findet ein weiteres Team-Meeting statt – das sogenannte Youth Referral Order Review Panel. Dabei geht es darum, den Verlauf einer richterlichen Weisung in regelmäßigen Abständen zu überprüfen. Anwesend sind neben den Jugendlichen und deren Eltern die jeweils zuständigen Case Manager, eine Team Managerin sowie wiederum zwei Ehrenamtlerinnen aus der Community, von denen ich eine bereits kennengelernt hatte.

Die Moderation der Gespräche übernehmen abwechselnd die beiden Ehrenamtlerinnen. Sie befragen zunächst die Jugendlichen und anschließend die jeweiligen Case Manager nach den Fortschritten und möglichen Problemen mit der Order. Da in Deutschland keine ehrenamtlich arbeitenden Menschen auf diese Weise in die Arbeit der Jugendgerichtshilfe eingebunden werden, ist es für mich spannend zu beobachten, welche Auswirkungen dies auf die Atmosphäre des Gesprächs hat.
Die Ehrenamtlerinnen plaudern zunächst über allgemeine Themen, die den Bezirk gerade beschäftigen, wie das Abschneiden des regionalen Fußballvereins, bevor sie auf das eigentliche Thema kommen. Ich habe den Eindruck, dass es zumindest einigen Jugendlichen leichter fällt, sich zu äußern. Das ganze Meeting wirkt so, als würden die Jugendlichen die Wiedergutmachung für ihre Straftaten und ihre persönliche Entwicklung vor der Community erklären. Die meisten erfüllen ihre richterlichen Weisungen zuverlässig und sind polizeilich nicht mehr aufgefallen. Fortschritte bezüglich der Schulbildung oder anderer Lebensbereiche werden exzessiv von der Runde gefeiert.
Erst bei dem letzten Jugendlichen, bei dem das Gespräch einen kritischen Verlauf nimmt, greift die zuständige Case Managerin ein. Der Jugendliche macht sich über die Fragen der Ehrenamtlerin lustig und macht deutlich, dass er die Weisung des Gerichts nicht ernst nimmt. Auf kritische Rückfragen der Ehrenamtlerin greift seine Mutter ein. Er sei unschuldig verurteilt worden, die Behörden seien schuld, dass er die Schule nicht besuche, man hätte sich gegen sie und ihren Sohn verschworen. Sie steigert sich so sehr in die Verteidigung ihres Sohnes hinein, dass sie die Ehrenamtlerin persönlich beschimpft, was wiederum dem Jugendlichen sichtlich unangenehm ist, und er versucht, seine Mutter zu bremsen. An diesem Punkt entscheidet die Case Managerin, das Gespräch zu beenden. In der nächsten Teamsitzung soll besprochen werden, inwieweit es noch Sinn ergibt, die richterliche Weisung durchzuführen oder ob die Sache erneut vor Gericht kommen muss.

Anmerkung: Bei allen Fallgeschichten habe ich mich bemüht, Details zu verändern, ohne den Sinn zu entstellen, um die Anonymität der Klient*innen zu wahren.

Die dritte Woche in London endet und war so ereignisreich, dass ich hier nur Ausschnitte der Arbeit präsentieren kann! Ich war an vielen schönen, Hoffnung machenden Gesprächen beteiligt sowie an einigen tragischen, was bei dieser Arbeit nicht ausbleibt. Außerdem habe ich viele erinnerungswürdige Stunden in London verbracht:

  • Seitenstraße in der City of London, im Hintergrund "The Shard"

    Seitenstraße in der City of London, im Hintergrund "The Shard"

  • Blick über die City vom Parliament Hill im Park Hampstead Heath

    Blick über die City vom Parliament Hill im Park Hampstead Heath

  • Arbeitszimmer des jung verstorbenen romantischen Dichters John Keats

    Arbeitszimmer des jung verstorbenen romantischen Dichters John Keats

  • Gegenwärtige Kunst von Mohammed Sami im Camden Art Centre

    Gegenwärtige Kunst von Mohammed Sami im Camden Art Centre

  • Abendliche Stimmung im eher ruhigen Hampstead

    Abendliche Stimmung im eher ruhigen Hampstead

  • Big Ben

    Big Ben

Vierte Woche

Die letzte Woche beginnt, die ersten Gedanken an den baldigen Abschied kommen auf. Ich habe das Gefühl, dass für jede Sache, die ich verstehe, drei neue Dinge auftauchen, die ich nicht verstehe, und mir wird klar, wie viel Zeit ich bräuchte, um wirklich alles zu begreifen. Mehrere Kolleg*innen haben inzwischen Interesse angemeldet, einen Gegenbesuch in Berlin zu machen.

Am Montag bin ich nicht im Büro, sondern an der frischen Luft. Den Vormittag verbringe ich in einem Jugendzentrum, wo eine Case Managerin die Jugendlichen, die Sozialstunden ableisten müssen, bei der Arbeit begleitet. Die Jugendlichen streichen Holzbänke neu, pflanzen Blumen, säubern Beete etc. Jugendzentrum ist im Grunde der falsche Ausdruck, es handelt sich eher um ein Haus für alle möglichen Generationen. Neben Kindergruppen und Veranstaltungen für Jugendliche finden hier auch Seniorentreffen und Ähnliches statt. Ich treffe auch eine der Ehrenamtlichen wieder, die ich bereits kennengelernt habe und die auch hier engagiert ist.

Während die Jugendlichen bei der Arbeit sind, kommen immer wieder ältere Besucher*innen vorbei. Manchmal entspinnen sich kleine Gespräche, manchmal gehen sie den Jugendlichen beim Umpflanzen oder Streichen zur Hand. In der Küche, in der für eine spätere Veranstaltung gekocht wird, bekomme ich aber auch mit, dass einige Besucher*innen große Berührungsängste zu den straffälligen Jugendlichen haben, wobei die Mitarbeiter*innen des Zentrums immer wieder versuchen, die Menschen zu Gesprächen zu ermutigen.

Fußballplatz

Am späten Nachmittag kommen zwei weitere Kollegen aus dem Büro dazu und holen den zum Zentrum gehörenden Kleinbus ab. Heute findet das regelmäßig stattfindende Fußballtraining für Klient*innen der YJS statt. Dabei handelt es sich nicht um eine richterliche Weisung, die Teilnahme ist freiwillig, aber es wird vom Gericht gerne gesehen, wenn die Jugendlichen an solchen sog. “positive activities” teilnehmen.

Mit dem Bus fahren wir durch den Bezirk und sammeln die Jugendlichen ein. Das Training findet auf mietbaren Plätzen statt, wie man sie nach Auskunft der Kollegen überall in England findet, wobei die Kosten nicht der Bezirk trägt, sondern der Premier-League-Verein Tottenham Hotspur. Seit einigen Jahren haben die Vereine der Premier League sich verpflichtet, wohltätige Stiftungen zur Jugendförderung zu gründen. Jeder Verein beschäftigt ein Team professionell ausgebildeter Trainer*innen, die an Grundschulen, Jugendzentren usw. Training anbieten. Da Barnet selber keinen Club in der Premier League hat, kooperiert die YJS mit dem Nordlondoner Club Tottenham.

Die Jugendlichen üben Passspiel, Schusstechnik, Ecken usw. Jungs und Mädchen und unterschiedliche Altersgruppen trainieren gemeinsam. Beim Trainingsspiel später machen auch die Sozialarbeiter*innen, ein inzwischen dazugestoßener, auf Jugendkriminalität spezialisierter Polizist und ich selber mit. Trotz der Februarkälte dauert das Spiel bis in die Abendstunden, dann steigen alle wieder in den Bus. Auf dem Rückweg unterhalte ich mich mit einem Jugendlichen, der, wie im Training deutlich wurde, sehr talentiert ist und insgeheim die Hoffnung hegt, der Trainer könnte die Scouts des Vereins auf ihn aufmerksam machen. Wie ich später erfahre, gab es bereits einige Jugendliche, die über diese wohltätigen Förderprogramme entdeckt wurden und jetzt in der Premier League spielen.

Themse am Abend

Am Dienstag habe ich die Gelegenheit, über den Tellerrand meines Bereichs zu schauen, indem ich einen Tag im sogenannten MASH-Team hospitiere. Dieses Team wird umgangssprachlich als “Front Door” (Eingangstür) des Jugendamtes bezeichnet. Hier gehen alle Ersuche um Hilfe, Polizeiberichte, Anfragen und vor allem Kinderschutzmeldungen ein.

Wie die langjährige Mitarbeiterin mir erklärt, machen die Sozialarbeiter*innen zu jedem eingehenden Fall zuerst eine erste Risikoeinschätzung anhand eines Ampelsystems. Die Einschätzung wird von der Leitung abgesegnet und gibt vor, ob die betreffende Familie innerhalb weniger Stunden kontaktiert werden muss oder ob mehrere Tage ausreichen. Die Aufgabe des MASH-Teams ist es, eine Diagnostik der Situation zu leisten und akute Krisen zu bearbeiten und akuten Kindeswohlgefährdungen entgegenzuwirken. Nach einer Woche werden die Fälle an spezialisierte Teams weitergegeben, wenn nach wie vor eine Gefährdung vorliegt.

Heute beschäftigt die Sozialarbeiterin vor allem der Fall eines – vermutlich – dreijährigen Kindes, das in der vergangenen Nacht alleine in einem Supermarkt aufgefunden wurde. Die Polizei hat das Kind in eine Kriseneinrichtung für kleine Kinder gebracht. Nachdem wir die neuen Meldungen des Tages bearbeitet und Ersteinschätzungen vorgenommen haben, machen wir uns auf den Weg in die Einrichtung, um mit dem Kind zu sprechen. In der Einrichtung spielen wir zunächst eine Weile mit Spielzeugautos und bauen eine Straße quer durch den Raum. Das Kind wirkt auf den ersten Blick unauffällig und interagiert (zumindest augenscheinlich) recht entspannt mit anderen Kindern sowie Erwachsenen. Es nennt seinen Vornamen; bei Fragen nach seinem Nachnamen, Adresse, Geburtsdatum oder nach Vornamen seiner Eltern wirkt es ratlos. Die Sozialarbeiterin beruft ein Teams-Meeting ein mit der Leitung und einem Kollegen des Child-in-Care-Teams, die sich um Kinder kümmern, die fremduntergebracht werden müssen. Glücklicherweise findet sich noch am selben Tag eine Familie, die das Kind zur Kurzzeitpflege aufnimmt.

Einige Tage später treffe ich mich mit der Sozialarbeiterin des MASH-Teams zum Lunch und erfahre, dass die Polizei inzwischen herausgefunden hat, dass die alleinerziehende Mutter des Kindes es mit in eine Kneipe genommen und sich dort stark betrunken hat. Sie habe sich einen Tag später bei der Polizei gemeldet und der Sozialarbeiterin geschildert, dass sich ihr Alkoholkonsum seit Monaten steigere und sie die Kontrolle verloren habe. Voraussichtlich wird sie nun eine stationäre Suchtbehandlung machen und das Kind in dieser Zeit bei der Kurzzeitpflegefamilie bleiben.

Tower Bridge und The Shard von der Themse aus

Beim Gerichtstag am Mittwoch bekomme ich dieses Mal auch strittigere Fälle mit als bisher. Besonders ein Fall erhitzt die Gemüter der Verteidigung und der Staatsanwaltschaft, die Beweisaufnahme nimmt mehrere Stunden in Anspruch.

Einige Zeug*innen wollten dem Angeklagten nicht begegnen und werden deshalb via Bildschirm befragt. Alle Zeug*innen leisten einen Schwur, “die Wahrheit und nichts als die Wahrheit” zu sagen. Die gegen Ende der Beweisaufnahme befragte Polizistin antwortet zunächst auf die Fragen des Richters eindeutig und umfassend. Anschließend wird sie von der Verteidigung und der Staatsanwaltschaft ins Kreuzverhör genommen, das ähnlich abläuft, wie man es aus englischen und amerikanischen Filmen kennt. In einer für mein Gefühl unglaublich hohen Geschwindigkeit (hier komme ich mit meinem Englisch eindeutig an eine Grenze) wird die Zeugin mit Fragen regelrecht bombardiert, wobei die Parteien immer wieder Einspruch einwerfen (z. B. wegen Suggestivfragen oder unzulässigen Schlussfolgerungen), dem teilweise stattgegeben wird und teilweise nicht. Nach und nach wird die Zeugin merklich unsicher und widerspricht sich in kleinen Details, was schlussendlich dazu führt, dass die Verteidigung die Beweiskraft ihrer Aussage insgesamt in Zweifel ziehen kann.

Im Vergleich mit Deutschland würde ich sagen, dass Gerichtsverhandlungen wesentlich formeller ablaufen und stärker an zum Teil sehr alte Traditionen gebunden sind. Was mir gut gefällt, ist, dass die YJS ihre Berichte erst schreiben, nachdem der oder die Beschuldigte sich entweder schuldig bekannt hat oder für schuldig befunden wurde. In Deutschland schreiben wir die Berichte in der Regel vor der Hauptverhandlung, in vielen Fällen ohne sicher sein zu können, ob es überhaupt zu einer Verurteilung kommt. Bei den Gesprächen, an denen ich in Barnet teilgenommen habe, hatte ich den Eindruck, dass es für die Gesprächsführung von Vorteil ist, dass die Beweisaufnahme bereits vorher abgeschlossen wurde und der oder die Beschuldigte dadurch freier sprechen kann.

Die mehrere hundert Meter lange "Covid Memorial Wall" – Bürger*innen Londons kleben hier Herzen zur Erinnerung an die Verstorbenen an die Wand.

Auch am Donnerstag schaue ich mich nochmals außerhalb der YJS um und spreche mit einer Psychologin aus dem oben genannten Child-in-Care-Team, die eigens für die sogenannte “Life Story Work” zuständig ist. Darunter versteht man die biografische Aufarbeitung mit Kindern, die von ihren Familien getrennt werden mussten, sei es aufgrund von Vernachlässigung, Todesfällen oder anderen Gründen.

Die Psychologin zeigt mir ein Fotoalbum, das sie für jedes der betreffenden Kinder anlegt und ihnen zum zehnten Geburtstag überreicht. In mehreren Gesprächen geht sie zuvor die Biografie mit den Kindern durch. Sie recherchiert anhand der Akten und anhand von Gesprächen mit Pflegeeltern, Kolleg*innen aus anderen Teams etc. die Hintergründe, warum die Kinder nicht in ihrer Ursprungsfamilie leben. Später schreibt sie an jedes Kind einen etwa fünfundzwanzig Seiten langen Brief, von denen sie mir einen zum Lesen gibt.

In diesem Brief schildert sie zunächst sehr ausführlich, imaginativ und mit liebevollen Details alles, was sie über die Fallgeschichte rekonstruieren kann. Besonders eindrücklich finde ich die Beschreibung eines Tages, an dem die Mutter ihr Kind noch im Säuglingsalter an die Pflegefamilie übergab. Kinder in Pflegefamilien und Einrichtungen, erklärt sie mir, spüren häufig eine Lücke, ein Gefühl, ohne Herkunft zu sein. Deswegen spricht sie auch, soweit verfügbar, mit der Verwandtschaft der Eltern, beschreibt Großeltern, Urgroßeltern, wie und wo diese gelebt haben usw. Dies soll den Kindern im späteren Leben die Aufarbeitung der eigenen Biografie erleichtern.

Blick über London vom Greenwich Park

Am Freitag kommt der Tag des Abschieds. Es sind mehr Kolleg*innen ins Büro gekommen als an Freitagen üblich. In der Teamsitzung hatte ich einen Vortrag zur JGH-Arbeit in Deutschland gehalten, und heute werde ich mit Fragen gelöchert – besonders für die vielen speziellen Beratungsangebote, die Freie Träger in Berlin anbieten, interessieren sich die Kolleg*innen sehr. Es gibt Burger und Jam Donuts, und wir feiern eine kleine Abschiedsfeier. Ich werde eingeladen, jederzeit wiederzukommen, und mindestens fünf Kolleg*innen möchten an einem Austausch in Berlin teilnehmen, wenn der Arbeitgeber eine Möglichkeit der Finanzierung findet. Sollte im Rahmen von LoGo! Europe in Zukunft jemand aus der JGH oder einem anderen Fachbereich in London hospitieren wollen, ist man in Barnet sehr an einer weiteren Zusammenarbeit interessiert.

Ausflug nach Richmond am letzten Wochenende

Während ich mich in den nächsten Tagen von der Stadt verabschiede und schließlich nach Hause fliege, denke ich viel darüber nach, was ich aus meiner Zeit in Barnet mitnehme – abgesehen von neuen Bekanntschaften, tollen Erinnerungen und den vielen Eindrücken aus der Stadt.

Insbesondere denke ich dabei immer wieder an die Art und Weise, wie hier Opfer von Straftaten und Freiwillige aus der Community in die Arbeit mit straffälligen Jugendlichen einbezogen werden. Dadurch wird die strafbare Handlung in einen größeren Kontext gestellt, was nach meinem Eindruck sehr hilfreich ist, um Empathie zu entwickeln und die Folgen des eigenen Handelns zu ermessen. Insbesondere denke ich an den “Victim Awareness”-Kurs, den ich letzte Woche beschrieben habe, und beschäftige mich mit den Möglichkeiten, ein vergleichbares Angebot in Berlin aufzubauen.

Ein weiterer Unterschied, über den ich viel nachdenke, ist die Zusammenarbeit in multiprofessionellen Teams. Ich hatte hier in Barnet den Eindruck, dass Mitarbeiter*innen verschiedener Professionen und Institutionen sehr eng zusammenarbeiten und es selbstverständlich zur Arbeitskultur gehört, dass man regelmäßige Meetings gemeinsam durchführt. Inwieweit Teile davon in meinen Arbeitsalltag übertragbar sind, kann ich jetzt noch nicht sagen.

Davon abgesehen nehme ich aus den Gruppenangeboten und Einzelgesprächen, an denen ich teilgenommen habe, eine Vielzahl Methoden und kleiner Tools mit, die ich (in angepasster Form) in meine eigene Arbeit integrieren kann, wie zum Beispiel das Arbeitsblatt zum Ripple Effect, über den ich vergangene Woche geschrieben habe.

Der Perspektivwechsel durch den Blick in dieselbe Arbeit in einem anderen Land war äußerst lehrreich. Beim Vergleich der Arbeit mit straffälligen Jugendlichen in London und Berlin hat sich öfter ein paradoxes Gefühl eingestellt: Wir machen dasselbe, aber kein Arbeitsschritt hier gleicht dem in Berlin. In gewisser Weise hatte ich in Barnet das Gefühl, dieselbe Arbeit zu machen wie in Berlin, und gleichzeitig fühlte sich die Arbeit vollständig anders an. Ich vermute, das hat damit zu tun, dass das Ziel dasselbe ist – jugendliche Straftäter*innen darin zu unterstützen, keine weiteren Taten zu begehen und ihre Möglichkeit auszuschöpfen. Das Ziel ist dasselbe, aber der Weg ist ein anderer. Dies hängt nach meinem Dafürhalten nicht nur mit einzelnen Sozialarbeiter*innen oder Teams und deren Methoden zusammen, sondern auch mit der generellen Haltung, die eine Gesellschaft Jugendlichen und insbesondere jugendlichen Straftäter*innen entgegenbringt. Diese Haltung spiegelt sich in Gesetzen wider und auch in der Art und Weise, in der Sozialarbeiter*innen, Richter*innen, Polizist*innen usw. mit den betreffenden Jugendlichen umgehen.

Die Zeit in Barnet war für mich und hoffentlich auch für die Kolleg*innen in London eine Chance, diese Haltung in einem internationalen Vergleich neu zu betrachten. Der Dialog geht in jedem Fall weiter. Ich schreibe das Ende meines Berichts, als ich schon wieder in Deutschland bin und in meinen eigenen Fällen stecke – und gleichzeitig beantworte ich Mails von Kolleg*innen aus London, in denen wir die begonnenen Diskussionen (z. B. um die in England nicht mögliche Anwendung des Jugendstrafrechts auf Heranwachsende) fortsetzen.

Ich bin den Organisator*innen von LoGo! Europe, den Kolleg*innen in Barnet und insbesondere meinem Team hier in Berlin, das meine Fälle in den vier Wochen so perfekt vertreten hat, dankbar, dass ich diese Erfahrung machen durfte, und möchte jedem und jeder Interessierten unbedingt empfehlen, den Blick über den Tellerrand zu wagen!

Ankunft in Berlin

Ankunft in Berlin