Wahrscheinlich hören viele von Ihnen heute zum ersten Mal von Pfarrer Johann Christian Gottfried Dressel. Obwohl er Charlottenburg vor 200 Jahren entscheidend prägte, ist er heute fast vergessen. Pfarrer Dressel lebte von 1751 bis 1824 und führte 46 Jahre lang die Evangelisch-Lutherische Kirchengemeinde. Dabei wirkte er weit über die Kirche hinaus. Er reformierte das Schulsystem, führte moderne Lehrmethoden ein, ließ ein Schulgebäude errichten, legte einen neuen Friedhof an und
gründete ein Krankenhaus für Bedürftige. In seinen Tagebüchern und Chroniken dokumentierte er die Entwicklung der Gemeinde und Stadt. Seine Bemühungen und Ideen für ein modernes Charlottenburg und hinterließen ein nachhaltiges Erbe.
Wir reisen heute rund 250 Jahre zurück in die Zeit von Johann Christian Gottfried Dressel. Lassen Sie mich Ihnen also ein wenig dazu erzählen, wie Charlottenburg damals aussah und wie es sich hier so lebte.
Es war eine Zeit tiefgreifender politischer, sozialer und wirtschaftlicher Veränderungen in Preußen und Europa. Die Stadt Charlottenburg war damals viel kleiner als heute. Das Areal war zwischen 1720 und 1855 begrenzt durch die Spree im Norden, die Nehringstraße im Westen und die Achse Zillestraße/Loschmidtstraße im Süden und Osten. Als König Friedrich I. dem Ort 1705 nach dem Tod seiner Frau Sophie Charlotte die Stadtrechte und den Namen Charlottenburg verlieh, wohnten hier nur eine Handvoll Hofbedienstete in einigen Häusern entlang der heutigen Schlosstraße. Als die Bürger Charlottenburgs 1711 vereidigt wurden, zählte man 87 “wirklich angebaut habende und seßhaft gemachte Personen”, 57 eingemietete Bewohner und 6 königliche Beamte. Das sind insgesamt 150 Menschen – nicht viel für eine Stadt.
Die Bevölkerung bestand hauptsächlich aus Bauern, Handwerkern, Tagelöhnern und Bediensteten des Hofes sowie einer wachsenden Zahl von Gewerbetreibenden und Kleinbürgern. Die Stadt war von der barocken Charlottenburger Residenz geprägt, die im Zentrum stand. Das sehen wir noch heute, dazu müssen wir nur einen Blick auf unser wunderschönes Schloss werfen.
Diese Pracht und der Reichtum waren nicht für alle da: Die Bevölkerung litt häufig unter Armut. Es war ein Nebeneinander aus dörflich-bäuerlichen Strukturen und höfisch-städtischem Leben. Dressel beschreibt Charlottenburg bis 1740 als einen „erbärmlichen Ort”. Der Einfall, zwischen Berlin und Spandau eine dritte Stadt zu gründen, sei sehr sonderbar gewesen, und die neue Stadt war aus eigener Kraft nicht überlebensfähig. Friedrich Wilhelm I. hatte sogar angeordnet, einen Teil der Einwohner nach Berlin umzusiedeln und Charlottenburg in ein Dorf zu verwandeln. Nur die Nachlässigkeit seiner Verwaltung und sein Tod 1740 verhinderten die Durchführung dieser Maßnahme. Ein Punkt, der Friedrich Wilhelm I. vielleicht auch abgehalten hat: Er hätte viele Schulden und andere Kosten abbezahlen müssen, das wäre sehr teuer für ihn geworden.
In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde Charlottenburg Ziel von Ausflüglern und Erholungssuchenden aus Berlin. Es waren das prächtige Lustschloss und der Charme einer Gartenstadt an der Spree, die viele Berliner zu einem Ausflug anlockten. Der Chronist Dressel staunte über diese unerwartete Entwicklung:
„Wer konnte damals vorhersehen, dass die Berliner an Sonn- und vielen Wochentagen Berlin verlassen, Meilen weit umher schwärmen und
ihr in der Woche verdientes Geld in Bier und Coffee Häusern daselbst verzehren würden?“
Zu Dressels Lebzeiten wuchs Charlottenburg von einem kleinen Dorf zu einer aufstrebenden Stadt. Um 1780 lebten hier etwa 2000 Menschen, 1800 waren es schon 3400. Gasthöfe und Schankwirtschaften entstanden und wurden zum wichtigsten Wirtschaftsfaktor. Auch der Personentransport zwischen Berlin und Charlottenburg florierte; einige wohlhabende Berliner fuhren mit dem Schiff oder Boot nach Charlottenburg. Immer mehr Adelige und reiche Bürger bauten Landhäuser und Paläste als Sommerresidenzen. Das bescheidene Wachstum wandelte Charlottenburg allmählich von der Ackerbürgerstadt zur bevorzugten Sommerresidenz der vornehmen Berliner.
Charlottenburg unterstand zu dieser Zeit der preußischen Monarchie, die von Friedrich Wilhelm I. (Regierungszeit 1713-1740) Friedrich II., dem Großen (1740–1786), über dessen Nachfolger Friedrich Wilhelm II. (1786–1797) bis hin zu Friedrich Wilhelm III. (1797–1840) regiert wurde.Preußen entwickelte sich im 18. Jahrhundert zu einer bedeutenden Militär- und Wirtschaftsmacht, doch das einfache Volk hatte mit harter Arbeit und Armut zu kämpfen. Die Schichten waren klar gegliedert, wobei Adlige und Bürger an Einfluss gewannen, während Bauern und Tagelöhner oft unter schwierigen Lebensbedingungen litten. Der Alltag der Menschen war von Arbeit in der Landwirtschaft, Handwerk oder Kleinhandel bestimmt, während Bildung und Wohlstand vor allem einer kleinen Elite vorbehalten waren. Dressels Engagement für Bildungsreformen zeigt, dass er hier einen Wandel vorantreiben wollte.
Die politische Situation in Preußen war instabil, geprägt von Kriegen und geopolitischen Konflikten. Friedrich der Große führte Preußen in den Siebenjährigen Krieg (1756–1763), wodurch Preußen sich als eine der fünf Großmächte Europas etablierte. Dieser Krieg hat Dressels Kindheit entscheidend geprägt. Dazu erzähle ich Ihnen später mehr. Während der Regierungszeit von Friedrich Wilhelm III. war Preußen in die Koalitionskriege gegen Napoleon verwickelt, was in der Niederlage gegen die Franzosen bei Jena und Auerstedt 1806 gipfelte. Die napoleonische Besetzung führte zu tiefgreifenden Reformen, die Dressel als Zeitzeuge miterlebte. Diese Reformen betrafen das Militär, die Verwaltung und die Gesellschaft, wie die Bauernbefreiung oder die Bildungsreformen.
Dressel lebte in einer Zeit, in der Preußen sich sowohl territorial als auch gesellschaftlich wandelte. Kriege, Reformen und der Aufstieg der bürgerlichen Schicht prägten das Leben der Menschen. Die wachsende Bedeutung von Bildung und sozialer Versorgung in dieser Zeit unterstrich die Notwendigkeit von Veränderungen, für die Dressel als Pfarrer und Reformer eintrat.
Gehen wir nun die Schloßstraße entlang bis zur Hausnummer 2. Da stand vor rund 300 Jahren das erste Charlottenburger Rathaus.