Tafeltext:
“Nachbarschaft ist eine geistige Energie (…) Sie ist ein Raum, den ein Fußgänger in etwa einer Viertelstunde durchquert, ein Raum, der der Erlebnisfreudigkeit des Kindes entspricht, groß genug, um Abenteuer darin anzusiedeln, klein genut, um das Gefühl der Heimat aufkommen zu lassen.”
Hans Scharoun 1927
Die Großsiedlung Siemensstadt gehört heute zu den bekanntesten Siedlungen der Weimarer Republik. Trotz der Namensgebung war der Siemenskonzern nicht an Planung und Finanzierung beteiligt, die Siedlung ist kein Werkwohnungsbau.
Die Siedlung verdankt ihre Entstehung einem Zusatzbauprogramm der Stadt Berlin, mit dem der fortschrittliche Stadtbaurat Martin Wagner die Idee der Großsiedlung verwirklichen und damit die Architektur des Neuen Bauens zum offiziellen Modell machen konnte.
Als Standort der Großsiedlung Siemensstadt wurde ein städtisches Gelände bestimmt, das ursprünglich Bestandteil der Jungfernheide war und zu den Bezirken Charlottenburg und Spandau gehörte. Eine 1929 als Betriebsstrecke der Firma Siemens errichtete Schnellbahnlinie zerschnitt das zukünftige Siedlungsgelände in zwei Teile, brachte der Siedlung aber einen günstigen Verkehrsanschluss.
Das Bestreben, “Licht, Luft und Sonne” für alle Bevölkerungsschichten zugänglich zu machen, sollte die Siedlung im damals noch wenig erprobten Zeilenbau errichtet werden. Um eine optimale Besonnung der Wohnungen zu erzielen, lagen die Wohnblöcke in strenger Nord-Süd-Richtung parallel zueinander, die Schlafräume nach Osten, die Wohnzimmer nach Westen orientiert. Die Hausreihen standen bevorzugt senkrecht zur Straße und waren über schmale Wohnwege zu erreichen. Dadurch konnte alte Bäume erhalten, größere Gartenanlagenverwirklicht und die Straßenbaukosten auf ein Minimum reduziert werden.
Der Architekt Fred Forbat erinnert sich:
“Unsere Gemeinschaft bestand aus Scharoun, Gropius, Bartning und Häring aus der radikalen Architektenvereinigung ‘Der Ring’, dazu mir und Henning außerhalb dieser Gruppe. (…)
Wir beschlossen in unserer ersten Sitzung, Siemensstadt in Zeilenbau zu errichten, und aus den Bebauungsskizzen, die jeder von uns vorzulegen hatte, wurde der Vorschlag von Scharoun zur Durchführung bestimmt.”
Hans Scharoun gestaltete den südlichen Siedlungsabschnitt als trichterförmige Verbindung zum Volkspark Jungfernheide. Hinter dem engen Brückendurchlass öffnete sich die Straße platzartig und sollte von Ladengebäuden umgeben werden. Als geschwungener Wohnblock schließt der Bauteil von Otto Bartning das Siedlungsgelände zur Siemensbahn ab. Auf dem großen gegenüberliegenden Areal reihen sich in Zeilenbauweise gestaffelt angeordnete Wohnhäuser, die den Verlauf der Straße nachvollziehen und zunächst durch eingeschossige Ladenbauten miteinander verbunden werden sollten. Auf diese Ladenzeile wurde bei der Ausführung verzichtet. Der östliche Block wurde Fred Forbat übertragen, die nach Westen anschließenden Hugo Häring. Die letzte Zeile flankiert zusammen mit dem gegenüberliegenden Block – beide von Walter Gropius – den Weg zum Volkspark Jungfernheide.
Der erste Bebauungsentwurf wurde Ende Januar 1929 eingereicht, im Juli 1929 begannen die Bauarbeiten, die ersten Wohnungen konnten zum 1.4.1930 bezogen werden. Kurz nach Fertigstellung wurde mit einer Erweiterung der Siedlung begonnen. Im Norden entstanden Hausreihen von Paul Rudolf Henning und Fred Forbat. Gleichzeitig mit diesem II. Bauabschnitt wurde der südliche Teil der ersten Pavillonschule Berlins nach Entwurf von Regierungsbaumeister Helmcke ausgeführt., mit sechs an einem langen Flur abwechselnd nach beiden Seiten angeordneten Klassenräumen. Bei gutem Wetter findet der Unterricht im Freien statt.
Trotz der modernen Architektur und Stadtplanung wurde die Siedlung in konventioneller Ziegelbauweise ausgeführt, die Aufgabe, “gesunde Wohnungen zu erschwinglichen Preisen zu schaffen, schließt die Möglichkeit aus, in größerem Umfange neue Bauverfahren zu erproben.
Das damit verbundene geldliche Risiko wäre zu groß und unverantwortbar”, hieß es im Erläuterungsbericht.
Lage:
Zwischen dem Volkspark Jungfernheide (seit 1920) und alter Siemenssiedlung
Bauherr:
Gemeinnützige Baugesellschaft Heerstraße mbH, seit 1936 GSW
I. Bauabschnitt 1928/29
II. Bauabschnitt 1929/30
Erweiterungsplanung von Fred Forbat nicht ausgeführt.
Ergänzungen nach 1933 (Gebäude am Heckerdamm von Paul Rudolf Henning)
Gesamtfläche: 139.731 qm
Bebaute Flüche: 28.632 qm
Wohnfläche: 78.585 qm
Garten- und Freiflächen: 111.099qm
Wohnungen: 1370
Läden: 14
Wohnfolgeeinrichtungen:
Zentrales Heizwerk mit Siedlungswäscherei von Otto Bartning, Pavillon-Schule von Regierungsbaurat Helmke