Sehr geehrte Damen und Herren!
Herzlich willkommen zu unserem 143. Kiezspaziergang.
Ich freue mich ganz besonders darüber, dass heute der israelische Botschafter Yakov Hadas-Handelsman gemeinsam mit seiner Frau Ita Hadas-Handelsman an unserem Kiezspaziergang teilnimmt. Sehr geehrter Herr Botschafter, es ist eine große Ehre für uns, dass Sie heute bei uns sind.
Der November ist für uns immer der Monat des Gedenkens und Erinnerns an die Geschichte des Nationalsozialismus, an die Verfolgung der Juden in unserem Bezirk.
In diesem Jahr, 75 Jahre nach dem Pogrom des 9. November 1938, gedenkt Berlin dieser Geschichte in einem Themenjahr unter dem Titel “Zerstörte Vielfalt”, und in diesem Jahr fällt unser November-Kiezspaziergang direkt auf den 9. November. Deshalb wollen wir uns heute besonders eingehend mit diesem Teil unserer Geschichte beschäftigen und entsprechende Erinnerungsorte in der City West besuchen.
Wir gehen durch die Uhlandstraße und Kantstraße zum Jüdischen Gemeindehaus an der Fasanenstraße, wo früher die große Charlottenburger Synagoge stand. Von dort werden wir durch die Fasanenstraße, Uhlandstraße und Ludwigkirchstraße zum Ludwigkirchplatz gehen.
Parallel zu unserem Kiezspaziergang veranstaltet das Kinder- und Jugendparlament Charlottenburg-Wilmersdorf heute von 14 bis 16 Uhr auf dem Olivaer Platz und dem Hochmeisterplatz eine Aktion unter dem Titel „Gelbe Bänke- Gegen das Vergessen“.
Die Mitglieder des KJP hüllen jeweils eine Bank in gelben Stoff und informieren mit Flyern über die Aktion. Der Bezirk Wilmersdorf führte als erster in Berlin im August 1937 die gelben Bänke für Juden ein. Die Kommunalverwaltung beschloss unter dem Nazi-Bezirksbürgermeister Hermann Petzke den gelben Anstrich der Bänke, um die jüdischen Wilmersdorferinnen und Wilmersdorfer mit einem Sonderplatz zu schikanieren. Ich freue mich sehr, dass die jungen Mitglieder unseres Kinder- und Jugendparlamentes mit diesen Aktionen „Gegen das Vergessen“ eintreten sich kritisch mit der Geschichte ihresBezirks auseinandersetzen.
Die Kulturprojekte Berlin GmbH und die Berliner Stolpersteine-Koordinierungsstelle haben zum Themenjahr “Zerstörte Vielfalt” ein Buch herausgegeben über die “Stolpersteine in Berlin” mit 12 Kiezspaziergängen in Berlin, darunter 2 in Charlottenburg-Wilmersdorf. Dieses Buch wird heute kostenlos an Sie verteilt. Herzlichen Dank dafür.
Ich begrüße herzlich den ver.di Ortsverein Berlin Nordwest mit seiner Vorsitzenden Anne Hansen. Die Mitglieder des Ortsvereins begleiten uns heute und wollen an 33 Stolpersteinen, an den wir vorbeikommen werden, und weiteren in der Nähe Rosen niederlegen und leuchtende Kerzen aufstellen. Ich danke Ihnen allen für diese ganz besondere Beteiligung an unserem Kiezspaziergang.
Von der Stolpersteine-Initiative Charlottenburg-Wilmersdorf begrüße ich Siegfried “Sigi” Dehmel herzlich. Er ist ein exzellenter Kenner der Kiezgeschichte und kennt jeden Stolperstein und seine Hintergründe. Er wohnt in der Ludwigkirchstraße und wird uns dort die Aktivitäten der Initiative und einige Stolpersteine vorstellen. Ihm und den anderen Mitgliedern dieser Initiative haben wir es vor allem zu verdanken, dass inzwischen weit mehr als 2.000 Stolpersteine in Charlottenburg-Wilmersdorf verlegt werden konnten.
Wer regelmäßig an unseren Kiezspaziergängen teilnimmt, der kennt inzwischen viele Stolpersteine, denn es gibt kaum einen Spaziergang, bei dem wir nicht auch auf diese Steine treffen, die der Bildhauer Gunter Demnig 1996 erfunden hat. Inzwischen ist aus seinem künstlerischen Projekt eine deutschland- und sogar europaweite Bürgerbewegung geworden. Zu jedem verlegten Stolperstein gehört ein menschliches Schicksal. Wir werden heute nur auf einige wenige dieser Schicksale beispielhaft eingehen können. Auf unserer Website im Internet unter www.stolpersteine.charlottenburg-wilmersdorf.de finden Sie inzwischen zu vielen Stolpersteinen ausführliche Dokumente, Texte und Fotos. Auch diese haben wir vor allem der Stolpersteine-Initiative zu verdanken. Vielen Dank dafür.
Bevor wir beginnen, möchte ich Ihnen den nächsten Treffpunkt mitteilen, wie immer am zweiten Samstag, des Monats, also am 14. Dezember, um 14.00 Uhr. Jugendstadträtin Elfi Jantzen wird mich vertreten und mit Ihnen vom Heidelberger Platz zum Horst-Dohm-Eisstadion in Wilmersdorf gehen. Der Treffpunkt ist am 14. Dezember, um 14.00 Uhr auf dem Heidelberger Platz, am U-Bahn-Ausgang.
Heute wollen wir an das erinnern, was vor 75 Jahren, am 9. November 1938, hier bei uns geschah. Es ist für uns noch immer unfassbar und scheint in einer finsteren Vorzeit geschehen zu sein, aber es leben noch Menschen unter uns, die es selbst erlebt haben.
Der Titel des Berliner Gedenkjahres, “Zerstörte Vielfalt” ist gerade hier am Kurfürstendamm besonders zutreffend, denn der Kurfürstendamm verdankte seine große weltweite Popularität als Berliner Boulevard im Kaiserreich und in der Weimarer Republik vor allem auch den vielen jüdischen Geschäftsleuten, Künstlern und Mäzenen, die hier mit modernen, weltoffenen künstlerischen, kulinarischen und kommerziellen Angeboten für Aufsehen sorgten. Diese große Vielfalt und damit die Attraktivität des Boulevards wurde von den Nationalsozialisten zerstört.
Die drei Säulen zum Berliner Themenjahr “Zerstörte Vielfalt” hier auf dem Gehweg am Kurfürstendamm zeigen das eindrucksvoll. Unter dem Titel “Vielfalt als Zielscheibe” sehen Sie unter anderem Aufnahmen aus den 1920er Jahren vom Romanischen Café, von Max Reinhardt, Fritz Lang, Werner Finck, Valeska Gert und vom Theater am Kurfürstendamm hier an dieser Stelle.
Sie finden hier auch den Hinweis darauf, dass die Zerstörung der Vielfalt bereits vor 1933 begann. Schon im März 1927 inszenierte Goebbels auf dem Kurfürstendamm Straßenterror der SA gegen “jüdisch aussehende Menschen”. Im Romanischen Café wurden Gäste verprügelt und das Mobiliar zerschlagen.
11 Jahre später, in der Pogromnacht am 9. November 1938, war der Kurfürstendamm eines der Berliner Zentren der antisemitischen Gewalt.
Erich Kästner, der damals in der Roscherstraße 16 lebte und im Café Leon im Mendelsohn-Baukomplex am Lehniner Platz einen Stammplatz hatte, erlebte die Nacht vom 9. zum 10. November 1938 am Kurfürstendamm. Er hat darüber geschrieben:
“In jener Nacht fuhr ich, im Taxi auf dem Heimweg, den Tauentzien und Kurfürstendamm entlang. Auf beiden Straßenseiten standen Männer und schlugen mit Eisenstangen Schaufenster ein. Überall krachte und splitterte Glas. Es waren SS-Leute, in schwarzen Breeches und hohen Stiefeln, aber in Ziviljacken und mit Hüten. Sie gingen gelassen und systematisch zu Werke. Jedem schienen vier, fünf Häuserfronten zugeteilt. Sie hoben die Stangen, schlugen mehrmals zu und rückten dann zum nächsten Schaufenster vor. Passanten waren nicht zu sehen. Erst später, hörte ich am folgenden Tag, seien Barfrauen, Nachtkellner und Straßenmädchen aufgetaucht und hätten die Auslagen geplündert.
Dreimal ließ ich das Taxi halten. Dreimal wollte ich aussteigen. Dreimal trat ein Kriminalbeamter hinter einem der Bäume hervor und forderte mich energisch auf, im Auto zu bleiben und weiterzufahren.
Dreimal erklärte ich, dass ich doch wohl aussteigen könne, wann ich wolle, und das erst recht, wenn sich in aller Öffentlichkeit, gelinde ausgedrückt, Ungebührliches ereigne. Dreimal hieß es barsch: ‘Kriminalpolizei’! Dreimal wurde die Wagentür zugeschlagen. Dreimal fuhren wir weiter. Als ich zum vierten Mal halten wollte, weigerte sich der Chauffeur. ‘Es hat keinen Zweck’, sagte er ‘und außerdem ist es Widerstand gegen die Staatsgewalt!’ Er bremste erst wieder vor meiner Wohnung.”
In der Nacht vom 9. zum 10. November 1938 wurden in Deutschland 1.406 Synagogen angezündet und geplündert, 177 Wohnhäuser und 7.500 jüdische Geschäfte zerstört. Es gab 1.300 bis 1.500 Todesopfer, viele von ihnen starben in den Tagen danach in der Haft.
Wir wissen heute, dass die Pogromnacht “Die Katastrophe vor der Katastrophe” war, wie es in einem neuen Buch von Raphael Gross unter dem Titel “November 1938” heißt.
Am 9. November 1938 fand in Deutschland in aller Öffentlichkeit staatlich legitimiert eine Orgie der Gewalt und der Unmenschlichkeit statt. In den Jahren davor waren die Juden in Deutschland diskriminiert und entrechtet worden. In den Jahren danach wurden sie systematisch verfolgt, beraubt, vertrieben und schließlich millionenfach ermordet.