Station 5.5: Künstlerkolonie Wilmersdorf
Sie haben durch die außergewöhnliche Häufung von Gedenktafeln sicher schon bemerkt, dass wir nun mitten in der Künstlerkolonie Wilmersdorf sind. Wir stehen sozusagen auf ihrem zentralen Platz.
1926 wurde das Areal zwischen der Laubenheimer Str. und dem Breitenbachplatz von der Genossenschaft Deutscher Bühnen-Angehöriger und dem Schutzverband Deutscher Schriftsteller erworben. Ziel war es für die Mitglieder bezahlbaren und – im Gegensatz zu den Mietskasernen – angenehmen Wohnraum zu schaffen. Künstler*innen, Schriftsteller*innen und Schauspieler*innen haben im Regelfall ja kein festes Einkommen und viele unter ihnen verdienen auch nicht so viel. Im Volksmund hieß die Künstlerkolonie deshalb auch Hungerburg.
Die Siedlung wurde von den Architekten Ernst und Günther Paulus entworfen. Sie orientierten sich an dem Konzept der “Rheinischen Siedlung”, die vor dem Ersten Weltkrieg in den Jahren 1911-15 um den Rüdesheimer Platz erbaut worden war. Es sollte eine “Gartenterrassenstadt” entstehen, die gemeinschaftliches Wohnen und Zusammenleben – auch durch die Anlage der Innenhöfe – fördern sollte. Am 30. April 1927 erfolgte die Grundsteinlegung durch den damaligen Präsidenten der Genossenschaft Deutscher Bühnen-Angehöriger Gustav Rickelt.
In der Planung von 1929 war noch ein vierter Block zum Breitenbachplatz hin vorgesehen, der einen Lesesaal als Kommunikationszentrum hätte erhalten sollen. Das Naziregime, dem die ganze Siedlung überhaupt suspekt war, hatte aber eine weitere Bebauung untersagt.
Der Publizist Axel Eggebrecht schrieb in seinen Erinnerungen Der halbe Weg – Zwischenbilanz einer Epoche von 1981 [ich zitiere]:
Mir gelang es, eine sehr billige Wohnung in der Bonner Straße nahe dem Breitenbachplatz zugeteilt zu bekommen, in der ‘Künstlerkolonie’. Das war kein Worpswede, keine romantische Siedlung. Bühnengenossenschaft und Schriftstellerverband hatten für ihre Mitglieder drei ganz normale Häuseblocks gebaut, gerade noch rechtzeitig vor der Krise. Nun brachten viele Bewohner selbst die niedrigen Mieten nicht mehr auf, wie überall in Berlin drohten Exmittierungen, wie überall gab es dagegen Protestaufmärsche. Bei uns ähnelten sie eher Volksbelustigungen, hatten immer Erfolg. Und dabei zeigte sich schon ein Gemeinschaftsgeist, der in naher Zukunft eine wichtige Rolle spielen sollte.
Die Weltwirtschaftskrise führte gerade unter den Künstlern zu großer Arbeitslosigkeit; etwa 75 % der Bewohner waren zu dieser Zeit ohne Einkommen. Viele Bewohner konnten die Miete nicht mehr aufbringen, und die Wohnungsbaugesellschaft GEHAG strengte Zwangsräumungen an, die jedoch meist am solidarischen Widerstand in der Künstlerkolonie scheiterten. Um die Interessen der Mieter zu vertreten und Mietminderungen zu erreichen, wählten die Bewohner Mieterräte. Im Januar 1933 wurde tatsächlich eine Mietsenkung um acht Prozent erreicht, jedoch erhielten die drei Mieterräte die Kündigung ihrer Wohnungen. Zu diesem Zeitpunkt im Frühjahr 1933 lebten etwa 300 Schriftsteller*innen und Künstler*innen in der Künstlerkolonie.[2]
In der Zeit des Nationalsozialismus wurden viele Bewohner verfolgt und inhaftiert, wenn sie nicht rechtzeitig fliehen konnten, was ja aus den einzelnen bisher vorgetragenen Lebenswegen schon zu hören war. Erst 1952 ging die Künstlerkolonie, die 1933 der Reichskulturkammer zugeordnet wurde, zurück in den Besitz der GEHAG. Nach 1952 errichtete diese zwischen Steinrückweg und Breitenbachplatz auf der ehemaligen Erweiterungsfläche der Künstlerkolonie für einen vierten Wohnblock „moderne“ Neubauten, an denen wir eben vorbeigegangen sind. Diese verfolgten jedoch nicht den ursprünglichen Bauplan und können den Gemeinschaftsgeist der Kolonie architektonisch nicht mehr zum Ausdruck bringen.
Lange Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg blieb das schwere Schicksal der zahlreichen Bewohner der Künstlerkolonie „unsichtbar“. Erst in den 1980er Jahren wurde begonnen, Gedenktafeln an den Häusern anzubringen. 1988 wurde das Mahnmal hier auf dem Ludwig-Barnay-Platz aufgestellt. Es trägt eine Bronzeplatte mit der Inschrift „MAHNMAL, FÜR DIE POLITISCH VERFOLGTEN DER KÜNSTLERKOLONIE.“
Viele aus der Künstlerkolonie vertriebenen Bewohner*innen kehrten nach dem Krieg zurück. Auch für Künstler der Nachkriegsgeneration besitzt die Künstlerkolonie, heute mehr aus Gründen der Historie als wegen preiswerten Wohnraums, wieder Anziehungskraft.
Im Jahr 1990 wurde die Gartenstadt am Südwestkorso unter Denkmalschutz gestellt. Diese beinhaltet auch die Künstlerkolonie, die etwa 20 % der Fläche ausmacht. Gut vier Jahre später wurde am 31. Dezember 1994 die Künstlerkolonie an die Veba (später Viterra, dann Deutschbau, Deutsche Annington, heute Vonovia) verkauft. Die Interessen der heutigen Mieter vertritt ein Mieterbeirat.
Zu den Zielen des Vereins Künstlerkolonie Berlin wird Ihnen nun Herr Schütze mehr erzählen:
Bei dem Begriff Künstlerkolonie assoziiert man allgemein eine kleine Gemeinschaft von Künstlern, wie z.B. in Ahrenshoop oder anderswo. Unsere Künstlerkolonie hier in Wilmersdorf ist hingegen etwas völlig anderes und international einmalig!
Es handelt sich um diese Wohnanlage hier um den Ludwig-Barnay-Platz, zu welcher Ende der 1920er Jahre 632 Wohnungen und Ateliers fertig gestellt waren und nach dem 2. Weltkrieg, Ende der 50er Jahre, die Neubauten am Zipfel zum Breitenbachplatz hinzu kamen. Insgesamt handelt es damit um knapp 700 Wohnungen, die einst von der Genossenschaft Deutscher Bühnenangehöriger (GDBA) und dem Schutzverband Deutscher Schriftsteller mit einer eigens gegründeten Wohnungsgesellschaft für ihre Mitglieder gebaut wurden.
Zu dieser Zeit gibt es eine Besonderheit einzufügen: Aus der Inflation 1923 konnten sich fast alle Immobilieneigentümer zu ihren Hypotheken entschulden, woraufhin seinerzeit im Deutschen Reich eine Sondersteuer zum dringend nötigen Wohnungsbau eingeführt wurde, – die sogenannte Mietzinssteuer auf alle Kaltmieten der Vorkriegsbauten. In Berlin ging das in einen Sicherheitsfonds ein zur Absicherung von Hypothekenkrediten, womit die meisten der heute als Altneubauten bezeichneten Wohnungen Berlins errichtet wurden. Ich erwähne das so gerne, weil ich denke, das wäre vielleicht auch heute eine Möglichkeit der Mietspekulation zu begegnen, wie damals schon erfolgreich.
Wir gehen davon aus, dass damals vermutlich durchschnittlich mindestens 4 Personen in einer Wohnung wohnten. Also in knapp 700 Wohnungen mal durchschnittlich 4 Personen, und bis heute über 4-5 Generationen gerechnet, gehen wir von wahrscheinlich etwa zehntausend Künstlerinnen und Künstlern, die mit ihren Familienangehörigen hier wohnten und vielfach noch immer hier wohnen. Diese Quantität künstlerischer Nachbarschaft blieb weltweit einmalig und sollte nach unserer Ansicht möglichst weitgehend erhalten bleiben.
Das ist durchaus nicht einfach, denn bereits im Januar 1933, unmittelbar nach der sogenannten Machtergreifung der Nazis stürmte die SA mit Unterstützung preußischer Hilfspolizisten hier viele Wohnungen und verhaftete viele Künstler*innen, die ins Konzentrationslager Oranienburg verschleppt wurden. Andere konnten rechtzeitig mit Hilfe von Freunden und Nachbarn flüchten. Bis Ende des Jahres 1933 wurde die Genossenschaft deutscher Bühnenangehöriger in die Reichskulturkammer eingegliedert und die Immobilien der Künstlerkolonie kamen zur Goebbels-Stiftung. Wir haben es der Umsicht des damaligen GDBA-Vorsitzenden zu danken, dass er die diesbezügliche grundbuchamtliche Eintragung bis zum Kriegsende verschleppte. Doch gab es in dieser Zeit auch neue Bewohner aus dem Kreis des NSDAP-Umfeldes.
Hierzu gilt es noch ein historisches Kuriosum sehr eigener Art anzufügen: Mit der Weltwirtschaftskrise 1933 brach auch der Sicherheitsfonds zu Wohnungsneubauten zusammen. Daraus konnte der Zipfel der Künstlerkolonie zum Breitenbachplatz dann nicht mehr bebaut werden. Auch viele damals noch im Bau befindliche Häuser um unsere Künstlerkolonie herum blieben unfertig. In den Bauruinen spielten die Künstlerkoloniekinder, bis die Dielen und Balken als Brennmaterial benutzt wurden. Wer heute hier spazieren geht, achte deshalb auf die neben dem Hauseingang angebrachten Schilder des Nachkriegswiederaufbaus. Das sind die Häuser, die erst Anfang 1950 fertig gestellt wurden.
Aus den oben genannten Umständen konnte 1945 die wiedererrichtete GDBA ihren Anspruch auf unsere Künstlerkolonie wieder geltend machen, während der Schutzverband Deutscher Schriftsteller ausschied. Doch folgte schnell die politische Forderung, die damaligen Freiflächen zum Breitenbachplatz neu zu bebauen. Doch dazu fehlte der GDBA das Geld. Nach langen Verhandlungen übergab die GDBA diese Immobile einer kommunalen Wohnungsbau- und Verwaltungsgesellschaft, – allerdings mit einer einmaligen Klausel, nach der jede frei werdende Wohnung der GDBA zu melden sei und nur wenn diese keinen Nachfolger aus ihrem Mitgliederbestand vorschlagen konnte, durfte diese Wohnung auch an andere vermietet werden. Inzwischen wurde die Immobilie mehrmals verkauft und gehört heute zur Vonovia, – doch diese alte Klausel gilt noch immer.
So blieb die Nachbarschaft aus unterschiedlichen Künstlern erhalten. Doch nach dem Mauerbau gab es dann kaum noch Engagements für Künstler*innen im damaligen Westberlin, viele zogen nach Westdeutschland und immer öfter wurden Wohnungen an Nicht-Künstler*innen vermietet, während noch so manche alltäglich nach Ostberlin fuhren, um dort weiter zu arbeiten, wozu sie einen Dauerpassierschein hatten. Auch zu dieser kuriosen Situation wurde viel zu wenig berichtet.
Durch vermehrte neue Arbeitsmöglichkeiten für Künstler*innen in Westberlin und nachbarschaftlichen Verbindungen fanden sich Ende der 70er- und frühen 80er-Jahre wieder Künstler*innen, die auf die Bedeutung und Achtung solch eines einmaligen Wohnraum aufmerksam machen wollten. Ab 1985 konstituierte sich daraus unser Verein KünstlerKolonie Berlin e.V.
Unser Verein war und blieb keine Mietervertretung, wenngleich er sich zu deren Interessen bis heute engagiert. Dieser, unser Verein bemühte sich die Historie aufzuarbeite, sowie bis heute allmonatlich kleine Kulturveranstaltungen zu organisieren, wo es möglich ist den Künstler*innen nicht nur zu applaudieren, sondern sie auch bei einem kleinen Tropfen anschließend persönlich kennen zu lernen.
Nach dem Fall der Mauer gab es wieder viele Umschichtungen und Verwerfungen im Bereich der Engagements, – und bald stiegen die Mieten deutlich. So erhielt vor wenigen Jahren eine alte Künstlerin von der Agentur für Arbeit den Rat, sich doch eine billigere Wohnung am Stadtrand zu suchen. Eine andere ältere Künstlerkoloniebewohnerin wohnt z.B. im 3. Stock und wäre gerne in eine gerade frei gewordene Wohnung gleicher Größe im Parterre umgezogen, doch hätte das bedeutet ihren alten Mietvertrag aufzugeben und einen neuen einzugehen, der aber um 200 € teurer geworden wäre. Ein Bringedienst zum Einkaufen erwies sich als billiger, – was mir wenig vernünftig scheint.
Auf unsere Initiative hin steht diese, unsere Künstlerkolonie längst unter Denkmalschutz, was sich als gut und richtig erwies. Doch ein nachträglicher Einbau von Fahrstühlen entfällt damit.
Und lassen Sie mich nun abschließend bitte noch kurz etwas zu unserer Vereinsarbeit sagen: Zur Geschichte unserer Künstlerkolonie konnten wir bisher über 1300 Bilder, Presseberichte und Dokumente digital einspeichern, die wir mit vielen persönlichen Erinnerungsberichten und Fotos in eine historische Übersicht von 1926 bis heute einfügten. Es bleibt aber noch viel Material, was wir noch abzuarbeiten haben, bevor wir es in absehbarer Zeit als „große Ausgabe“ veröffentlichen können. Dazu trifft sich unsere Arbeitsgemeinschaft (AG) Dokumentation an jedem zweiten Sonntag eines Monats im Casino Sternstunde. Auch morgen ist wieder der zweite Sonntag im Monat, doch bitten wir alle hierzu unseren Stand auf dem Sommerfest auf dem Rüdesheimer Platz zu besuchen. Alles weitere dazu finden Sie bei uns dort. Dort können Sie bei Interesse auch Ihre Adresse hinterlassen, um zu unseren Kulturveranstaltungen eingeladen zu werden oder weitere Verabredungen zu finden.
Mit Ihrer und möglichst vieler anderer Unterstützung suchen wir einen besonderen Kiezschutz für diese, unsere Künstlerkolonie anzuregen, um auch weiterhin bei Neuvermietungen möglichst Künstler*innen zu berücksichtigen bzw. einzuwerben, damit diese weltweit einzigartige Wohnanlage mit ihrer historischen Situation weiter in die Zukunft getragen werden kann.
Dankeschön!
Vielen Dank, Herr Schütze!