Nun sind wir an unserem Ziel, der Gedenkhalle der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, angelangt. Ich begrüße ganz herzlich Pfarrer Germer, der sich die Zeit genommen hat, uns hier in der Gedenkhalle zu empfangen. Die Gedenkhalle der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche befindet sich unter dem neoromanischen Turm der alten, im Krieg zerstörten Gedächtniskirche.
Die Gedächtniskirche wurde von Franz Schwechten, einem Kölner Architekten, entworfen. Es gibt zahlreiche Zitate, die auf die zahlreichen romanischen Kirchen in Köln verweisen. Beim Bau nahm das Kaiserpaar Wilhelm II und Auguste Viktoria des Öfteren Einfluss, obwohl die Krone sich kaum an den Kosten beteiligte. Der Grundstein wurde am 22.3.1891 gelegt, dem Geburtstag des Namensgebers Wilhelm I. Am 1.9.1895, dem Vorabend des damaligen Sedantages zur Erinnerung an den deutschen Sieg im deutsch-französischen Krieg von 1870/71, wurde die Kirche eingeweiht.
Auch der Bildzyklus auf den Reliefs von Adolf Brütt zeigt neben der Darstellung einiger Szenen aus dem Leben Wilhelm I. Szenen aus den Befreiungskriegen und dem deutsch-französischen Krieg von 1870/71. Die fünf Glocken im Turm der alten Gedächtniskirche stammten aus erbeuteten, eingeschmolzenen Bronzegeschützen aus demselben Krieg.
Ihr Läuten waren so beeindruckend, dass bei einer Festveranstaltung die Wölfe des Zoologischen Gartens unruhig wurden und heulten wie Fedor von Zoblitz in seiner Chronik der Gesellschaft unter dem letzten Kaiserreich (1922) beschreibt [ich zitiere]:
„Lang hallendes Geheul, das Kläffen der Köter und das heisere Bellen der Wölfe mischte sich in den Friedengruß der Glocken und akkompagnierte den Jubel des Publikums. Das aber stand nicht auf dem Programm. Ein Polizeioffizier zu Pferde jagte wie rasend nach dem Zoologischen Garten; ein paar Wachtmeister stürmten hinein, um den heulenden Bestien kraft ihres Amtes und ihrer Autorität das Singen zu verbieten – aber die rebellischen Tiere hatten wenig Respekt vor den blauen Uniformen: sie heulten, kläfften und bellten unentwegt weiter.“
Anfang 1943 wurden vier der Glocken abgenommen und wieder für Kriegszwecke eingeschmolzen. Lediglich die kleinste Glocke verblieb der Gemeinde. Bei der Zerstörung der Kirche im November 1943 wurde diese Glocke schwer beschädigt und 1949 an die Glockengießerei Schilling in Apolda/Thüringen geliefert, wo sie einst gegossen wurde.
Zur 750-Jahr-Feier Berlins, 1987, wurde die ehemalige Eingangshalle zu einem Raum zum Gedenken an die Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg umgestaltet. Eines der zentralen Exponate ist hier das Nagelkreuz von Coventry als Zeichen der Versöhnung.
Die Wehrmacht flog am 14.11.1940, also genau heute vor 75 Jahren, Luftangriffe auf die englische Stadt Coventry, die dabei stark zerstört wurde. 550 Menschen kamen dabei ums Leben. Dieser Angriff wurde unter dem Namen „Mondscheinsonate“ geflogen. Die Mondscheinsonate ist eines der schönsten Stücke von Beethoven, was für ein Zynismus der Militärs! Die St.-Michael’s Kathedrale in Coventry wurde bei dem Angriff völlig zerstört.
Der damalige Dompropst Richard Howard ließ bei den Aufräumarbeiten drei große Zimmermannsnägel aus dem Dachstuhl der zerstörten Kathedrale zu einem Kreuz zusammensetzen. Er ließ außerdem aus zwei verkohlten Holzbalken ein großes Kreuz zusammensetzen. Während das Holzkreuz in der Ruine der alten Kathedrale blieb, steht das originale Nagelkreuz heute auf dem Altar der benachbarten, 1962 geweihten neuen Kathedrale. Es gilt als Zeichen der Versöhnung und des Friedens.
Der Gedanke einer Gemeinschaft von Nagelkreuzzentren wurde von Bill Williams, Dompropst in Coventry von 1958 bis 1981, entwickelt. Weltweit haben sich ökumenische Glaubensgemeinschaften als Nagelkreuzgemeinschaft gebildet. Ihr gehören in Deutschland derzeit 59 Gemeinden aus 46 Städten an; weltweit sind es derzeit über 160.
Das Nagelkreuz wird von der Gemeinschaft überwiegend an Kirchengemeinden übergeben, um diese in ihrer Versöhnungs- und Friedensarbeit zu stärken. Als äußeres Zeichen der Verbundenheit erhält jedes Nagelkreuzzentrum ein Kreuz aus drei Nägeln von Coventry, das dem originalen Kreuz nachgebildet ist.
Im Jahre 1959 wurde das Versöhnungsgebet von Coventry formuliert und wird seitdem an jedem Freitagmittag um 12.00 Uhr im Chorraum der Ruine der alten Kathedrale in Coventry gebetet. Hier der Wortlaut, der in unserer Zeit nicht an Aktualität eingebüßt hat:
„Den Hass, der Rasse von Rasse trennt, Volk von Volk, Klasse von Klasse, Vater, vergib.
Das Streben der Menschen und Völker zu besitzen, was nicht ihr eigen ist, Vater, vergib.
Die Besitzgier, die die Arbeit der Menschen ausnutzt und die Erde verwüstet, Vater, vergib.
Unseren Neid auf das Wohlergehen und Glück der anderen, Vater, vergib.
Unsere mangelnde Teilnahme an der Not der Gefangenen, Heimatlosen und Flüchtlinge, Vater, vergib.
Die Entwürdigung von Frauen, Männern und Kindern durch sexuellen Missbrauch, Vater, vergib.
Den Hochmut, der uns verleitet, auf uns selbst zu vertrauen und nicht auf Gott, Vater, vergib.
Seid untereinander freundlich, herzlich und vergebet einer dem anderen, gleichwie Gott euch vergeben hat in Jesus Christus. (Epheser 4,32)
AMEN“
Dies ist nun der Augenblick, an dem ich Pfarrer Germer das Mikrofon übergeben möchte.
Vielen Dank; Herr Pfarrer!
Zum Abschluss singt der Männergesangsverein „Eintracht“ 1876 Dautphe aus unserem Partnerlandkreis Marburg-Biedenkopf noch zwei Lieder für uns. Ich möchte mich ganz herzlich bei diesem Chor aus unserem Partnerlandkreis für seine Mitwirkung bei unserem Spaziergang bedanken. Wir haben die musikalische Begleitung sehr genossen. Wenn Sie wollen, können Sie nach dem Singen noch in die neue Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche gehen. Dort probt gerade der Bach-Chor, der heute Abend um 18 Uhr die Kantate Nr. 90 von Bach singen wird: „Es reißet euch ein schrecklich Ende hin“. Ich verabschiede mich nun schon jetzt von allen und wünsche Ihnen ein schönes Wochenende.