Station 10.1: Wilhelmsaue 116 / Blissestift
Christian Blisse stammte aus einem Wilmersdorfer Bauerngeschlecht mit ausgedehnten Feldern, an der Stelle, wo heute die Blissestraße verläuft. Durch den Bedarf an Bauland für die wachsende Stadt gelangten viele Bauern zu Vermögen. Da die Blisses mit dem Landverkauf länger warteten als andere Bauern, wurden sie sehr reich und gehörten damit zu den sogenannten Millionenbauern, was ihnen den Spitznamen „Millionen-Blisse“ einbrachte. Sie vermachten der Stadt drei Millionen Mark für ein Waisenhaus, mit dessen Bau 1908 nach dem Tod von Auguste Amalie Blisse begonnen wurde. 1911 wurde das Haus als Christian-und-Auguste-Blisse-Stiftung auf dem Grundstück des ehemaligen Stammgutes der Blisses eröffnet.
Architekt war Otto Herrnring. Der Bau kostete 600.000 Reichsmark. Das Waisenhaus wurde das Zuhause für evangelische Kinder zwischen 6 und 16 Jahren. Das restliche Geld der Stiftung diente der Finanzierung des Betriebes des Waisenhauses, zumindest bis zur Inflation, die dann das Vermögen vernichtete. In der Zeit des Nationalsozialismus wurde die Stiftung zweckentfremdet. Im Blisse-Stift befinden sich heute der Kinderhort der Comenius-Schule und die offene Ganztagsschule für autistische und lernbehinderte Kinder.
Station 10.2: Wilhelmsaue / Herkunft des Namens
Wir stehen hier auf der alten Dorfaue von Wilmersdorf, die von etwa 1300 bis 1875 auch so hieß. 1875 wurde sie dann in Wilhelmstraße und 1888 in Wilhelmsaue umbenannt.
Der Autor der Schwarzwälder Dorfgeschichten, Berthold Auerbach, lebte um 1860 in Berlin und beschrieb diese Gegend in einem Brief an einen Freund am 10. April 1863:
Gestern war ich nach so langer Zeit wieder einmal in einem Dorfe. Der Frühling ist schön, und ich muß Lerchen hören, und die singen auch über dem Sandboden, in dem sich’s freilich schwer geht. Ich war in Wilmersdorf, einem Taglöhner-Orte in meiner Nachbarschaft; der Weg durch die Saaten that mir gar wohl, ich saß eine Stunde lang unter einem Weidenbaum am Wegraine, und das war eine glückliche Stunde, ich konnte doch auch wieder einmal in die Unendlichkeit hinein träumen. Im Dorfe hörte ich doch auch wieder einmal ein lebendiges Huhn gackern, sah lebendige Gänse und Schweine; man vergißt in Berlin ganz, daß Derartiges auch lebt, man sieht es immer nur gebraten.
Man sollte nicht spotten über die übertriebene Naturbegeisterung der Berliner, wenn sie hinauskommen; wenn man in dieser künstlich gemachten Stadt lebt, erscheint alle Natur, das Alltäglichste, wie ein Wunder.
Im Dorfe ist, wie in Norddeutschland fast immer, das Rittergut die Hauptsache, es ist stattlich in Viehstand und Maschinen.
Die Erquickung von gestern geht mir heute noch nach, und ich habe heute schon gut gearbeitet, freilich zu einer geschlossenen Arbeit bringe ich’s nicht. Es ist der dummste Streich, den ich machen konnte, nach Berlin zu siedeln; ich muß erfrischende Naturblicke haben, sonst verkomme ich.
Kurz danach, um 1870, beschrieb Hanns Fechner den Entwicklungsstand des Dorfes [ich zitiere]:
Um die Hauptstraße, die Aue in Wilmersdorf, mit ihrem urtümlichen Gemeindeteichlein, auf dem sich die Enten und Gänse in buntem Durcheinander tummelten, ihren schönen uralten Linden und Kastanien, lagen die Gehöfte der Großbauern von Wilmersdorf….
Ein köstlicher Winkel lag in der Westecke der Aue, so recht ein Dorado für den Maler. Das kleine Häuschen, hinter dem wunderbare Eiben von fast zweihundertjährigem Bestehen zeugten und mit ihrem tiefen Grün an italienische Farbenwirkungen erinnerten, wurde denn auch oftmals von Malern und Malerinnen zum sommerlichen Studienaufenthalt erwählt. Hier von dem Besitztum der Geschwister Mehlitz aus eröffnete sich ein Blick über das Fenn hinaus, das sich hinter Wilmersdorf bis nach Schöneberg hin erstreckte…
An der Stelle der heutigen Uhlandstraße befand sich im 19. Jahrhundert der Sitz des Rittergutes Wilmersdorf. Es wurde 1899 von Carl Keller gekauft. Er eröffnete kurz danach den Victoria-Garten, ein großes Ausflugslokal mit Zugang zum damaligen Wilmersdorfer See, der sich an Stelle des heutigen Volksparks erstreckte. Das Gartenlokal verfügte über einen großen Tanzsaal mit einer Bühne für Theateraufführungen und Konzerte. Auch Kahnfahrten wurde angeboten. Schon in den 1920er-Jahren war der Victoria-Garten ein beliebter Treffpunkt der Nationalsozialisten. 1929 wurde hier der NS-Schülerbund Berlin gegründet. Im Zweiten Weltkrieg wurde das Ausflugslokal zerstört. Die Reste des Victoria-Gartens wurden in den 1950er Jahren abgerissen. Der autobahnähnliche Ausbau der Uhlandstraße mit dem Durchbruch durch die Wilhelmsaue wurde in den 1960er-Jahren durchgeführt.
Damals folgte man im Städtebau noch dem Leitbild der autogerechten Stadt. Heute wäre ein solcher Kahlschlag mitten im historischen Stadtgebiet wohl so nicht mehr möglich.
Station 10.3: Wilhelmsaue 17 / Villa
Wir gehen jetzt in die Auenkirche. Die Auenkirche ist der Nachfolgebau der Wilmersdorfer Dorfkirche. Die Dorfkirche stand seit 1766 auf dem heutigen Vorplatz der Kirche und wurde erst nach Fertigstellung der neuen Kirche abgerissen. Die neue Kirche wurde von 1895 bis 1897 von Max Spitta und Max Adolf im neugotischen Stil als dreischiffige Backstein-Hallenkirche gebaut. Einweihung war am 31.10.1897.
Auf dem Weg in die Kirche können Sie links an der Wilhelmsaue 17 noch eine bäuerliche Villa aus dem Jahr 1875 sehen.