Tafeltext:
Hans Scharoun entwickelte als Stadtrat und Leiter eines Planungskollektivs 1945/46 richtungsweisende Konzeptionen für den Wiederaufbau Berlins, bei denen er auf seine Erfahrungen in Siemensstadt 1930 zurückgreifen konnte. In Charlottenburg-Nord konnte er diese Ideen zumindest ansatzweise verwirklichen.
Scharouns ursprüngliche Planung beruhte auf einer sozialstatistischen Untersuchung seiner Mitarbeiter am Institut für Städtebau der TU Berlin. Von den “gewachsenen” Vierteln des alten Berlin ausgehend, wurden die Wohnbedürfnisse der verschiedensten Bevölkerungsgruppen aufgenommen, vom Alleinstehenden bis zur Großfamilie. Der soziale Querschnitt sollte Arbeiter, Angestellte, Selbständige und Akademiker umfassen.
In so genannten Wohngehöften, um Grünanlagen gruppierte ein- bis elfgeschossige Gebäude, sollten jeweils 649 Bewohner Platz finden. Neben Wohnungen sah Scharoun auch Kultureinrichtungen, z.B. Kinos und Restaurants, vor. In den bei Mietern wenig beliebten Erdgeschossen sollten Gewerbebetriebe untergebracht werden – Wohnen und Arbeiten unter einem Dach. Insgesamt ergab sich damit fast jene “Kreuzberger Mischung”, deren Wert für Stadtbildung und menschliches Zusammenleben erst mit der “Internationalen Bauausstellung” von 1984/87 wieder entdeckt wurde.
Die Teilung des Gesamtgeländes in zwei Planungsbereiche, von denen die GSW nur den südlichen zugewiesen bekam, und die strengen Vorschriften für den “Sozialen Wohnungsbau” ließen nur eine vereinfachte Form der Wohngehörte zu. Aus der erzwungenen Weiternutzung des im Nationalsozialismus bereits angelegten Kanalisationssystems war die Straßenführung des Heilmannrings vorgegeben, der die Wohngehöfte zusätzlich in einen Nord- und einen Südteil zerschnitt.
Die ursprünglich durch die Gebäudeteile gefassten grünen Höfe sind in der Ausführung nach Norden und Süden hin geöffnet, die Gebäudeteile ähneln dadurch gebogenen Zeilenbauten.
Dennoch gelang es Hans Scharoun mit der Unterstützung des neuen GSW-Direktors Walther Großmann, neue Ideen zu verwirklichen, indem er einige Grundrisse für Wohngemeinschaften vorsah und an den großzügigen Treppenhausdielen verschiedenen große Wohnungen nebeneinander legte, was die gegenseitige nachbarschaftliche Hilfe bei der Betreuung von Kranken, Alten und Kindern erleichtern sollte. Da die GSW aber die zusätzlichen Einrichtungen wie Gewerberäume und kulturelle Institutionen – wegen ihrer Gemeinnützigkeit – nicht bauen durfte, ist bei den Wohngehöften letztlich alles entfallen, was das Wort “Gehöft” beinhaltete. Scharouns visionäre Konzepte, die sozialstatistischen Untersuchungen, die Mischung von Wohnen und Arbeiten und die “Nachbarschaften” sind heute aber aktueller denn je, alle anspruchsvollen Stadtsanierungen und –planungen folgen heute seinen Überlegungen.
Auf einigen Dächern konnte Scharoun doppelgeschossige Atelierwohnungen bauen, von denen er eine selbst bis zu seinem Tode als Wohn- und Arbeitsort nutzte. Der Atelierteil dieser Wohnung ist noch erhalten.
Hans Scharoun
1893 Bremen – 1972 Berlin
Architekt
Mit den Planungen zur Großsiedlung Siemensstadt fand Scharoun erstmals weltweite Beachtung. nach dem Studium in Berlin war er von 1919-1925 als freier Architekt in Insterburg/Ostpreußen und von 1925 bis 1932 als Professor an der Kunstakademie in Breslau tätig. Er gehörte 1919/20 zur “Gläsernen Kette” und schloss sich 1926 der Architektenvereinigung “Der Ring” an. Nach expressionistischen Anfängen war er neben Hugo Häring Vertreter des organischen Bauens. Nicht emigriert, baute er nach 1933 vor allem Privatwohnhäuser. Als Stadtrat und Leiter eines Planungskollektivs (1945/46) entwickelte er richtungsweisende Konzeptionen für den Wiederaufbau Berlins, die er zumindest in Ansätzen in der an Siemensstadt anschließenden Siedlung Charlottenburg-Nord verwirklichen konnte. Als architektonisches Hauptwerk gilt das Gebäude der Philhamonie in Berlin (1956 bis 1963). Von 1946-1958 hatte er eine Professur an der TU Berlin, von 1947-1950 leitete er das Institut für Bauwesen der Deutschen Akademie der Wissenschaften und von 1955-1968 war er Mitglied und Präsident der Akademie der Künste, später ihr Ehrenpräsident.