Stolpersteine Sächsische Straße 10-11

Diese Stolpersteine wurden am 23.10.2019 verlegt und von Roland Pachali gespendet.

Stolperstein Edith Fraenkel

HIER WOHNTE
EDITH FRAENKEL
JG. 1922
IM WIDERSTAND
‘GRUPPEN UM HERBERT BAUM’
VERURTEILT 10.12.1942
GEFÄNGNIS BARNIMSTRASSE
DEPORTIERT 15.10.1943
THERESIENSTADT
1944 AUSCHWITZ
ERMORDET

Profilbild von Edith Fraenkel

Profilbild von Edith Fraenkel

Edith Fraenkel wurde am 8. Februar 1922 in Berlin als Tochter des Kaufmanns Leo Fraenkel und seiner Frau Olga geb. Marx, geboren.
Die Eltern trennten sich, sodass Edith ab 1934 mit ihrer Mutter Olga in dem heute nicht mehr existierenden Haus in der Sächsischen Straße/Ecke Düsseldorfer Straße, Seitenflügel, Parterre lebte. Ihr Zimmer war die kleine, nur 6 m2 große Kammer zum Hof. In der großen zur Straße hin gelegenen Stube unterhielt die Mutter einen entgeltlichen Mittagstisch für ältere Damen, mit dem sie den Lebensunterhalt für sich und ihre Tochter zu sichern versuchte.

Edith Fraenkel besuchte von 1928 bis 1938 die Rudolf Steiner Schule Berlin. Sie war besonders mit ihrer Klassenkameradin Martha-Maria (Martel) und deren um ein Jahr jüngeren Schwester Cornelia Meyer befreundet. Meyers wohnten seinerzeit in der Güntzelstraße. Sie hatten einen Kleingarten in der Nähe des Fehrbelliner Platzes, wo die drei Freundinnen oft gemeinsam spielten. Aus den Jahren 1932 bis 1934 sind Spielszenentexte erhalten, die Henriette Meyer, die Mutter der Freundinnen, für die drei Mädchen z.B. für Geburtstage verfasst hatte. Edith wirkte in Rollen mit, wie z. B. als Schildkröte Roland, Indianer, Möbelmann oder auch Frau Hennig.

Die Sommerferien 1932 verbrachte Edith mit den Meyers in Bad Schönfließ. Hier zeichnete Henriette Meyer das Profilbild von Edith. Ende 1934 zogen die Meyers nach Westend um, Martel und Cornelia wechselten 1935 die Schule und der Kontakt zu Edith Fraenkel brach ab.

Familienfoto Edith, Harry und Uri

Familienfoto Edith, Harry und Uri

Nach der Schulzeit arbeitete Edith Fraenkel in einem Geschäft für Mäntel und Kostüme und machte Kurse für Modezeichnen und Zuschneiden. 1937 lernte sie den neun Jahre älteren Harry Cühn kennen. Die beiden verlobten sich und zogen 1939 zur Harrys Freund Fritz Neuweck in die Wichmannstraße 2 am Lützowplatz.
Ab Mai 1940 musste Edith Zwangsarbeit bei Siemens-Schuckert im ELMo-Werk in Spandau leisten. Als sie im Herbst 1940 schwanger wurde, zog sie zu ihrer Mutter in die Sächsische Straße zurück. Am 7. Juni 1941 wurde der Sohn Uri geboren.
Das Baby starb im Alter von sechs Monaten und wurde am 30. Januar 1942 auf dem Wilmersdorfer Waldfriedhof Stahnsdorf begraben. Nur der Sockel seines Grabsteins ist noch erhalten.

Im März 1942 wurden Edith Fraenkel und ihre Mutter zwangsweise aus ihrer Wohnung in der Sächsischen Straße ausgewiesen und mussten in ein sog. „Judenhaus“ in der Pfalzburger Straße 86 umziehen. Dieses Haus hatte dem jüdischen Rechtsanwalt Dr. Rudolf Arnheim gehört, der enteignet und im Oktober 1942 nach Theresienstadt deportiert wurde.

Edith Fraenkel wurde am 8. Juli 1942 auf ihrer Arbeitsstelle bei Siemens-Schuckert in Spandau verhaftet und – nach einer Wohnungsdurchsuchung in der Sächsischen Straße – im Polizeigefängnis am Alexanderplatz bis zum 1.9.1942 festgehalten. Sie wurde wegen angeblicher Mitgliedschaft in den Widerstandsgruppen um Herbert Baum angeklagt und anschließend bis zum Prozess im Gerichtgefängnis Kantstraße, Charlottenburg, eingesperrt.

Auszug aus dem Polizeiverhör vom 24. August 1942 Bundesarchiv, NJ 1642

Tatsächlich – so zeigen es ihre Einlassungen während des Prozesses – hatte sie Herbert Baum und seine Frau Marianne 1940 während der Zwangsarbeit kennengelernt und sich privat mit ihnen befreundet. Sie wurde mehrfach von den Baums eingeladen und traf dort auch mit antifaschistisch engagierten Menschen zusammen. Sie selbst scheint aber weitgehend unpolitisch gewesen zu sein. Aufgrund ihrer Schwangerschaft, der Geburt des Sohnes Uri und ihrer Versetzung in eine andere Abteilung bei Siemens-Schuckert war der Kontakt zu den Baums mehr oder weniger verloren gegangen.

Obwohl sie nach eigenem Bekunden „nicht so für Gewaltsachen“ war, verurteilte der Volksgerichtshof Edith Fraenkel am 10. Dezember 1942 zu fünf Jahren Zuchthaus wegen „Nichtanzeige eines Vorhabens des Hochverrats“. (Versuchter Brandanschlag am 18. Mai 1942 von Mitgliedern der Gruppen um Herbert Baum auf die antisowjetische Propaganda-Ausstellung „Das Sowjetparadies“ im Berliner Lustgarten). Zwei Tage nach ihrer Verurteilung wurde sie für wenige Tage ins Frauengefängnis Barnimstraße verlegt und am 8.1.1943 in das Frauenzuchthaus Cottbus eingeliefert.

Am 12. Oktober 43 wurde Edith Fraenkel an die Gestapo übergeben, da die Justiz seit dem 1. Juli desJahres für Juden nicht mehr zuständig war. Sie wurde in das als „Sammellager“ missbrauchte jüdische Altersheim in der Großen Hamburger Straße in Berlin verbracht. Von dort wurde Edith Frankel am 15. Oktober 1943 mit dem sogenannten „97. Alterstransport“ nach Theresienstadt deportiert und am 16. Oktober 1944 weiter nach Auschwitz verschleppt. Dort wurde sie ermordet. Ihr genaues Todesdatum ist unbekannt.

Ediths Vater Leo Fraenkel war nach der Scheidung von Ediths Mutter Olga mit seiner neuen Partnerin Käte im Oktober 1940 in die USA geflohen. Ihre Mutter Olga Fraenkel wurde am 14. Dezember 1942 nach Auschwitz deportiert und dort ermordet.

Orte in Berlin, an denen an Edith Fraenkel namentlich erinnert wird:

Gedenkstein für die Herbert-Baum-Gruppen auf dem Jüdischen Friedhof in Weissensee seit 1951
Gedenkstein für die Herbert-Baum-Gruppen im Berliner Lustgarten seit 1981. Ort des Brandanschlags im Jahr 1942 auf die nationalsozialistische Propaganda-Ausstellung „Das Sowjetparadies“.
Gedenkstein für die bekannten ehemaligen jüdischen SchülerInnen der 1. Rudolf Steiner Schule Berlin auf dem Schulgelände der Rudolf Steiner Schule Berlin- Dahlem seit 2015.

Biographische Zusammenstellung: Roland Pachali, basierend auf: Regina Scheer: „ Im Schatten der Sterne“, Aufbau-Verlag 2004, ISBN 3-351-02581-5,
ergänzt durch Stolperstein-Initiative Charlottenburg-Wilmersdorf

Das Video von Mathilde Mélois über die Stolpersteinverlegung finden Sie unter: https://youtu.be/DM8qf0AoqPk

Vortrag von Schülerinnen und Schülern der Rudolf Steiner Schule Berlin zur Verlegung der Stolpersteine für Edith und Olga Fraenkel am 23. Oktober 2019

Edith Fraenkel wurde am 8.Februar 1922 in Berlin geboren. Von 1928 bis 1938 besuchte sie die erste Rudolf Steiner Schule Berlin. Ihre Schulzeit endete mit der 10. Klasse. Wir gehen jetzt in die 10. Klasse der Rudolf Steiner Schule, und so können wir uns gut in Ediths Schulsituation hineinversetzen. Edith erlebte eine glückliche, unbefangene Unterstufenzeit. Mit der Machtergreifung der Nazis wurde sie als Jüdin mehr und mehr in die Rechtlosigkeit verbannt. Wir werden mit unseren Schulabschlüssen viele berufliche Möglichkeiten haben- Edith durfte noch nicht einmal die Lehre beenden, die sie 1938 begonnen hatte. Stattdessen musste sie ab 1940 bei Siemens Zwangsarbeit leisten. Die Rassengesetze machten ihr und ihrer Mutter das Leben schwer und schlossen sie vom normalen Leben aus: Benutzung einer Leihbücherei, Ausflüge in Park und Wald, Besuch von Schwimmbädern, Benutzung der öffentlichen Verkehrsmittel – alles war verboten! 1937 hatte Edith ihren späteren Verlobten Harry Cühn kennengelernt (sie war gerade 15 Jahre alt, er war 24). 1940 wurde Edith schwanger, ihr Sohn Uri wurde 1941 geboren. Er starb acht Monate später (am 30.Januar 1942) an einer Mangelkrankheit. Während der Zwangsarbeit hatte Edith Kontakte zu einer Gruppe von jüdischen Jugendlichen geknüpft, die sich um den kommunistisch orientierten Herbert Baum scharten. Man traf sich auf Gruppenabenden, die Edith häufig besuchte: Dort las und diskutierte man und schmiedete Widerstandspläne. Im Frühjahr 1942 legten Mitglieder der sogenannten „Baumgruppe“ Feuer in einer NS Ausstellung. Daraufhin wurden sie verhaftet und durch den Volksgerichtshof zum Tode verurteilt. Edith Fraenkel wurde ebenfalls verhaftet und am 15. Dezember 1942 zu fünf Jahren Zuchthaus wegen „Nichtanzeige eines Vorhabens des Hochverrats“ verurteilt. Sie entging der Todesstrafe, weil sie sich auf Gruppenabenden mehrfach gegen Gewalt ausgesprochen hatte. Davon berichtet das Gnadengesuch, das ihr Verlobter Harry Cühn am 12. November 1942 an den Oberreichsanwalt richtete, in dem er schreibt, was für ein Mensch sie seiner Meinung nach war.

Auszug aus dem Brief von Edith Fraenkels Verlobtem Harry Cühn an den Oberrreichsanwalt Ernst Lautz vom 12. November 1942über seine Verlobte Edith Fraenkel

bq. Herr Oberreichsanwalt!
Seit 3 ½ Jahren sind Edith Fraenkel und ich verlobt […] Da ich sonst weder Eltern noch Geschwister hier habe, ist Edith der einzige Mensch, den ich besitze und auch ich bin für sie das Einzige, was sie besitzt […]
Während ich als Realist immer auf dem Boden der Tatsachen blieb und der Meinung war, alles Schädliche und Schlechte müsse wenn nötig auch mit Gewalt beseitigt werden, ging Edith von einem tiefen ideellen Standpunkt aus, der durch die Schule, die sie besucht hatte, noch fester verwurzelt worden war.
Sie hält jeden Menschen von vorneherein für gut und anständig; entpuppt er sich dann als das Gegenteil, so hält sie es für die Pflicht eines jeden anständigen Menschen, das schwarze Schaf mit Geduld und Güte wieder auf den rechten Weg zu bringen […] Von ihrer tiefen Gottgläubigkeit aus lehnt sie alles Gottleugnende ab […]
Herr Oberreichsanwalt, dieses Mädchen, meine Verlobte, ist gut, zu gut vielleicht, weil sie die Menschen für besser hält als sie sind; sie tut keinem Wesen etwas zuleide und mit ihren zwanzig Jahren hat sie keine politische Vergangenheit […]
Ich bitte Sie, Herr Oberreichsanwalt, mir einen Menschen zu erhalten und wiederzugeben, der es verdient, erhalten zu bleiben, weil er ohne Schuld ist….

Edith war erst 20 Jahre alt, als ihre Gefängniszeit begann. Ich kann mir gut vorstellen, wie unglücklich und verzweifelt sie war: Ihr kleiner Sohn war tot, sie konnte ihren Verlobten nur alle zwei Wochen kurz sehen, sie konnte ihrer Mutter nicht mehr helfen.
Alle sechs Wochen durfte sie einen Brief schreiben, aber nicht alle erreichten den Adressaten, wenn der Inhalt zu politisch erschien wie im folgenden Brief vom 5. September 1943 an Harry Cühn.
Auszug:

bq. Mein geliebter Harry!
Es ist ja immer möglich,daß ich hier nicht bleibe und ich habe doch hier nichts weiter als was ich auf dem Leibe hatte. …
Mir geht es wie immer gut gesundheitlich und wenn ich hier bleiben kann wird sich das auch nicht ändern. Meinen Mut aber, das sollst Du wissen, behalte ich, wo ich auch bin, denn ich habe doch Dich und die arme Mutti, das ist ja schon Verpflichtung.…
Und Du und die vielen anderen und eigentlich alle ihr müßt weiter warten. Harrylein, wie lange soll diese Menschheitsschande noch dauern? Es ist jetzt der Beginn des 5. Jahres daß sich die Menschheit hinschlachtet. Das Schlimmste ist, daß er einem schon fast zur Gewohnheit geworden ist, der Krieg. …
Aber einmal muß sich doch das Göttliche im Menschen wieder durchringen. Überall wo man hinsieht findet man doch anständige gute Menschen, also ist es doch vorhanden. Ich bitte Gott jeden Abend, daß er dem Guten in uns endlich zum Siege verhilft. …

Quelle: Bundesarchiv „NJ 1642“

Am 12.10.1943 wurde Edith aus dem Gefängnis in das Sammellager Große Hamburger Straße gebracht. Von dort aus wurde sie am 15.Oktober 1943 nach Theresienstadt deportiert. Dort blieb sie ein Jahr – für diese Zeit gibt es keine Zeugen.
Am 16.10.1944 ging ihre letzte Reise nach Auschwitz: Von da an verliert sich ihre Spur. Ein Todesdatum ist nicht bekannt.
Auf unserem Schulhof gibt es ein Denkmal, das an unsere ehemaligen jüdischen Mitschüler erinnert: Wir wollen sie nicht vergessen…

Stolpertein Olga Fraenkel

HIER WOHNTE
OLGA FRAENKEL
GEB. MARX
JG. 1888
DEPORTIERT 14:12:1942
ERMORDET IN
AUSCHWITZ

Olga Fraenkel geb. Marx, wurde als Tochter des Seidenhändlers Julius Marx und seiner Frau Ricka geb. Silbermann, am 1. Oktober 1888 in Mannheim geboren. Ihr vollständiger Name lautete Olga Fanny Fraenkel. Sie hatte zwei Brüder, Martin und Adolf. Martin fiel 1916 als Soldat im ersten Weltkrieg in Frankreich. Adolf kehrte bei Kriegsende 1918 als Unteroffizier nach Mannheim zurück. Wenig später ging er nach Berlin. Dort betrieb er gemeinsam mit dem Berliner Kaufmann Leo Fraenkel den Textilhandel seines Vaters, den dieser 1916 in Mannheim gegründet hatte.

Olga heiratete Leo Fraenkel, den Geschäftspartner ihres Bruders Adolf Marx. (Für ihn liegt ein Stolperstein in der Giesebrechtstraße 13). Die gemeinsame Tochter Edith Fraenkel wurde am 8.2.1922 in Berlin geboren. Die Ehe wurde bald wieder geschieden und auch die Geschäftspartnerschaft endete bereits 1927.

Olga Fraenkel zog 1934 mit ihrer Tochter Edith in eine kleine Parterrewohnung in der Sächsischen Straße 10/11 in Wilmersdorf. Ihre schriftlichen Beschwerden bei der „Baupolizei“ wegen mangelnder Belüftung des fensterlosen Badezimmers gerieten in die Bauakte des Hauses und sind so im Landesarchiv erhalten geblieben.

Schriftliche Beschwerde bei der Baupolizei

Schriftliche Beschwerde bei der "Baupolizei"

Um ihren und den Lebensunterhalt ihrer Tochter zu sichern, führte Olga Fraenkel in ihrer Wohnung einen entgeltlichen Mittagstisch für ältere jüdische Damen. Mit den Jahren verschlechterte sich die Versorgungslage insbesondere für Juden deutlich. Harry Cühn, der spätere Verlobte ihrer Tochter Edith, konnte jedoch bei der Beschaffung von Lebensmitteln behilflich sein. Aus seiner Erinnerung beschrieb er Olga Fraenkel sehr viel später als „klein, mit dunklem lockigen Schopf, jüdisch aussehend und recht laut“.

Der Mittagstisch für die täglich 8-10 Tischdamen konnte bis in die ersten Kriegsjahre aufrechterhalten werden. Zu den Tischgästen zählte jahrelang auch Doris Tucholsky, Mutter des 1935 verstorbenen Kurt Tucholsky.

Im März 1942 musste Olga Fraenkel mit ihrer Tochter die Wohnung in der Sächsischen Straße verlassen. Beide wurden zwangsweise in ein sog. „Judenhaus“ in der Pfalzburger Straße 86 eingewiesen.

Nachdem Edith am 8. Juli 1942 verhaftet worden war, hat Olga Fraenkel ihre Tochter am 8.Oktober 1942 noch ein letztes Mal im Gerichtsgefängnis in der Kantstraße sehen dürfen. Am 14. Dezember 1942 wurde Olga Fraenkel deportiert – mit dem sogenannten „25. Osttransport“ nach Auschwitz. Ihr Todesdatum ist unbekannt.

Biographische Zusammenstellung: Roland Pachali
Anl.: Vortrag von Frau Schuster über Olga Fraenkel

Zusammenstellung von Gisela Schuster zu Olga Fraenkel

Olga Fraenkel geb. Marx, geb. am 1.Oktober 1888 in Mannheim. Verheiratet mit Leo Fraenkel, später geschieden

Olga Fraenkel lebte mit ihrer Tochter Edith in Berlin-Wilmersdorf. Beruf: Hausfrau.

Frau Fraenkel unterhielt in den Kriegsjahren einen Mittagstisch für jüdische Damen. Sie kochte gut, hatte aber zunehmend Schwierigkeiten, die passenden Lebensmittel zu besorgen, denn es gab Versorgungsengpässe. Überdies brauchte man zum Einkaufen Lebensmittelkarten und Juden bekamen immer weniger Zuteilung. Ediths Verlobter und Vater des gemeinsamen Kindes half ihr beim Beschaffen von Lebensmitteln. Er schilderte später Olga Fraenkel als klein, lebhaft, recht laut und „jüdisch aussehend“, was auch immer das sei. Frau Fraenkel war bei ihren Tischdamen beliebt, man kam gern zu ihr.

Die Gespräche der Mittagsrunde kreisten zunehmend um Einschränkungen und Ängste, die mit den Rassengesetzen zu tun hatten.

Eine, die schon jahrelang am Essen bei Frau Fraenkel teilnahm, war Doris Tucholsky (1869 – 1943), die Mutter von Kurt Tucholsky. Sie lebte allein: Kurt war schon seit 1935 tot, ihr Sohn Fritz war bei einem Autounfall ums Leben gekommen, ihre Tochter war emigriert. Doris Tucholsky litt unter Einsamkeit und materieller Not. Sie wurde deportiert und starb 1943 in Theresienstadt.

Die Mittagsrunde bei Olga Fraenkel wurde immer kleiner: Eine Teilnehmerin nach der anderen verschwand „in den Osten“, wie die Nazis die Deportation zynisch nannten.

Am 14. Dezember 1942 wurde Olga Fraenkel deportiert – nach Auschwitz. Ihr Todesdatum ist unbekannt.

Bericht von Regina Scheer über die Verlegung der Stolpersteine für Edith und Olga Fraenkel am 23. Oktober 2019

Alles, was man aus Edith Fraenkels kurzem Leben erfahren konnte, ist mir vertraut, es kommt mir vor, als ob ich ihre Gedanken, ihre Sehnsüchte und Enttäuschungen kenne. Natürlich weiß ich, dass das ein Irrtum ist, die Gefühle und Gedanken eines anderen, selbst wenn man ihm nahesteht, bleiben die eines anderen, sein Geheimnis. Und es gab Edith Fraenkel schon nicht mehr, als ich geboren wurde. Sie war nur noch ein Name auf vergilbendem Papier, später auch auf einem Granitstein auf dem Jüdischen Friedhof Weißensee. Aber dort wurde sie nicht begraben, sie hat nur ein „Grab in den Lüften, da liegt man nicht eng“, wie der Dichter Paul Celan wusste. Nicht einmal die Häuser, in denen sie gelebt hat, gibt es mehr; ihre Mutter, ihr Kind, ihre Freunde wurden vor der Zeit aus dem Leben gerissen. Doch Harry Cühn, der sie geliebt hat und Vater des kleinen Uri war, lebte noch, als ich vor Jahren nach Edith Fraenkels Spuren suchte. Ich traf Harry Cühn, ich traf Helmut Koberg und seine Frau Gisela, die mit Edith in eine Klasse der Rudolf-Steiner-Schule gegangen waren und mich mit ihrer Schulfreundin Lore bekannt machten…

Inzwischen leben auch die letzten nicht mehr, die Edith gekannt haben. Aber vor einiger Zeit war ich an der Rudolf-Steiner-Schule in Zehlendorf, wo die Schülerinnen und Schüler mit ihren Lehrern einen Gedenkstein für die jüdischen Mitschüler errichtet haben, die in den dreißiger Jahren dort lernten. Ein Gedenkstein für die Vertriebenen und Ermordeten. Zu der Einweihung waren auch Eltern und Geschwister der heutigen Schüler gekommen und da wurde auch Ediths Name genannt und ich sah, dass das, was ich an Zeugnissen und Spuren zusammengesucht hatte, gelesen und verstanden worden war.

Und nun, am 23. Oktober 2019 wurden zwei Stolpersteine verlegt in der Sächsischen Straße, Ecke Düsseldorfer, das war die Adresse von Edith und ihrer Mutter Olga gewesen, bevor sie ins „Judenhaus“ umziehen mussten. In der Parterrewohnung des Seitenflügels hatten sie gewohnt, Olga hatte dort einen Mittagstisch für alte jüdische Damen unterhalten, sich und Edith mühsam davon ernährt.
Das an Stelle des zerbombten errichtete Haus in der Sächsischen Straße 10 haben Olga und Edith Fraenkel nie sehen können, aber wo sonst hätte man ihrer gedenken sollen.
Unter denen, die zu der Verlegung gekommen waren, stand ein älterer Mann, Roland Pachali, der eine besondere Beziehung zu Edith Fraenkel hat, die er nie sah. Aber seine Mutter hatte als Kind mit Edith gespielt, deren Mutter hatte die kleine Edith sogar einmal gezeichnet, später verlor sich die Beziehung, aber Roland Pachali wusste, wer Edith Fraenkel war, er war es, der sich jahrelang unbeirrbar um diesen Stolperstein bemühte.

Schülerinnen und Schüler der zehnten Klasse der Rudolf-Steiner-Schule waren mit einigen Lehrerinnen und Lehrern gekommen, sie hatten ein Programm vorbereitet. Sie rezitierten Ediths Lieblingsspruch: „Erst wenn ich Lichtes denke, leuchtet meine Seele…“, sie sangen und spielten Geige. Und sie erzählten von Edith, lasen Auszüge aus einem Zuchthausbrief, aus dem Gnadengesuch, das ihr Verlobter vergeblich an den Oberreichsanwalt stellte. Man spürte die Fassungslosigkeit, die Bewegung in den jungen Gesichtern, ein Mädchen sprach davon, wie sie alle sich gerade einen Platz im Leben suchen, aufs Studium oder die Ausbildung vorbereiten und dass dies Edith verwehrt geblieben war. Auch die beiden jungen Männer von der Fachgemeinschaft Bau, die die Stolpersteine geschickt ins Straßenpflaster einarbeiteten, sind so alt, wie Edith Fraenkel gewesen war, als sie die mörderische Ausgrenzung erlebte, gegen die sie sich mit ihren Freunden zur Wehr setzen wollte.

Irgendwann drängte sich ein Mann mit einem Hund durch die Menschengruppe, die sich auf dem Bürgersteig versammelt hatte. Vielleicht hatte er nicht begriffen, worum es ging, vielleicht hat er es genau gewusst, sein böser, betont gleichgültiger Gesichtsausdruck, diese Rücksichtslosigkeit hatte etwas Brutales und erinnerte schmerzhaft daran, dass es bei dieser Stolpersteinverlegung nicht zuerst um die Vergangenheit geht.

Als die schöne Feierstunde zu Ende war, blieben die schimmernden Messingsteine, umgeben von Rosen, zurück. Ein Stolperstein zeigt nur die Daten, er trägt nicht die Erinnerung, die müssen Menschen weitertragen. Doch als ich da unter den anderen stand und den jungen Schülern der Rudolf-Steiner-Schule zuhörte, wusste ich: Keiner von ihnen wird vergessen, wer Edith Fraenkel war, was ihr und ihrer Mutter Olga geschehen ist.

In einem der letzten Gedichte von Rose Ausländer fragt sie: „Wenn ich fortgehe / von unsrer vergeßlichen Erde / wirst du mein Wort / ein Weilchen/ für mich sprechen?“
In dem, was die Schülerinnen und Schüler der Rudolf-Steiner-Schule in Zukunft sprechen werden, in dem, was sie tun, wird vielleicht etwas von Edith Fraenkel mitschwingen.