HIER WOHNTE
DR. MANFRED
LEHMANN
JG. 1897
FLUCHT 1937
PALÄSTINA
Die Biografie von Manfred Lehmann wurde 1958 von ihm selbst im Entschädigungsantrag niedergeschrieben (veraltete und uneinheitliche Schreibweisen wurden im Original belassen):
„Ich, Dr. Manfred Markus Josef Lehmann, bin am 23.9.1897 zu Berlin, Cuxhavener Str. 14 als Sohn des Schriftstellers, Zeitungsverlegers und Oberleutnants d. L. Dr. Jon Lehmann und seiner Frau Fanny Lehmann geb. Cohen geboren. Aus dieser Ehe war meine, nunmehr verstorbene, Schwester Martha Bertha Wilhelmine am 27.1.1896 hervorgegangen. Nach dem Besuch einer privaten Vorschule des Frl. Lydia Müller zu Berlin, Geisbergstr., kam ich auf das Werner Siemens Realgymnasium zu Berlin-Schöneberg, Hohenstaufenstr., doch wurde mein Schulzweig, das Reformrealgymnasium späterhin mit der Hohenzollernschule in Berlin-Schöneberg, Martin Lutherstr. vereinigt. Nach Kriegsausbruch 1914 stellte ich mich wie die meisten meiner Klassengenossen freiwillig, erhielt jedoch späterhin nicht von meiner Mutter hierzu die nachträglich von den Behörden verlangte elterliche Genehmigung, und musste deshalb auf der Lehranstalt bis zur Absolvierung des normalen Abiturs im Frühjahr 1915
verbleiben. Nach dem Studium von zwei Semestern Rechtswissenschaft an der Universität Berlin, während deren eine meiner Arbeiten eine laudatio academica erhielt, wurde ich zum Feldartillerieregiment 45 in Altona-Bahrenfeld eingezogen, kam von da zu der Hauptausbildungsstelle für Flugabwehrkanonen nach Frankfurt a.M. und von dort am 25.6.16 zum Flakzug 101. Im November 1916 wurde ich verwundet u. am 30.11.1916 ins Reservelazarett [?] IV in Hamburg Elmsbüttel überführt. Während des Lazarettaufenthaltes besuchte ich das Institut für Vorlesungswesen, damals Vorläufer der Universität Hamburg. Am 3.2.17 kam ich zum Flakzug 102 u.a. 4.10.17 zum Flakzug 69. Am 13.11.1918 kam ich zur Garde Kraftfahr Ers. Abtlg., trat nach der Revolution zum Reichswehr Gruppenkommando I (Abt. Lüttwitz) Führer der Kraftfahrtruppe [?] über und wurde von dort als Vizefeldwebel am 28.9. nach Zoppot entlassen, um dort meinen Dienst als Referendar des Amtsgerichts Zoppot antreten zu können.
Inzwischen hatte ich die Referendarprüfung am Kammergericht zu Berlin bestanden und promovierte am 20.1.1920 an der Universität Breslau magna cum laude zum Dr. iuris utriusque. Im Jahre 1921 erschien in der Sammlung des Prof. Dr. Ernst Heymann, Berlin unter Nr. 32 mein Buch „Der Begriff des angemessenen Preises“ und im Jahre 1922 bestand ich vor der Justizprüfungskommission des Preußischen Justizministeriums das Assessorexamen, um im gleichen Jahre als Anwalt bei den Gerichten der Freien Stadt Danzig zugelassen zu werden. Ich verblieb in Danzig bis zum Jahre 1930, in welchem Jahre ich die Zulassung in Danzig mit derjenigen bei den Landgerichten I, II, III in Berlin vertauschte. Im Jahr 1929 hatte ich Vera Ruth Löwenbach geheiratet, wir zogen nach Berlin und dortselbst wurden mir zwei Töchter, Daisy Traute Jo Mira am 26.6.1930 und Edna Jo Dagmar am 15.12.1931 geboren.
Ich war seitdem als Anwalt in Berlin erfolgreich tätig, doch wurde diese Tätigkeit mit der Machtübernahme Hitlers Ende Januar 1933 erheblich beeinträchtigt. Ich hatte damals Wohnung und Büro in Berlin N.O. 18, Weberstr. 51. Das ist eine stark industrielle, und war daher bis zur Machtergreifung Hitlers 1933 eine stark kommunistische Gegend. Das nahmen die Nationalsozialisten insbesondere S.A. zum Anlass, ihre Umzüge und Aufzüge durch die Weberstraße auszuführen. Mit der Machtergreifung im Januar 1933 überbot [sich die S.A.:] jüdische Glaubensgenossen wurden aus ihren Geschäften und Wohnungen gerissen, am Barte gerupft und beschnitten, und mit Hohn abgeführt bzw. durch die Straßen geführt. Auch bei mir erschienen wiederholt S.A. und S.S. Kommandos unter allen möglichen Vorwänden, sei es wegen angeblicher Waffensuche, wegen angeblicher Devisenkontrollen (Danzig, von wo ich kam, war damals Freie Stadt, also Ausland), sei es um lediglich Geldsummen zu erpressen, sei
es ohne jeden Vorwand. Bei diesen „Haussuchungen“ wurde alles auf den Kopf gestellt, auch verschiedenes einfach mitgenommen, und für mich, als ehemaligen Soldaten, war es wirklich äußerst schwer, an mich zu halten, und mit den Eindringlingen nicht handgemein zu werden. Gegen Ende März 1933 wurden alle jüdischen Rechtsanwälte gewaltsam aus den Gerichtsgebäuden entfernt, und am sogenannten „Boykotttag“ standen auch vor meinem Haus und Büro den ganzen Tag zwei S.A. Posten, so dass wirklich keinerlei Klientenverkehr stattfinden konnte. Ich war dann mehrere Monate „arbeitslos“ bis ich schließlich als „Frontkämpfer“ wieder zur Anwaltschaft zugelassen wurde u. einen dahingehenden nationalsozialistischen Ausweis erhielt. Immerhin ließen alle diese Belästigungen, Verfolgungen und Mühsale mir es wünschenswert erscheinen, einen Ortswechsel vorzunehmen, sodass ich mit meiner Familie noch im Oktober 1933 in das andere Haus meiner Frau in Berlin W15, Bayerische
Straße. 33 (am Olivaer Platz) zog u. auch mein Büro dorthin verlegte. Aber auch dort ließen die Verfolgungsmaßnahmen nicht nach. Waren es vorher die Entschließungen der Stammkneipenführer der einzelnen S.A. Formationen gewesen, welche mir das Leben verbitterten, so machte mir nunmehr die Gestapo selber das Leben sauer. Ich erhielt wiederholt Vorladungen zu Erscheinen auf dem Polizeipräsidium, natürlich ohne Angabe der Sache, um welche es sich handle, sodass ich weder die betreffenden Akten mitnehmen, noch mich auch sonst irgendwie auf die Vernehmung vorbereiten konnte. Diese Sache wurde mir auch bei meinem Erscheinen nicht mitgeteilt, vielmehr versuchten die als „Beamten“ tätigen Nationalsozialisten in unsachgemäßer, beleidigender aber auch gleichzeitig plumper Weise, durch Fragen nach allem Möglichen in eine Falle zu locken, um mich dabehalten zu können. War es aber schließlich soweit, dass ich doch in Erfahrung bringen konnte, worum es sich handle, dann
stellte es sich gewöhnlich heraus, dass Personen, welche in einem Prozess unterlegen waren, diese Anzeigen bei der Gestapo fabriziert hatten, um sich für den Verlust des Rechtsstreits zu rächen. Sobald es mir gelang, diesen Sachverhalt herauszufinden, konnte ich auch wiederholt erreichen, dass an mein Büro oder an die Gerichtsschreiberei des betreffenden Gerichts selber nach langen Bitten telefoniert wurde, um Urteil und Entscheidungsgründe des betreffenden nationalsozialistischen Gerichts in Erfahrung zu bringen bzw. anzuhören. Ich bin überzeugt, dass nur mein gutes Gedächtnis mich oftmals vor der Gefangensetzung nach derartigen Verhören rettete.
Diese und andere Ereignisse, wie die immer mehr zunehmende Ausstellung der Zeitschrift „Stürmer“ an vielen Straßenecken, ließen mich immer mehr erkennen, dass es für Juden in Deutschland keines Bleibens mehr sei. Ich fuhr wiederholt nach Palästina, um die Übersiedlung nach dorthin vorzubereiten. Meine Frau versprach mir, solange in Deutschland alles zu verwalten und mir dann mit den Kindern zu folgen. Als ich im April 1937 besuchsweise in Palästina weilte, kehrte ich nicht mehr nach Deutschland zurück, weil meine Frau mich ausdrücklich in Briefwechseln davor warnte. Etwa 6 Monate später erhielt ich eine Mitteilung, dass ich wegen Verbleibs im Ausland in der Anwaltsliste gelöscht sei. Ich versuchte, hier festen Fuß zu fassen, bestand auch in englischer Sprache, welche ich beherrschte, das Examen für auswärtige Rechtsanwälte, gelangte aber gleichwohl nicht zu auskömmlichen Einnahmen, weil damals Unruhen in Palästina das Wirtschaftsleben lähmten, weil ich die
Iwrithsprache erlernen musste, und weil mein Versuch, mich in der Landwirtschaft zu betätigen, mangels persönlicher Eignung fehlschlug. Im Jahr 1939 erhielt ich in Palästina die Zulassung als Rechtsanwalt, im gleichen Jahr schickte meine Frau unsere Kinder in eine Pension nach Australien. Auf diese Weise wurde ihr Leben gerettet, während meine Frau späterhin, in Deutschland oder auf dem Transport nach Auschwitz ermordet wurde.“
(An anderer Stelle:) „Ich habe, als ich Berlin verließ, meine 5 ½ Z. Wohnung in Berlin W15, Bayerische Str. 33 mit gesamter Einrichtung, Bibliothek, Büro, allen Schmuck und Wertsachen pp zurückgelassen, da meine Frau in der Wohnung verblieb (bis sie deportiert wurde). Davon ist nichts mehr da, auch mein Citroënwagen nicht. Ich schätze den Gesamtwert mit Gemälden, Maschinen, Geschirr, Teppichen usw. auf 100.000 M. Konten an Geld und Wertpapieren bestanden auf meinen Namen, desjenigen meiner Frau, meiner Mutter, meiner Großeltern und meiner Kinder bei Dresdner Bank bzw. Seehandlung bzw. Sparkasse d. Stadt Berlin. Ich habe bisher nichts zurückerhalten. Ich schätze (den Verlust) auf wenigstens 40.000.
Im Jahr 1944 heiratete ich nochmals. Aus dieser Ehe ist am 15.3.1945 eine Tochter hervorgegangen. Ich ernähre mich mühsam in meinem Berufe. Durch die infolge der geschilderten Ereignisse hervorgerufenen dauernden Aufregungen, sowie infolge der Strapazen der Auswanderung und der Mühseligkeiten der Umstellung veranlassten körperlichen und geistigen Anstrengungen wurde mein Herz stark angegriffen, ich bin Asthma u. magenleidend geworden und kann ohne ärztliche Hilfe, vielleicht auch wegen meines Alters, nicht mehr auskommen. Die Arbeit und die dauernde Konzentration fällt mir schon sehr schwer. (…) Seit 12.12.1958 bin ich 100%ig arbeitsunfähig.“
In den Entschädigungsakten finden sich ergänzende Informationen über weitere Familienangehörige:
Zu den Berliner Meldeadressen von Manfred Lehmann gehörten neben der Weberstraße 51 und der Bayrischen Straße 33 die Nymphenburger Straße, die Bamberger Straße 15 und die Würzburger Straße 17. In der Bayerischen Straße wohnte auch Manfred Lehmanns Mutter Fanny Lehmann, geb. Cohen, die am 27. Januar 1941 verstarb (sein Vater war bereits 1913 an einer Streptokokkeninfektion gestorben). Manfred Lehmanns Schwester Martha Bertha Wilhelmine war 1933 in die Niederlande gezogen und lebte dort ab 1944 im Verborgenen. Am 22. Oktober 1949 starb sie in Amsterdam. Der Antrag von Manfred auf eine Rente, weil ihr Tod im Zusammenhang mit ihrer Verfolgung stand, wurde abgelehnt, da er als Bruder nicht als anspruchsberechtigt galt.
1944 heiratete er die 1908 geborene Rosa Lagstein, am 15. März 1945 wurde ihre Tochter Jona (Yoha) Lehmann geboren. Die Familie lebte in der Nordaustraße 17 in Haifa. Die Töchter Traute (* 1930) und Edna (*1931) sah Manfred Lehmann erst 1947 wieder. Traute absolvierte in Australien eine Apothekerlehre und heiratete 1956 den Kaffeehausinhaber Jehuda (Ernst) Weinreb. Edna machte in Haifa eine Ausbildung zur Krankenschwester und zog 1955 nach England, wo sie 1957 Aubrey Samson heiratete. Sie arbeitete als Hebamme.
Manfred Lehmann starb 1967.
Recherche und Zusammenstellung: Katrin Schwenk, Stolpersteininitiative Charlottenburg-Wilmersdorf
Quelle:
Landesentschädigungsamt Berlin