Das Paar Gruenbaum lebte in Berlins wohlhabenden Viertel Charlottenburg unter der Adresse Dahlmannstraße 28.
Simon wurde nach seinem Großvater benannt; der Name Felicia stammt von dem lateinischen Wort ‚Glück‘ ab und entspricht im Hebräischen dem Namen ‚Alisa‘.
Mein Großvater war als Anwalt und Notar tätig, der sich auf gewerblichen Rechtsschutz spezialisiert hatte und dadurch mit unterschiedlichen Betrieben wie beispielsweise der Firma Sarotti Schokoladen und dem Kosmetik-Hersteller Leichner Farben zusammenarbeitete. Er war der Eigentümer seines Büros und war allem Anschein nach auch erfolgreich damit. Wie er uns immer erzählte, war er unter den ersten Berlinern, die ein Auto besaßen. Wie es bei intellektuellen jüdischen Familien damals Brauch war, waren bei der Familie oft Schriftsteller und Künstler zu Gast um zusammen zu musizieren, Musik zu hören und Gespräche über Kultur und Kunst zu führen.
Wie man sich bei uns in der Familie erzählte, kam einmal ein Kunde Großvaters zu ihm und sagte ihm er habe Schwierigkeiten die Bearbeitungsgebühren zu bezahlen. Er handelte mit Eiern und sagte, er könne entweder in Form von Eiern bezahlen oder ihm ein Stück Land, welches er in Palästina, in Petach Tikwa, erworben hatte, überlassen. Großvater antwortete darauf: „Die Eier sind schon in Ordnung“…
Die zwei Söhne der Familie, der ältere Sohn Hans und sein jüngerer Bruder Ernst, hatten Recht studiert und waren in der zionistischen Studentenbewegung ‚Blau Weiß‘ aktiv. Sie wanderten in das Land Israel ein und wollten ihre Vision vom landwirtschaftlichen Arbeiten in der Siedlung ‚Tiferet’ (= Herrlichkeit, Schönheit) bestehend aus drei Familien am Rande der Siedlung ‚Berazon‘ (=Arbeitswillig) verwirklichen.
Als sich die Situation in Deutschland mit der Machtübernahme Hitlers verschlimmerte, besuchten meine Großeltern ihre Söhne in Israel und wohnten bei ihnen in der Siedlung. Damals lebten in dem Haus, in dem heute die Familie Hanina Darias wohnt, der ledige Ernst, Hans und seine Frau Dubi. Meine Großeltern hatten sogar das Glück ihre junge Enkelin Ilana zu sehen. Leider entschieden sie nach kurzer Zeit wieder nach Deutschland zurückzukehren. Großvater hatte im ersten Weltkrieg als Soldat in der deutschen Armee gedient und hatte noch gute Verbindungen zum deutschen Militär. Auch die Familie meiner Großmutter hatte diesem Krieg viele Verluste geschuldet. Sie waren Deutschland gegenüber patriotisch eingestellt und glaubten sich so in Sicherheit.
In dem Haushalt meiner Großeltern arbeitete eine unverheiratete Frau namens Lotta Zwick, die die Kinder aufgezogen hatte. Als die Nürnberger Rassengesetze in Kraft traten, die es Christen verbaten für Juden zu arbeiten und die es Juden verbaten öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen oder in vielen Geschäften einzukaufen, setzte Lotta ihr Leben aufs Spiel und half ihnen weiterhin im täglichen Leben. Lotta selbst war Sozialistin, ihre Familie jedoch sympathisierte mit den Nationalsozialisten; ihr Bruder war sogar als einer der Leibwächter Hitlers tätig. Als der Justizrat Simon und seine Frau Felicia nach Berlin zurückkehrten, brach Lotta in Tränen aus und fragte: „Warum seid ihr zurückgekommen? Warum?“. Die Philosophin Hannah Arendt prägte den Begriff der ‚Banalität des Bösen‘ und in unserem Fall äußerte sich diese Banalität auf zweierlei Art und Weise: Lotta wusste von der Massenvernichtung der Juden, da ihre Schwester als Schreibkraft in Auschwitz
arbeitete. Gibt es einen konkreteren Ausdruck für die ‚Banalität des Bösen‘ als die Arbeit als Schreibkraft in Auschwitz?
Nur aufgrund der zahlreichen Beziehungen Großvaters wurde er nach Theresienstadt deportiert, jenes Lager, welches sich durch die Verblendung der Nazis und mithilfe der Medien und des Roten Kreuzes einen besseren Ruf zu eigen machte und in dem verhältnismäßig bessere Konditionen herrschten. Die Tatsache, dass es der Protektion bedurfte um in ein weniger mörderisches Konzentrationslager geschickt zu werden, ist ebenfalls ein Beispiel für die ‚Banalität des Bösen‘.
In dem Buch über jüdische Anwälte in Deutschland wird berichtet, dass in jenen Tagen etwa die Hälfte aller Rechtswissenschaftler in Deutschland sogenannte ‚Nicht-Arier‘ waren. Als meinen Großeltern kein Eigentum mehr übrigblieb, wurden sie am 10.9.1942 in das Konzentrationslager deportiert.
Hans erzählte, dass er damals die Listen des Konzentrationslagers überprüfte und meine Großeltern nicht gewalttätig umgebracht wurden, sondern kurze Zeit nach Ihrer Ankunft in den Viehwaggons im Lager starben. Großvater starb 46 Tage nachdem er in das Lager gekommen war und Großmutter nach etwa 4 Monaten. Offenbar haben die Kränkungen und die schweren Lebensbedingungen ihren Geist, ihre Seele und ihren Körper gebrochen. Unser einziger Trost ist es, dass meine Großeltern in ihre schwersten Stunden und ihren letzten Tagen in dem Wissen um die Sicherheit ihrer Söhne Hans, Ernst, ihrer Schwägerin Dubi und ihrer Enkelin Ilana einen Lichtblick fanden.
Felicia Gruenbaum (Ramat-Gan, Israel)