Ansprache von Michel Rice (Delmar, NY, USA) bei der Stolpersteineverlegung für Otto Hirsch und Martha Hirsch
bq. 1912 bewarb sich der 27-jährige Otto Hirsch, nach Absolvierung seines zweiten Staatsexamens als Jurist um eine Stelle an der Stadtverwaltung seiner Heimatstadt Stuttgart. Seine Mutter, Helene geborene Reis, war die Kusine meines Großvaters Richard Reis, ein angesehener Rechtsanwalt in Stuttgart mit einer Kanzlei in der Königstraße. Er war der erste Jude, der in den Stuttgarter Stadtrat gewählt worden war. Um jede Anklage zu vermeiden dass er einem Vetter, und sogar einem Juden, geholfen hätte, eine Stelle an der Stadtverwaltung zu bekommen, trat mein Großvater freiwillig von seinem Amt als Stadtrat zurück.
Otto Hirsch machte schnell Karriere und wurde 1921 als 36-jähriger der jüngste Ministerialrat in Württemberg, also überholte er den Ruhm meines Großvaters. Ottos Spezialität war Wasserstraßenrecht und er wurde zum ersten Vorstandsmitglied der Neckar AG berufen, die den Bau des Neckarkanals betrieb. Auch war er aktiv in der jüdischen Gemeinde und wurde 1930 zum Präsidenten des Oberrats der Israelitischen Religionsgemeinschaft in Württemberg gewählt.
Als die Nationalsozialisten an die Macht kamen, musste er seinen Posten bei der Neckar-AG aufgeben. Er gehörte danach zu den Gründern der Reichsvertretung der Deutschen Juden und wurde zu deren leitendem Vorsitzenden ernannt; Präsident war Leo Baeck. So kam Otto Hirsch nach Berlin und wohnte mit seiner Familie in dem Haus am Ende dieses Pfads.
In der neuen Stelle wurde er dreimal verhaftet von der Gestapo, erstens 1935, aber entlassen vom Gefängnis nach einigen Tagen, zweitens kurz nach der Kristallnacht wegen seines Protest gegen dieses Pogrom, zwei Wochen in das KZ Sachsenhausen, endgültig Februar 1941, wo er dann die letzten vier Wochen seines Lebens im KZ Mauthausen verbrachte bis er am 19. Juni starb.
Mitte Juli 1938 besuchte er, im Namen der deutschen Juden, die Internationale Evian Konferenz in Frankreich. Diese bestand aus 32 Nationen und 24 freiwilligen Organisationen, zusammengerufen von Präsident Franklin Delano Roosevelt, um Auswanderungsmöglichkeiten für deutsche Juden zu verbessern. Leider waren nur zwei Nationen, Costa Rica und die Dominikanische Republik, bereit, ihre Einwanderungsquoten zu erhöhen – ein wahrhaftiger Sieg für Hitler, der nun sagen hätte können: ‘Ja – Niemand will sie.’
In seiner Heimatstadt Stuttgart erinnerte man sich nach dem Wiederaufbau an die Verdienste von Otto Hirsch und benannte unter anderem eine Reihe von Brücken nach ihm. Als ich vor einigen Jahren nach Berlin kam, habe ich vergeblich nach Spuren von Otto Hirsch hier in Berlin gesucht.
Ich wurde 1930 in Stuttgart geboren und lebte mit meiner Mutter Dora Reis und ihren Eltern Richard und Auguste Reis in ihrem Haus in Stuttgart-Degerloch. Der Name Otto Hirsch war mir ein klarer Begriff, aber ich kann mich nicht erinnern, ihn persönlich kennen gelernt zu haben. Er verließ ja Stuttgart, ehe ich vier Jahre alt war. Meine ersten Schuljahre wurde ich in ein Internat in Holland geschickt, um dem nationalsozialistischen Deutschland zu entkommen. 1938 hat meine Mutter die Einwanderung nach USA beantragt, für sich und mich, aber diese wurde erst im März 1941 genehmigt. Wir hatten das ungewöhnliche Glück, im April 1941, mehr als anderthalb Jahre nach Anfang des Krieges, auswandern zu können. Meinen elften Geburtstag habe ich auf dem letzten spanischen Flüchtlingsschiff gefeiert. Die 14 jüdischen Schulkameraden, die nach 1942 noch in dem Internat geblieben waren, sind alle in KZ ermordet worden, der letzte erschossen am Tag der Befreiung des Lagers.
Stolpersteinen bin ich zum ersten Mal begegnet, als in Stuttgart ein Stein zu Ehren meiner Tante, Dr. Ella Kessler-Reis, verlegt wurde. Meine Tante Ella blieb mit meiner Großmutter in Deutschland zurück, um als Anwältin anderen Juden mit Auswandern zu helfen, wie auch Otto Hirsch es tat. Ella wurde in Auschwitz ermordet.
Als ich bemerkte, dass Otto Hirsch, der schon im Juni 1941 unter Haft in Mauthausen starb, in Berlin nicht gut bekannt und bestimmt nicht anerkannt war, obwohl dieses Haus am Hasensprung sein letzter Wohnsitz war, beschloss ich, diese zwei Stolpersteine ihm und seiner Frau Martha zu widmen. Martha ist in Berlin untergeschlupft, nachdem Otto in Haft genommen wurde, aber sie wurde Oktober 1942 nach Riga geschleppt und dort im Wald erschossen. Für sie wurde in Yad Vashem in Jerusalem ein Gedenkblatt angelegt.
Hans Hirsch, der Sohn von Otto Hirsch, starb letztes Jahr in USA im Alter von 99 Jahren. Seine Nachkommen sind sehr mit der Pflege ihrer Tante Grete, die 1921 geborene Tochter von Otto Hirsch, und der Auflösung des väterlichen Hauses beschäftigt, aber sie sind im Geiste bei uns. In einer Email schreibt Ottos Enkelin Deborah Hirsch Mayer:
bq. Our aunt Grete — Otto and Martha’s older daughter — and we, the grandchildren and great-grandchildren of Otto and Martha Hirsch, are moved that they are being remembered in this way.
While we did not know our grandparents personally, we know them through articles, photographs, their own letters, and above all, through stories we have been told. Their memories and their legacy live on.
We are sorry that we cannot be there today and hope we will be able to visit and see the stones in the future.
Deborah Hirsch Mayer
Marga Hirsch
Daniel Otto Hirsch
Naomi Hirsch
Angela Joachim (daughter of Otto and Martha’s younger daughter, Ursula)
(And on behalf of our aunt, Grete Hirsch, and our father Hans Hirsch’s 8 grandchildren and as-yet-too-young-to understand) 5 great-grandchildren)
bq. Da muss ich zufügen, dass diese sonst traurige Erinnerung an Otto und Martha Hirsch damit wesentlich hoffnungsvoller und freudevoller ist, wenn wir an ihre vielfältigen Nachkommen denken.
Lore Grabert, eine eingeladene Freundin meiner Lebensgefährtin Gertrud Kauderer, die in Schwaben lebt, schrieb:
bq. Liebe Trude und Michael,
es ist schön, dass die Taten mancher Menschen uns immer wieder vor Augen gestellt werden, und dazu zählt Dr. Otto Hirsch. Die Stolpersteinverlegung ist Erinnerung, Mahnung und Verpflichtung zugleich und ich freue mich für Michael, dass die mutige Menschlichkeit seiner Vorfahren nun historisch sichtbar dokumentiert und einzementiert ist. Ich kann nur in Gedanken mit dabei sein, herzlichen Glückwunsch
Lore
Gertrud und ich bedanken uns für Ihren Beistand zu dieser Zeremonie.
Nach seiner Auswanderung hat Michael Rice in USA studiert und war 20 Jahre Physikprofessor, bis er im Alter von 48 Jahren Jura studierte (er entstammt einer Juristenfamilie, sein Großvater war Jurist und seine Tante, die in Auschwitz umgekommen ist, ebenfalls). Zuletzt arbeitete er als wissenschaftlicher Berater bei der Legislative im Staat New York. So kam er schließlich in die Hauptstadt des Staates, Albany, in deren Umgebung er jetzt mit seiner Tochter eine CSA-Farm betreibt (Community Supported Agriculture). Er ist zweimal verwitwet, beide Ehefrauen starben an Krebs.