Am 15. Dezember 1910 heiratete Gottlieb die am 8. März 1885 im galizischen Rzeszow geborene Amalie Kanarek. Amalies Eltern hießen Feisach und Bliema, geb. Gertler. Zu Amalies Geburtsjahr – in einigen Dokumenten steht 1887 – und der Schreibweise ihrer Elternnamen gibt es unterschiedliche Angaben.
Zunächst wohnte das Ehepaar Bier in der Pfalzburger Straße 88. Dort wurden auch ihre Kinder geboren, am 25. Juli 1911 Eliese Sophie, am 7. Februar 1913 Maximilian Julius (Max) und am 7. Januar 1916 Paula Ruth. Das vierte Kind Paul starb 1918, noch im selben Jahr seiner Geburt. 1920 wohnten die Biers schon in der Fasanenstraße 32. Diese Adresse sollte ihr langjähriges Zuhause werden. Das Haus wurde im Krieg zerstört, an seiner Stelle steht heute ein Neubau mit der Nummer 33.
Amalie und Gottfried waren Mitglieder der orthodoxen Adass Jisroel Synagogengemeinde. Gottfried galt als Förderer des Israelitischen Krankenheims und wurde nach dem Tod von Prof. Mosche Knoller Kuratoriumsvorsitzender. Auch um das Wohl der Kranken hat sich Gottlieb Bier persönlich gekümmert.
Ihre Kinder ließen Amalie und Gottfried ganz im Sinne des jüdisch orthodoxen Glaubens erziehen. Alle drei besuchten das Realgymnasium der Israelitischen Synagogengemeinde Adass Jisroel – mit unterschiedlichen Berufszielen.
Eliese ging zunächst auf das Realgymnasium, machte ihr Abitur dann aber 1929 auf dem Gymnasium in Sigmundshof. Ihre Leidenschaft galt der Kunst und Literatur. Sie studierte an der Berliner Friedrich – Wilhelm – Universität Kunstgeschichte, Philosophie, Psychologie und Literaturgeschichte. Gleichzeitig besuchte sie noch die Journalistenschule. 1933 wurde sie als Jüdin vom weiteren Studium ausgeschlossen. Sie fand in der Firma ihres Vaters eine vorübergehende Anstellung, bis sie Ende 1933 nach Palästina auswanderte.
Max studierte nach dem Abitur Jura in Frankfurt/Main und Berlin, musste aber ebenfalls im März 1933 als Jude die Universität verlassen. Auch er arbeitete dann bis zu seiner Auswanderung nach Palästina im April 1934 als Buchhalter im Immobilienbüro seines Vaters.
Ruth konnte gar nicht erst ihr Abitur machen. Sie fand nach der Auflösung der weiterführenden Klassen des Realgymasiums keine Schule, die sie aufnehmen wollte. Ihr Berufswunsch Medizin blieb unerfüllt und Ruth lebte weiter bei ihren Eltern, bis auch sie 1938 nach Palästina ging.
Eliese und Ruth erkrankten im Laufe der Jahre in Palästina schwer, da sie die ungewohnte schwere Arbeit in der Landwirtschaft, bzw. in einer Wäscherei und die klimatischen Bedingungen nicht verkrafteten.
Im Jahre 1938 wurde die Firma „Julius M. Bier A.G.“ zwangsliquidiert. Zuvor hatten Gottlieb, Amalie und Ruth die Wohnung in der Fasanenstraße 32 verlassen und zogen in die Kaiserallee 206 (heute Bundesallee)in eine 8-Zimmerwohnung. 1938 war das Haus noch im Besitz des jüdischen Gutsbesitzers Heinrich Wertheimer (Rittergut Golzow). Ein Jahr später, nach den Zwangsveräußerungen jüdischen Eigentums, hatte das „Deutsche Reich“ das Haus in seinen Besitz genommen und sich somit den Zugriff auf alle Wohnungen gesichert. Die 8 -Zimmerwohnung wurde als „Judenwohnung“ deklariert und war neben dem Ehepaar Bier mit sieben weiteren jüdischen Untermietern belegt worden. Im Berliner Adressbuch ist Gottlieb Bier dort noch bis 1939 mit der Berufsbezeichnung „Makler“ eingetragen. Bereits 1940 steht sein Name mit dem Zusatz „Privatmann“ in der Admiral v. Schröder Straße 42. Dieses war jedoch noch nicht die letzte Bleibe. Es folgte der zwangsweise Umzug in eine
1-Zimmerwohnung in die Agricolastraße 21. Diese befindet sich in unmittelbarer Nähe der Levetzowstraße, wo in der zweckentfremdeten Synagoge die Juden vor ihrer Deportation zusammengepfercht wurden.
Gottfried und Amalie hatten ihr gesamtes Hab und Gut aus den großen Wohnungen in der Fasanenstraße und der Kaiserallee, darunter ein Steinway Flügel, Waschmaschine, Staubsauger, wertvolle Gemälde, Perserteppiche, Schmuck usw. zur Einlagerung bei der Kreuzberger Speditionsfirma Fritz Roth und & Co. abgegeben. Sie wussten um die Zwangseinquartierung in die winzige Wohnung in der Agricolastraße und wollten ihr wertvolles Eigentum in Sicherheit bringen. Zu den Gegenständen gehörten auch das Umzugsgut und die Aussteuer der Tochter Ruth, die in Palästina auf den Lift aus Deutschland wartete. Nach dem Krieg war alles verschwunden, die Speditionsfirma aufgelöst und der Inhaber in Österreich verstorben. Die Kinder und Enkel haben nie wieder etwas aus dem Nachlass der Großeltern zu sehen bekommen. Wer sich an Gottfrieds Auto, einem Lincoln, bereichert hat, bleibt ebenfalls im Dunkeln.
Es ist nicht bekannt, wie lange Gottfried und Amalie in der winzigen Wohnung ausharren mussten, bis sie am 24. September morgens um 5 Uhr in einen Sonderwagen der Straßenbahn verladen wurden, der sie zum Anhalter Bahnhof brachte. Von dort aus wurden sie mit einem der sogenannten „kleinen Transporte“, der jeweils 100 Menschen umfasste, nach Theresienstadt deportiert.
Im Ghetto angekommen, erwarteten sie drangvolle Enge und katastrophale hygienische Verhältnisse. Gottlieb starb am 16. Oktober, also etwa drei Wochen nach seiner Ankunft. Die offizielle Todesursache hieß Sepsis und Enteritis Acuta, eine häufig gebrauchte Umschreibung der wahren Ursachen wie Hunger, Seuchen und andere nicht behandelte Krankheiten.
Amalie musste noch zwei Jahre ohne ihren Mann in dem Ghetto leiden. Am 19. Oktober 1944 deportierte man sie in das Vernichtungslager Auschwitz, wo sie vermutlich als nicht arbeitsfähig erklärt und sofort ermordet wurde.
Text und Recherche: Karin Sievert Quellen: