Stolpersteine Lietzenburger Straße 44

Hausansicht Lietzenburger Str. 44

Diese Stolpersteine wurden am 19.05.2016 verlegt.

Stolperstein Dr. Alice Kamerase

HIER WOHNTE
DR. ALICE
KAMERASE
GEB. WEINBERG
JG. 1891
DEPORTIERT 26.2.1943
ERMORDET IN
AUSCHWITZ

Alice Weinberg kam am 17. September 1891 in Berlin als Tochter des Fabrikbesitzers Selig Siegfried Weinberg und seiner Ehefrau Selma geb. Fürstenberg auf die Welt. Die 1858 geborene Mutter stammte aus Neustadt in Westpreußen (heute Wejherow/Polen), der gleichaltrige Vater aus Tilsit (heute Sowetsk/Russland), weit im Osten an der Memel. Ihre Eltern hatten 1887 geheiratet, 1889 waren ihr Bruder Walter und 1890 die Schwester Käthe auf die Welt gekommen.
Der Vater, der sich nur noch „Siegfried“ nannte, war der Mitbesitzer der Firma Hochstein & Weinberg, einer Fabrik für „Glacé- und Kartonpapiere“. Der Sitz der Firma war um diese Zeit in der Wassertorstraße im heutigen Berliner Stadtteil Kreuzberg, die Familie wohnte in der Nähe: Alice Weinberg verbrachte die ersten Jahre ihrer Kindheit in der Ritterstraße und der Kleinbeerenstraße. Um 1900 kaufte ihr Vater das Haus Achenbachstraße 9 in Wilmersdorf (damals noch ein Vorort von Berlin), und die Familie zog um. – Die Achenbachstraße, heute Teil der Lietzenburger Straße, lag zwischen Rankestraße und Nürnberger Straße, das Haus Nr. 9 fast am Rankeplatz. Es sollte bis in die NS-Diktatur hinein im Besitz von Siegfried Weinberg bleiben.
Alice Weinberg besuchte eine höhere Töchterschule und dann die von der bürgerlichen Frauenrechtlerin Helene Lange 1893 gegründeten „Gymnasialkurse für Frauen zu Berlin“. Dies war ein mutiger Schritt für eine junge Frau des Kaiserreichs. 1912 begann sie ihr Medizinstudium an der Berliner Universität und wechselte dann nach Heidelberg, wo sie im Juli 1914 die ärztliche Vorprüfung bestand. Zurück in Berlin absolvierte Alice Weinberg das erste klinische Semester.

Aber der Erste Weltkrieg hatte begonnen, und es folgte der „Kriegsdienst“ der Frau: Alice Weinberg arbeitete in den Heilstätten Hohenlychen des Deutschen Roten Kreuzes in Lychen/Uckermark, die für tuberkulosekranke Kinder gebaut worden waren und nun auch als Lazarett dienten. Vom Sommersemester 1916 an studierte sie wieder, absolvierte im Herbst 1917 das ärztliche Staatsexamen und ging als Praktikantin in die Kinderklinik der Berliner Charité und wiederum in die Heilstätten Hohenlychen.
Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges folgten ihre Approbation und die Promotion. 1919 war Alice Weinberg eine der noch nicht so zahlreichen, zur Ausübung ihres Berufs zugelassenen deutschen Ärztinnen, aber sie praktizierte nicht. Als ledige Tochter wohnte sie – wie es üblich war – bei den Eltern in der Achenbachstraße 9.
Am 26. Februar 1920 heiratete Alice Weinberg den Diplomingenieur Dr. Siegfried Kamerase. Der 1880 in Ostpreußen geborene Sohn eines Rabbiners war Mitarbeiter und -besitzer der Fabrik ihres Vaters. Ihre Schwester Käthe hatte 1913 einen Opernsänger geheiratet, ihr Bruder Walter war Chemiker geworden, hatte 1919 geheiratet und sollte auch in der Firma des Vaters arbeiten.

Am 30. November 1920 kam der Sohn Michael Robert auf die Welt. Anfangs wohnte die Familie in Schmargendorf in der Cunostraße 52. Für kurze Zeit (wohl von 1926 bis 1928) arbeitete Dr. Alice Kamerase dort als niedergelassene Kinderärztin. Am 18. April 1925 wurde der zweite Sohn Thomas Theodor geboren.

1923 wurde die Firma Hochstein & Weinberg in eine Aktiengesellschaft verwandelt, und Alice Kamerase wurde eine der Gründerinnen der neuen/alten Firma und besaß auch entsprechende Aktien. Seit 1929/30 wohnte sie mit Ehemann und Söhnen wiederum in der Achenbachstraße 9, betrieb aber keine Praxis.

Gleich zu Beginn der NS-Diktatur verlor Dr. Alice Kamerase ihre Kassenzulassung und 1938 auch die Approbation. Ihr Vater musste das Haus in der Achenbachstraße verkaufen. Die Firma, die noch immer im Besitz von Familienmitgliedern war, wurde liquidiert.
Die Eltern von Alice Kamerase waren in die Helmstedter Straße gezogen. Am 28. Januar 1941 starb der Vater Siegfried Weinberg im Jüdischen Krankenhaus, am 14. Juli 1942 wurde ihre Mutter Selma vom Jüdischen Krankenhaus aus nach Theresienstadt und von dort am 19. September 1942 in das Vernichtungslager Treblinka deportiert und ermordet.

Das Ehepaar Kamerase musste Zwangsarbeit leisten. Laut Berliner Adressbuch von 1941 wohnten Dr. Alice und Dr. Siegfried Kamerase noch in der Achenbachstraße 9. Zuletzt aber mussten auch sie das Elternhaus von Alice Kamerase verlassen und in die Hohenstaufenstraße 44 in Schöneberg ziehen. Von dort wurden sie am 26. Februar 1943, ihrem Hochzeitstag, mit dem „30. Osttransport“ nach Auschwitz deportiert. Es war der letzte Berliner Transport vor der „Fabrikaktion“, die einen Tag später begann.

Von den ungefähr 1000 Deportierten wurden 106 Frauen und 156 Männer in das Lager selektiert, die anderen wurden sofort ermordet. Unter den für kurze Zeit geretteten Frauen war auch Dr. Alice Kamerase, die im Lager als Ärztin arbeiten musste. Sie und ihr Ehemann kehrten nicht zurück.

Es starben noch weitere Verwandte des Ehepaars, aber es überlebten die beiden Söhne von Alice und Siegfried Kamerase: Michael Robert (Bob) Kamerase konnte nach Palästina fliehen und lebte Ende der 1950er-Jahre in Beit Yitzhak in Israel. Thomas Kamerase wurde noch als Kind nach Großbritannien gerettet. Er lebte nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges in einem Kinderheim und absolvierte später eine Lehre als Zuschneider.

Quellen:
Berliner Adressbücher
Berliner Telefonbücher
BLHA Brandenburgisches Landeshauptarchiv
Deutscher Reichsanzeiger 1886, 1887
FU- Dokumentation Ärztinnen im Kaiserreich
Gedenkbuch Bundesarchiv
Alfred Gottwaldt/Diana Schulle: Die „Judendeportationen“ aus dem Deutschen Reich, Wiesbaden 2005
HU Datenbank jüdischer Gewerbebetriebe in Berlin 1930-1945
LABO Entschädigungsbehörde
Landesarchiv Berlin, Personenstandsunterlagen/über ancestry
Landesarchiv Berlin, WGA
Rebecca Schwoch (Hrsg.): Berliner jüdische Kassenärzte und ihr Schicksal im Nationalsozialismus, Berlin/Teetz 2009, S. 427
Eduard Seidler: Kinderärzte 1933–1945, Bonn 2000, S. 15
https://www.geni.com/people/
https://www.juedische-gemeinden.de
https://www.mappingthelives.org/
https://www.statistik-des-holocaust.de/list_ger.html

Dr. Dietlinde Peters, Vorrecherchen Nachlass von Wolfgang Knoll
Von der Koordinierungsstelle Stolpersteine Berlin

Stolperstein Dr. Siegfried Kamerase

HIER WOHNTE
DR. SIEGFRIED
KAMERASE
JG. 1880
DEPORTIERT 6.2.1943
ERMORDET IN
AUSCHWITZ

Siegfried Kamerase kam am 14. Juni 1880 in Nikolaiken/Masuren im südlichen Ostpreußen (heute Mikołajki/Polen) als Sohn des Rabbiners Dr. Leo Michael Kamerase (1856–1915) und dessen erster Ehefrau Dorothea Ascher auf die Welt. Sein Vater stammte aus einem Schtetl im Kurland, dem heutigen Lettland. Seine leibliche Mutter Dorothea war früh gestorben und der Vater hatte ein zweites Mal geheiratet. Die Eltern hatten zuletzt in Schlesien gelebt und auch seine Stiefmutter Lina, geb. Cohn, war aus dieser Provinz. 1887 wurde seine Halbschwester Helene im schlesischen Strehlen geboren. Der Vater zog als Lehrer und Prediger mit seiner Familie von einem Ort bzw. einer Gemeinde zur anderen: In den 1890er-Jahren war er Kultusbeamter in Belgard in Pommern (Białogard/Polen), um 1900 war er für kurze Zeit Rabbiner in Cottbus, und schließlich wurde er dann der erste Rabbiner der 1907 eröffneten Synagoge des Israelitischen Brüder-Vereins Rixdorf e.V. in der Isarstraße 8 in Rixdorf, heute Berlin-Neukölln. Die Synagoge lag im Hinterhof des Hauses, sie wurde 1938 während des Novemberpogroms zerstört.

Siegfried Kamerase studierte zu Beginn des neuen Jahrhunderts an der Technischen Hochschule in Aachen und erwarb 1906 sein Diplom als Ingenieur. Er wurde Assistent an der neuen Handelshochschule in Köln und habilitierte sich dort im Jahr 1915. Im selben Jahr starb sein Vater im Jüdischen Krankenhaus. Siegfried Kamerase kehrte nach Berlin zurück und arbeitete laut seinen Arbeitszeugnissen 1919/1920 für kurze Zeit bei zwei Berliner Firmen: bei der Firma Erich F. Huth, die unter anderem Rundfunkgeräte herstellte, und bei der berühmten Firma Telefunken.
Am 26. Februar 1920 heiratete Siegfried Kamerase die 1891 geborene Ärztin Alice Weinberg. Ihr Vater Siegfried (eigentlich Selig) Weinberg war der Mitbesitzer der Firma Hochstein & Weinberg, einer Fabrik für „Glacé- und Kartonpapiere“. Um 1900 hatte er das Haus Achenbachstraße 9 in Wilmersdorf gekauft und die Familie war dorthin gezogen. Die Achenbachstraße, heute Teil der Lietzenburger Straße, lag zwischen Rankestraße und Nürnberger Straße, das Haus Nr. 9 fast am Rankeplatz. Es sollte bis in die NS-Diktatur hinein im Besitz von Siegfried Weinberg bleiben.
Siegfried Kamerases Ehefrau Alice hatte die von der bürgerlichen Frauenrechtlerin Helene Lange 1893 gegründeten „Gymnasialkurse für Frauen zu Berlin“ besucht und dann Medizin studiert, aber sie praktizierte nicht. Als ledige Tochter wohnte sie, wie es üblich war, bei den Eltern in der Achenbachstraße. Siegfried Kamerase wohnte zum Zeitpunkt der Hochzeit ebenfalls in der alten Wohnung seiner Eltern in der Anzengruber Straße 10 in Neukölln.
Nach der Hochzeit trat Siegfried Kamerase zunächst als Mitarbeiter, dann als Mitbesitzer in die Firma seines Schwiegervaters ein, die eigentlich ein Familienunternehmen mit Kindern und Schwiegerkindern des Seniors war.
Am 30. November 1920 kam der Sohn Michael Robert auf die Welt. Anfangs wohnte die Familie in Schmargendorf in der Cunostraße 52. Für kurze Zeit (wohl von 1926 bis 1928) arbeitete Dr. Alice Kamerase dort als niedergelassene Kinderärztin. Am 18. April 1925 wurde der zweite Sohn Thomas Theodor geboren. Seit 1929/30 wohnten die Eheleute Kamerase mit ihren beiden Söhnen wiederum in der Achenbachstraße 9.
Gleich zu Beginn der NS-Diktatur verlor Ehefrau Alice Kamerase ihre Kassenzulassung und 1938 auch die Approbation. Die Firma, die noch immer im Besitz von Familienmitgliedern war, wurde liquidiert. Ihr Vater Siegfried Weinberg musste das Haus in der Achenbachstraße verkaufen, und die Eltern zogen in die Helmstedter Straße. Ende Januar 1941 starb Siegfried Weinberg, Mitte Juli 1942 wurde seine Frau Selma Weinberg nach Theresienstadt und von dort im Herbst des Jahres in das Vernichtungslager Treblinka deportiert und ermordet.
Der ältere Sohn Michael Robert verließ 1936 die Schule und emigrierte, nachdem er zwei Lehrstellen verloren hatte, nach Palästina, wo er im Kibbuz eine landwirtschaftliche Ausbildung machte. Thomas Kamerase, noch ein Kind, wurde nach Großbritannien gerettet und lebte dort nach dem Ausbruch des Krieges in einem Kinderheim. Er machte eine Lehre als Zuschneider.

Das Ehepaar Kamerase musste Zwangsarbeit leisten. Laut Berliner Adressbuch von 1941 wohnten Dr. Alice und Dr. Siegfried Kamerase noch in der Achenbachstraße 9. Dann aber mussten auch sie das Elternhaus von Alice Kamerase verlassen und als Untermieter in die Hohenstaufenstraße 44 in Schöneberg ziehen. Von dort wurden sie am 26. Februar 1943, ihrem Hochzeitstag, mit dem „30. Osttransport“ nach Auschwitz deportiert. Es war der letzte Berliner Transport vor der „Fabrikaktion“, die einen Tag später begann. Von den ungefähr 1000 Deportierten wurden 106 Frauen und 156 Männer in das Lager selektiert, die anderen wurden sofort ermordet. Unter den für kurze Zeit geretteten Frauen war auch Dr. Alice Kamerase, die im Lager als Ärztin arbeiten musste. Sie und ihr Ehemann kehrten nicht zurück.

Siegfried Kamerases Halbschwester Helene, seit 1919 mit dem Kaufmann Walter Guttsmann verheiratet, wurde mit ihrem Ehemann am 28. März 1942 in das Ghetto von Piaski deportiert und wahrscheinlich in Sobibor ermordet. Es starben noch weitere Verwandte von Siegfried Kamerase, darunter unzählige Menschen mit dem Namen Kamerase aus Lettland, von deren Leben nicht mehr berichtet werden kann.
Es überlebten die beiden Söhne von Alice und Siegfried Kamerase: Michael Robert (Bob) Kamerase lebte Ende der 1950er-Jahre im Kibbuz Beit Yitzchak in Israel und Thomas Theodor Kamerase (nun Tom Kelly) in Großbritannien. Er war von 1943 bis 1947 in der britischen Armee gewesen.

Quellen:
Adressbücher für Aachen und Umgebung
Adressbücher von Köln und Umgebung
Berliner Adressbücher
Berliner Telefonbücher
BLHA Brandenburgisches Landeshauptarchiv
Deutscher Reichsanzeiger 1880, 1923, 1930
FU-Dokumentation Ärztinnen im Kaiserreich
Gedenkbuch Bundesarchiv
Alfred Gottwaldt/Diana Schulle: Die „Judendeportationen“ aus dem Deutschen Reich, Wiesbaden 2005
HU Datenbank jüdischer Gewerbebetriebe in Berlin 1930-1945
LABO Entschädigungsbehörde
Landesarchiv Berlin, Personenstandsunterlagen/über ancestry
Landesarchiv Berlin, WGA
Rebecca Schwoch: Rebecca Schwoch (Hrsg.): Berliner jüdische Kassenärzte und ihr Schicksal im Nationalsozialismus, Berlin/Teetz 2009, S. 427
Eduard Seidler: Kinderärzte 1933–1945, Bonn 2000, S. 15
https://www.geni.com/people/
https://www.juedische-gemeinden.de
https://www.juedische-schicksale-werder.de/familie-guttsmann/
https://www.luckauer-juden.de: Namensverzeichnis der Niederlausitzer Juden
https://www.mappingthelives.org/
https://www.statistik-des-holocausts.de:Transportlisten
http://www.steinheim-institut.de:50580/cgi-bin/bhr?id=2281/

Vorrecherchen Nachlass Wolfgang Knoll