Stolperstein Tegeler Weg 14

Hausansicht Tegeler Weg 14

Dieser Stolperstein wurde am 10.2.2016 in Anwesenheit einer Gruppe Jugendlicher, die ihn gespendet hat, verlegt.

Stolperstein Walter Chall

HIER WOHNTE
WALTER CHALL
JG. 1913
IM WIDERSTAND / KPD
VERSCHLEPPT VON SA
20.9.1933
MAIKOWSKIHAUS
GEFOLTERT
TOT 20.9.1933

Walter Chall

Walter Chall

Walter Chall wurde am 28. Oktober 1913 in Berlin-Charlottenburg als Sohn der Gemüsehändlerin Johanna Chall, geborene Criée, und dem Arbeiter Gustav Chall geboren. Aus der Ehe gingen insgesamt fünf Kinder hervor, von denen jedoch zwei bereits im frühen Kindesalter starben. Walter wuchs mit zwei älteren Brüdern auf. Willi war vier und Hans zwei Jahre älter, über sie ist wenig bekannt.

Schon als Schüler half Walter Chall seiner Mutter bei der Arbeit an ihrem Gemüsestand. Er entwickelte früh ein politisches Bewusstsein, diskutierte viel und gerne mit seinen Mitschüler/innen über den Kommunismus und verwendete einen großen Teil seiner Freizeit für antifaschistisches Engagement. Beide Eltern verstanden sich als Linke. Sie unterstützten die Rote Hilfe, weshalb sie Walters politische Arbeit befürworteten und förderten. Seit 1928 war Walter Chall Mitglied des Roten Frontkämpferbundes (RFB) und bald darauf auch der kommunistischen Häuserschutzstaffel, wobei er oft in Auseinandersetzungen mit dem SA-Sturm 33 geriet. Dieser SA-Sturm war in Charlottenburg berüchtigt; er wurde auch „Mordsturm“ genannt und war ab Anfang der 1930er Jahre für den Tod vieler Antifaschisten verantwortlich.

In der Schule hatte er wegen mangelnder Autoritätsgläubigkeit Probleme. Auch kam er früh mit der Justiz in Konflikt. Das Amtsgericht Charlottenburg verurteilte ihn mehrfach wegen Diebstählen und „groben Unfugs“, im weiteren Verlauf ordnete das Gericht an, dass er in eine Fürsorgeeinrichtung eingewiesen werden solle. Insgesamt wurde Walter Chall acht Mal in die Fürsorgeanstalten Lindenhof in Berlin-Lichtenberg und in das Neanderhaus in Klein-Cammin gebracht. Immer wieder flüchtete er oder wurde von seinen Eltern versteckt, die zwar anfangs mit der Unterbringung in einer Fürsorgeeinrichtung einverstanden gewesen waren, aber schon bald nachdrücklich um sein Freilassung und Heimkehr nach Hause baten. Doch passte sich Walter weiterhin nicht an und befand sich in permanenten Auseinandersetzungen mit dem Gericht und der Jugendfürsorge. Dies endete mit dem Versuch, ihn zu pathologisieren und für verrückt zu erklären. Auffällig ist, dass auch Walters Politisierung in den Akten als ein „aufgehetzt(er)“ Zustand beschrieben wird. Der Verdacht liegt nahe, dass der junge Mann den Behörden auch politisch ein Dorn im Auge war. Aufenthalte in den Kückenmühler Anstalten in Stettin und auch in Berlin-Buch sind belegt, aber offensichtlich gelang es Walter und seiner Familie, nach Juli 1930 von den Behörden in Ruhe gelassen zu werden. Seine Mutter schrieb in einem nach dem Zweiten Weltkrieg gestellten Entschädigungsantrag, dass vermutlich auch die Arbeit in der Häuserschutzstaffel und dem RFB ihn stabilisierten.

Nach seiner Rückkehr aus den diversen Anstalten setzte Walter Chall sein antifaschistisches Engagement unvermindert fort und wurde am 29. August 1932 zum Opfer eines bewaffneten Angriffs des SA-Sturms 33 in der Röntgenstraße in Charlottenburg. Er wurde laut einer Zeugenaussage nach dem Krieg „von seiner Braut“, Friedegunde Wittig, an die Polizei als Tatbeteiligter verraten und anschließend mit acht weiteren Kommunisten wegen des Todes des SA-Mannes Gatschke bei der Attacke in der Röntgenstraße angeklagt. Wegen der Notstandsgesetze drohten fünf der Angeklagten, darunter auch Walter Chall, die Todesstrafe. Der Prozess wurde von unzähligen Solidaritätsveranstaltungen der Roten Hilfe begleitet und zum Sinnbild einer nicht mehr demokratisch legitimierten Justiz. In dem Verfahren wurden die Angeklagten von dem berühmten Berliner Anwalt Hans Litten verteidigt, der zuvor Adolf Hitler in einem Verfahren öffentlich deklassiert hatte und daher bei den Nationalsozialisten äußerst verhasst war. Es gelang Litten durch genaue Beweisführung darzulegen, dass die Angeklagten unschuldig und die SA-Männer von den eigenen Leuten erschossen worden waren. Daraufhin kippte die Stimmung in Presse und Gericht zu Gunsten von Chall und den anderen Angeklagten und sie wurden Anfang Oktober 1932 freigesprochen.
Obwohl Walter Chall der SA seit dem Röntgenstraßenverfahren verhasst war und er Racheaktionen befürchten musste, setzte er seine politische Arbeit fort. Er blieb im Rotfrontkämpferbund, der inzwischen verboten worden war. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten konnte er sich seines Lebens nicht mehr sicher sein, dennoch war er laut Aussage seiner Mutter weiterhin politisch aktiv und als Kurier für die nun illegale KPD tätig. Offenbar versuchte Walter, sich nicht mehr zu Hause aufzuhalten. Emmy Grünberg, deren Familie Verfolgten Unterschlupf bot, sagte 1947 aus, dass auch Walter Chall sich für einige Tage bei ihnen aufhielt. Auch deutete sie an, dass Walter sich in der Laubenkolonie der Eltern am Tegeler Weg versteckt hielt; unklar bleibt jedoch, ob die Familie Chall zu diesem Zeitpunkt nicht dort gewohnt hat.

Am 20. September 1933 suchten SA-Männer Walter Chall in der Laubenkolonie auf – ihre Absicht war ihm wohl klar, denn er versteckte sich. Schnell fanden sie ihn und er flüchtete durch den Garten. Im Versuch, über den Zaun zu entkommen, wurde Walter angeschossen und brach zusammen. Nicht eindeutig geklärt ist, ob er sich dann selbst auf der Suche nach einem Zufluchtsort in das nahe gelegene Polizeibüro 130 an der Keplerstraße/Ecke Osnabrücker Straße begab oder – wohl wahrscheinlicher – von den SA-Männern dorthin gebracht wurde. Seine Mutter Johanna Chall bekam im Polizeibüro keine Angaben über seinen Verbleib, als sie sich dort nach ihm erkundigte. Doch schilderte sie eindrücklich in mehreren Aussagen nach 1945, wie sie selbst in ein Zimmer auf dem Revier eingeschlossen wurde und dort die Stimme ihres Sohnes hörte, der um Hilfe rief. Sie hörte auch, wie ihr Sohn, der nicht mehr in der Lage war, selbst zu laufen, die Treppe hinuntergestoßen wurde. Nachdem sie einen Lastwagen hatte wegfahren höre, wurde sie ohne weitere Auskünfte entlassen.
Walter Chall wurde von der SA in das berüchtigte „Maikowskihaus“ in der Rosinenstraße gebracht und dort schwer gefoltert. Wie lange er leiden musste, ist nicht bekannt. Sicher ist, dass er ermordet wurde. Das Maikowskihaus, benannt nach dem Führer des SA-Sturmes 33, Hans Maikowski, der in der Nacht der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten in einer Auseinandersetzung starb und zum Märtyrer erklärt wurde, war eines der berüchtigtsten Folterzentren in Charlottenburg. Johanna Chall gab nach dem Krieg an, dass die Leiche ihres Sohnes in „gänzlich verstümmeltem Zustand“ und mit abgehackten Händen von einem Revierförster im Tegeler Forst hinter dem Spandauer Schifffahrtskanal gefunden wurde. Ihr und ihrem Mann wurde aber erst nach einer Woche des bangen Wartens am 28. September 1933 mitgeteilt, dass der Leichnam sich im Leichenschauhaus befände. Auf dem Totenschein wurden als Todesursache Schüsse in Rumpf und Kopf angegeben, doch wurde Johanna Chall der Totenschein noch vor der Beerdigung von der Gestapo wieder abgenommen.

Mehrere Zeugen sagten nach 1945, dass die Eltern von Walter Chall nach dessen Tod zu erbitterten Gegnern der Nationalsozialisten wurden und obwohl sie selbst sehr wenig Geld hatten, die antifaschistische Arbeit finanziell unterstützten. Inwieweit sie selbst verfolgt wurden, ist nicht bekannt.

Walters Bruder Hans starb wohl 1938 an den Folgen eines Unfalls, den er bei der Errichtung des Westwalls erlitt. Der älteste Bruder Willi wurde im Krieg von der Wehrmacht eingezogen und in der Sowjetunion schwer an den Händen verletzt. Sein weiteres Schicksal ist nicht bekannt, er wird von seiner Mutter in allen späteren Anträgen nicht mehr erwähnt. Walters Vater, Gustav Chall, starb am 14. November 1945. In einer Zeugenaussage hieß es, dass er wegen der Verfolgung durch die Nationalsozialisten zu Grunde ging. Johanna Chall wurde als „Opfer des Faschismus“ anerkannt. Sie starb am 5. Januar 1963.

Recherchen und Text: Laurenz Lammer, Sophia Schmitz (Koordinierungsstelle Stolpersteine Berlin)