Als Emma Lewy in den Güterzug steigt, der sie nach Auschwitz transportieren wird, hat man ihr bereits alles genommen: Ihre Familie, die beiden Mietshäuser am Kurfürstendamm mit der selbst bewohnten Acht-Zimmer-Wohnung darin, das Vermögen, die gefühlte Sicherheit eines großbürgerlichen Lebens. Die letzten Monate vor der Deportation verbrachte Emma Lewy in einem „Judenhaus“ in der Schwäbischen Straße 3 in Berlin-Schöneberg. Vermutlich 1942 oder 1943 wurden die Witwe und ihre minderjährige Tochter Marianne hier einquartiert. Chancen zum Überleben hatten sie nicht.
Emma Lewy wuchs in der Kleinstadt Samter (polnisch Szamotuly) auf, die bis 1918 zur preußischen Provinz Posen gehörte. Hier wurde sie am 23. April 1892 als Tochter von Theodor Tefel Mottek und seiner Frau Helene geboren. Sie hatte vier ältere Brüder und eine jüngere Schwester. Juden gab es seit dem 15. Jahrhundert in Samter. Es war eine starke Gemeinde, die zeitweise die Hälfte der Kleinstadtbevölkerung stellte. Die Motteks waren zumeist Viehhändler, aber auch Destillateure oder sie handelten mit Kolonialwaren. Wie viele Juden dieser Region wanderte zumindest ein Teil der Familie gegen Ende des 19. Jahrhunderts nach Berlin aus. Emmas Eltern wohnten im Berliner Bezirk Kreuzberg am Segitzdamm 8. Im Mai 1923 stirbt Emmas Vater 72-jährig, ihre Mutter und ihre Schwester leben noch fast zwanzig Jahre in der Wohnung nahe dem Kottbusser Tor.
Emma ist noch sehr jung, als sie den zwölf Jahre älteren Kaufmann David Lewy kennenlernt und heiratet. In ihren Papieren wird später zu lesen sein: „berufslos“. Mit 22 Jahren, am 19. Juli 1914, bekommt sie ihr erstes Kind, die Tochter Erika Hildegard. Wenige Tage später beginnt der Erste Weltkrieg. Das Ehepaar Lewy bewohnt ein prächtiges Gebäude am Kurfürstendamm 91/92. Die beiden Häuser direkt gegenüber dem Lehniner Platz waren Eigentum der Havag Hausverwaltung AG. Die Hälfte der Anteile gehörten David Lewy.
Der junge Kaufmann stammt wie seine Frau aus Posen. In das Städtchen Schildberg (poln. Ostrzeszow) nordwestlich von Breslau zogen im 19. Jahrhundert viele Juden aus dem ländlichen Umland, es gab eine Synagoge, eine jüdische Schule und einen jüdischen Friedhof. David Lewy wurde dort am 2. Mai 1879 oder 1880 geboren. Die Familie Lewy muss eine gutsituierte und auch emanzipierte Familie gewesen sein. Denn Davids drei Jahre ältere Schwester Johanna studierte ab 1903 Medizin, erst in Breslau, dann in München. Der Arztberuf war für Frauen damals noch unüblich. Nach ihrer Approbation 1909 arbeitet Dr. Johanna Lewy-Hirsch in Berlin, ist Mitglied des „Vereins sozialistischer Ärzte“ und hat später ihre gynäkologische Praxis im Hause ihres Bruders David am Kurfürstendamm.
Auch der Bankier Dr. Max Lewy, ein weiterer Verwandter von David, wird hier bald seinen Wohnsitz haben. Im Jahr 1920 gründet David Lewy das „Bankgeschäft D. und M. Lewy (Banken und Versicherungen)“. Firmensitz ist der Kurfürstendamm 91. Die Geschäfte florieren. Denn damals dominierten kleine Privatbanken das Wirtschaftsleben. In Berlin gab es Hunderte davon. Großbanken in Form von Aktiengesellschaften entstanden erst später.
Auch andere Berliner Prominente wohnen in dem luxuriösen Gebäude. Zum Beispiel der Lokalchef der „Vossischen Zeitung“ Fritz Goetz. Seine Ehefrau ist SPD-Abgeordnete in Halensee. Für die Nachbarn ist sie „die rote Alice“. Im Jahr 1933 wurde der Ullstein-Redakteur aus der Kochstraße verjagt. Das Ehepaar landete im KZ Dachau. Nachdem sie ihr gesamtes Vermögen der bayerischen SA zum „Geschenk“ gemacht hatten, konnten sie 1936 nach Palästina emigrieren.
Das Ehepaar Emma und David Lewy bekommt noch zwei weitere Kinder. Am 16. April 1919 wird der Sohn Arthur Günther geboren und sechs Jahre später, am 30. April 1925, die Tochter Marianne. Doch wenige Monate nach der Machtergreifung Hitlers trifft die Familie ein Schicksalsschlag. Das nur 53 Jahre alte Familienoberhaupt David erliegt am 13. Juni 1933 einem Nervenleiden. Er war zuletzt in der privaten Heil- und Pflegeanstalt Berolinum für „Gemüts- und Nervenkranke“ in Berlin-Lankwitz untergebracht. Die geschlossene Anstalt mit offener Abteilung hatte der jüdische Arzt James Fraenkel 1890 gegründet. Emma Lewy sorgt von nun an für sich und ihre 18, 14 und 8 Jahre alten Kinder allein. Das Bankgeschäft D. und M. Lewy wird zeitnah nach dem Tod von David Lewy liquidiert. Aber noch ist Emma Lewy vermögend.
Die Einschränkungen für Juden setzten erst nach und nach ein. Besonders nach dem Novemberpogrom von 1938 konnten Juden kaum noch am öffentlichen Leben teilnehmen, durften die Straßen nur zu bestimmten Zeiten betreten, keine Kinos, Theater oder Konzerte besuchen. Der prächtige Kurfürstendamm, auch in der Nazi-Zeit noch ein Flanierboulevard – für die Lewys war er praktisch nicht mehr vorhanden. Auch nicht das direkt gegenüberliegende Kino Universum, das der Jüdische Architekt Mendelsohn 1927/28 erbaut hatte. Noch bis 1944 fanden in dem futuristischen Gebäude Aufführungen des „Kabaretts der Komiker“ statt.
Die beiden älteren Kinder von Emma Lewy verlassen Nazi-Deutschland noch rechtzeitig. Tochter Erika emigriert nach Argentinien in die Provinz Cordoba und heiratet dort. Arthur Günther wandert in die USA aus, ändert seinen Namen in Arthur John Gunther, wird Seeoffizier, lebt erst in Los Angeles und später in New York. Emmas Schwägerin Johanna Lewy-Hirsch emigriert 1939 zusammen mit ihrem Ehemann nach London. Die jüngste Tochter Marianne bleibt in Berlin bei ihrer Mutter.
Im Februar 1940 wird das Gebäude Kurfürstendamm 91/92 „zwangsverkauft“. Das Mobiliar und alle Wertgegenstände muss Emma Lewy abliefern. Ihr hälftiger Anteil am Aktienkapital der Havag Hausverwaltung AG in Höhe von 25.000 Reichsmark wird durch das Amtsgericht Berlin einem „Vermögenspfleger“ überstellt. Später wird der Vermögensverwalter auch die zweite Hälfte des Familien-Kapitals übernehmen. Deutsche Bank und Dresdener Bank werden ebenfalls bald die „Einziehung des Vermögens zugunsten des Reiches“ an die Finanzbehörden melden. In den Berliner Adressbüchern ist Emma Lewy noch bis 1943 als Wohnungseigentümerin eingetragen. Für kurze Zeit hat sie als Untermieterin in der Salzburger Straße 16 in Schöneberg gelebt. Doch vermutlich Anfang 1943 zieht sie zusammen mit Tochter Marianne in das „Judenhaus“ in der Schwäbischen Straße 3.
Ein halbes Jahr zuvor, am 8. August 1942, war ihre acht Jahre jüngere Schwester Margot Toni erst in das KZ Ravensbrück bei Berlin und dann nach Auschwitz deportiert worden. Drei Monate später, am 6. November 1942, wurde Ihr älterer Bruder Israel Isidor nach Theresienstadt verschleppt. Beide Geschwister wurden ums Leben gebracht.
Am 1. März 1943 wird Emma mit dem „31. Ost-Transport“ nach Auschwitz deportiert. Ihre 18-jährige Tochter Marianne bleibt noch sechs Wochen im „Judenhaus“ wohnen. Am 19. April 1943 wird auch sie deportiert. Es war der „37. Ost-Transport“. Er ging nach Auschwitz-Birkenau. „Ist evakuiert“ – heißt das in den Akten der Berliner Oberfinanzdirektion, die sich noch bis kurz vor Kriegsende um die „Abwicklung“ des Immobilien-Vermögens der Familie Lewy streitet.
Der genaue Todestag der beiden Frauen ist nicht bekannt. Er wird von den Behörden mit „8. Mai 1945“ festgelegt.
Recherche und Text: Gudrun Küsel
Quellen: Gedenkbuch. Bundesarchiv Koblenz; Landesentschädigungsamt Berlin; WGA Datenbank; Berliner Adressbücher; Brandenburgisches Landeshauptarchiv; www.geni.com; www.Jüdische-Gemeinden.de