Stolperstein Auerbachstraße 2

Hausansicht Auerbachstr. 2

Dieser Stolperstein wurde von der Hausgemeinschaft gespendet und am 15.10.2014 – dem Gedenktag zum Beginn der Deportationen vom Bahnhof Grunewald am 18.10.1941 – in Anwesenheit von Hausbewohnern und zahlreichen Gästen verlegt. Auch der Staatssekretär für Kultur des Landes Berlin, Tim Renner, und der stellvertretende Bürgermeister von Charlottenburg-Wilmersdorf, Carsten Engelmann, nahmen an dem Gedenken an Frida Kalischer teil.

Das 1899 als „Nickel’sches Haus“ erbaute Wohnhaus an der Auerbachstraße 2 in Berlin-Grunewald gehörte 1920 der Jüdischen Gemeinde. 1921 kaufte es Ismar Freund, der in den Adressbüchern der 1920er und -30er Jahre mal als Dr. phil., mal als Dr. jur. eingetragen war. Spätestens 1937 muss er gestorben sein, denn von 1938 bis 1940 war seine Frau Dr. Elise (Elisabeth) Freund als Eigentümerin genannt. In diesen Jahren wohnten hauptsächlich Ministerialräte, Rechtsanwälte und Fabrikbesitzer in der prächtigen Villa am Rand des Grunewalds. 1939 zog die Schriftstellerin Frida Kalischer in den 3. Stock ein, wo sie 4½ Zimmer mit Balkon bewohnte, für die sie 180 Reichsmark Miete an Frau Dr. Freund in Jerusalem zu zahlen hatte.

Stolperstein Frida Kalischer

HIER WOHNTE
FRIDA KALISCHER
JG. 1883
DEPORTIERT 14.12.1942
AUSCHWITZ
ERMORDET 31.12.1943

Deckblatt-Buchtitel

Frida Kalischer wurde am 12. März 1883 in Berlin als Frida Cohn geboren. Ihre Spuren in Berlin lassen sich anhand der Berliner Adressbücher zurückverfolgen: Von 1909 bis 1935 wohnte sie in der Konstanzer Straße 1, bis 1928 mit der Familie ihres Stiefvaters Dr. Salomon Kalischer, der Professor für Physik an der Technischen Hochschule Charlottenburg war und sie an Kindes Statt angenommen hatte. Von 1936 an ist ihr Name in der Paulsborner Straße 80 zu finden. Warum sie 1939 in die Auerbachstraße umzog – zu jener Zeit war es für jüdische Menschen schwierig, eine Wohnung zu finden – ist unbekannt. Möglicherweise lag es daran, dass die ebenfalls jüdische Hausbesitzerin Elise Freund, die zumindest 1938 und 1939 selbst in dem Haus wohnte, sie als Mieterin aufnahm. Offenbar hatte sie es geschafft, der Judenverfolgung nach Palästina zu entkommen.

In den Adressbüchern seit 1935 war Frida Kalischer wechselweise als Frida und als Frieda eingetragen, nur im Jahr 1937 merkwürdigerweise gar nicht. Am 17.5.1939, als eine Volkszählung stattfand, ließ sie sich als Frida – ohne das e – registrieren.

Bekannt geworden ist ihr Buch „Der Stern über der Schlucht“, das 1920 im Erich Reiß Verlag, damals einem der führenden deutschen Literaturverlage, erschien. Sie schrieb es unter dem Künstlernamen Fried Kalser. Ob Frida Kalischer weitere Bücher verfasst hat, ist im Internet nicht herauszufinden. Der jüdische Verleger Erich Reiß (1887-1951) war 1938 mehrere Wochen im KZ Sachsenhausen inhaftiert und entkam über Schweden in die USA. Der Name Kalser deutet auf ihren gleichaltrigen Stiefbruder, Dr. Erwin Kalischer hin, der als Literaturwissenschaftler, Schauspieler und Regisseur Anfang des 20. Jahrhunderts in Berlin, Zürich und den USA bekannt war. Er nannte sich später Erwin Kalser.

Elise Freund war 1942 aus dem Eigentümerverzeichnis gestrichen worden, stattdessen stand dort „ungenannt“, ebenso 1943. Frida Kalischer stand bis 1942 als Mieterin im Adressbuch, aber 1943 nicht mehr. Denn am 14. Dezember 1942 wurde sie deportiert. Ein Jahr und zwei Monate lang hat sie aus nächster Nähe miterleben und oft mit ansehen müssen, wie seit dem 18. Oktober 1941 massenhaft Berliner Juden in langen Marschkolonnen oder in Lastwagen ankamen, am Gleis 17 des Bahnhofs Grunewald in Züge gepfercht und abtransportiert wurden. Eines Tages kam sie selbst auf die Deportationsliste und musste eine Vermögenserklärung abgeben, die einige Aufschlüsse über ihr Leben gibt und belegt, wie skrupellos sich die Nationalsozialisten am Eigentum der Juden bereicherten.

In die Vermögenserklärung trug Frida Kalischer in die Spalte Staatsangehörigkeit „Preussen, Deutschland“ ein, was ungewöhnlich war. Unter Familienstand schrieb sie „ledig“, bei Beruf“ „ohne“. In ihrer geräumigen Wohnung hatte sie drei Untermieter untergebracht: Annelies Heuser, die mietfrei ein Zimmer bewohnte, sich aber Ende 1942 in einem Krankenhaus befand, und das Ehepaar Lothar und Charlotte Chodziem, das 1½ Zimmer zur Verfügung hatte und 72 Reichsmark anteilige Miete zahlte. Ihn kennzeichnete Kalischer als „Jude“ und sie als „arisch“. Diese von den Nazis so genannte „Mischehe“ dürfte ihm das Leben gerettet haben, sie „wandern nicht aus“, schrieb Kalischer in das Formular.

Frida Kalischer war eine gebildete und, nach damaligen Verhältnissen, wohlhabende Frau. Ihr Vermögen und der Wert ihrer Einrichtung wurde 1942 auf 75 000 Reichsmark geschätzt, wovon ihr schon 15 692,50 RM als „Reichsfluchtsteuer“ abgenommen wurden. Sie besaß einen dreiteiligen Bibliothekschrank aus Eichenholz mit 150 Büchern und ein weiteres Regal mit 250 bis 300 Büchern, die teilweise „jüd. Inh.“ hätten, notierten die amtlichen Plünderer im Gewand von Gerichtsvollziehern.

Am 13.12.1942 wurde sie zunächst ins Sammellager an der Hamburger Straße gebracht und von dort wieder auf den Vorplatz des Bahnhofs Grunewald getrieben, an dem sie einige Zeit gelebt hatte. Ziel des mit mehr als 800 Menschen besetzten Zuges, von den NS-Behörden als 25. Osttransport eingruppiert, in dem auch sie saß, war Auschwitz, wo Frida Kalischer im Alter von 60 Jahren am Silvestertag 1943 ums Leben gebracht worden ist. Mit anderen Worten: Sie hat die Hölle von Ausschwitz ein Jahr lang ertragen müssen. Die am Gleis 17 eingelassene Gedenkplatte weist fälschlicherweise für den am 13.12.1942 gestarteten Zug Riga als Ziel aus.

Das Stadtbüro der Berliner Handelsgesellschaft, bei der sie ihr Konto führte, schrieb im damals üblichen Stil an die Behörde des Oberfinanzpräsidenten: „Wie uns das Einwohnermeldeamt Berlin unter dem 11.2. mitteilt, ist Fräulein Kalischer am 14.12.1942 nach dem Osten übergeführt worden.- Heil Hitler!“ Am 28.5.43 erging ein Bescheid, dass das „Vermögen eingezogen“ sei. Der Verwalter des Hauses Auerbachstraße 2, Rechtsanwalt Alfred Hendler, Kurfürstendamm 232, versuchte, daran noch teilzuhaben und meldete einen „durch die Evakuierung der Jüdin Frida Kalischer entstehenden Mietausfall“ von 1.233 RM an, was jedoch vom Amt bestritten wurde.

Frida Kalischer stammte aus einem typischen jüdischen Professorenhaushalt. Als sie 6 Jahre alt war, heiratete ihre Mutter, Hedwig Cohn, den Mann ihrer verstorbenen Schwester (Frida Buki) Prof. Kalischer. Er hatte in Breslau jüdische Theologie, später Physik und Chemie studiert. Hochgebildet, war er jahrelang Präsident der Goethe-Gesellschaft und publizierte philosophisch-theologische Werke. Sein Sohn aus erster Ehe, Dr. Erwin Kalischer, konnte nach Zürich entkommen und lebte zeitweise in Hollywood, wo er sich als Künstler einen Namen machte. Er beerbte Frida Kalischer und starb 1958 in Berlin, bevor die Gerichte den Umfang der Wiedergutmachung festgelegt hatten. Seine Frau Irmgard, geb. von Cube, (geboren am 26.12.1899) und zwei ebenfalls in der Filmbranche tätige Söhne, Konstantin (geb. 4.9.1920) und Sebastian, blieben in New York.

Offen bleibt, ob es Frida Kalischer war, die in einem Schiffsregister als Reisende mit dem Dampfer „General von Steuben“ von Southampton nach New York eingetragen war. Ebenso ist nicht zweifelsfrei, ob S. Kalischer, der 1894 mit dem Schiff „State of Nebraska“ von Glasgow nach New York gereist war, ihr Stiefvater Salomon Kalischer gewesen ist.

In ihrem Testament vom 2.11.1941 bestimmte Frida Kalischer ihren Stiefbruder Erwin Kalser (in Hollywood) zum Alleinerben und stellte in sein Ermessen, den gemeinsamen Neffen Dr. Wolfgang Heiman, Sohn ihrer Stiefschwester Eva, (in Jerusalem) zu beteiligen.
Testamentarisch verfügte sie bestimmte Summen für:
Herrn und Frau Nathansohn Nedlitz, Neu Fahrland
Fräulein Johanna Reisner, Toomersdorf bei Rothenburg/ Oberlausitz
Jüdische Kultusvereinigung zu Berlin zur Pflege folgender Gräber:
Eltern Adolf Cohn und Hedwig Kalischer,
Schwester Eva Heiman „und danebenliegend meines“
Das Grab des Stiefvaters Prof. Kalischer in der Ehrenreihe, das ohnehin der Obhut der Gemeinde unterstellt ist, soll an seinen Gedenktagen einen besonderen Blumenschmuck bekommen.

Ferner vermachte sie 10.000 RM ihrer Freundin und ehemaligen Angestellten, Henriette Kersten, Trautenaustraße 9 bei Heydecker. Sie solle für den Fall, dass Erwin Kalser und Dr. Heiman das Erbe nicht antreten könnten, Gesamterbin werden.

Recherchen und Text: Helmut Lölhöffel und Dr. Hans-Joachim Niesel

Nach einer kurzen Ansprache von Staatssekretär Tim Renner und der Ehrung Frida Kalischers durch Dr. Hans-Joachim Niesel hat die Hausbewohnerin Jutta Blumenau-Niesel diesen Text verlesen:

  • Heute, am 15. Oktober 2014, stehen wir an Ort und Stelle des Vergehens, hören diesen Bericht von Ralf Bachmann, und uns scheint, als sei das Unfassbare erst gestern geschehen.
    Für die in Berlin lebenden Juden war der Güterbahnhof Grunewald während des Zweiten Weltkrieges ein Ort des Grauens. Die meisten wussten, dass er Treffpunkt der Todeskandidaten war …
    Von hier starteten zwischen 1941 und 1945 die Transporte der Berliner Juden in die nazistischen Vernichtungslager. Vom Bahnhof Grunewald führte sie der Weg direkt oder indirekt in Gaskammern und an Massenhinrichtungsplätze ähnlicher Art.
    Seit 1998 erinnert eine Gedenkstätte der Deutschen Bahn auf dem stillgelegten Gleis 17 an das Geschehen jener Jahre. … Über ein Stück Schotterweg kommt man zu einer langen Doppelreihe von großen Eisenrosten, die nicht zufällig an die Verbrennungsöfen der Konzentrationslager gemahnen.
    Jede der 186 gusseisernen Platten steht für einen Transport und informiert in einer knappen Aufschrift: Datum, Ausgangs- und Zielort, Zahl der Deportierten:
    1. März 1943: 1736 Juden Berlin-Auschwitz,
    2. März 1943: 1758 Juden Berlin-Auschwitz,
    3. März 1943: 1732 Juden Berlin-Auschwitz.
    So geht es weiter: Auschwitz, Riga, Posen, Bergen-Belsen, Ravensbrück und Theresienstadt, immer wieder Theresienstadt …
    Man bedarf der Phantasie eines Dante, um sich auszumalen, welche Qualen die Menschen in den fest verschlossenen Viehwaggons durchlitten, wenn sie nicht selten fünf, sechs Tage auf der Strecke waren: 50 und mehr Menschen auf engstem Raum zusammengepfercht, keine Toiletten, keine Waschmöglichkeiten, kein Wasser, das Stöhnen Entkräfteter, Sterbender, das Schwinden der eigenen Kraft, die Angst vor dem Morgen.
    Und dennoch war die Fahrt nur das Fegefeuer, am Ziel wartete die Hölle, der qualvolle Tod durch Ersticken, durch Erschlagen, durch Erschießen. Begannen am Bahnhof Grunewald fast 200 solcher Transporte, so waren es Tausende in allen Teilen des Dritten Reiches.
    Man hat bei der Gedenkstätte nicht versucht, künstlerisch zu gestalten, was sich nicht gestalten lässt. Aus dem Holocaust kann man kein Kunstwerk machen …
    Das scheinbar gefühllose Registrieren der Tatsachen zwingt dazu, sich mit ihnen auseinanderzusetzen …
    Die Schrift auf der schwarzen Stele besagt:
    „Zum Gedenken an die mehr als 50 000 Juden Berlins, die zwischen Oktober 1941 und Februar 1945 vorwiegend vom Güterbahnhof Grunewald durch den nationalsozialistischen Staat in seine Vernichtungslager deportiert und ermordet wurden. Zur Mahnung an uns, jeder Missachtung des Lebens und der Würde des Menschen mutig und ohne Zögern entgegenzutreten.“
    Berliner, die hier am Bahnhof wohnen, identifizieren sich mit dem Denkmal so ganz eigener Art. Ich sprach darüber mit Jutta Blumenau-Niesel … Sie sagte mir:
    „Entsetzen und Trauer wuchsen unaufhaltsam beim Anhören der nicht enden wollenden Liste von Deportierten, deren Namen seit dem frühen Morgen, über den ganzen Tag, die Nacht hindurch und wieder bis in den kommenden Tag vorgelesen wurden. Als ich am nächsten Morgen das Fenster öffnete und dies noch immer hörte, konnte ich die Tränen nicht mehr zurückhalten …“
    Da muss jedem bewusst geworden sein, dass hier … ein Stück aus dem Herzen Berlins gerissen wurde und eine unschließbare Wunde entstand…
    Mit dieser Beschreibung aus dem Jahr 1998 haben wir das Hier und Heute erreicht. Ralf Bachmann – Jahrgang 1929, Betroffener, Zeitzeuge und Chronist – hat nie aufgehört, neu anzufangen. Wie dankbar können wir sein, ihn Freund nennen zu dürfen.

Jutta Blumenau-Niesel