Der Hausbewohner Ahmet Kühlaci hat darüber in der türkischen Tageszeitung „Hürriyet“ eine Kolumne geschrieben.
Übersetzung des Textes von Ahmet Kühlaci, Berliner Kolumnist der türkischen Zeitung „Hürriyet“:
Die Nachbarn, die ich nicht kannte
Eines Abends, als ich nach Hause kam, fand ich eine Broschüre.
In der Broschüre stand die Adresse und die Hausnummer unseres Hauses drin.
Und es standen diese Namen dort:
Hertha Bick, geb. 05.10.1922 in Berlin
Bertha Blumenthal, geb. 28.09.1867 in Breslau
Johanna Eitig, geb. 20.11.1865 in Dirschau
Käthe Galland, geb. 16.01.1882 in Flatow
Oskar Grünfeld, geb. 28.08.1886 in Wien
Betty Grünfeld, geb. 10.10.1888 in Stettin
Georg Plaut, geb. 13.01.1874 in Graudenz (Polen)
Eva Riess-Seelig, geb. 12.09.1893 in Wollenberg
Hans Rosenberg, geb. 25.09.1889 in Graetz
Alle Nachbarn von uns!
Besser gesagt: Sie waren alle einmal Nachbarn.
Sie hatten alle eines gemeinsam. Sie waren deutsche Juden.
Und Sie haben alle in dem Haus gewohnt, wo wir vor sechs Jahren eingezogen sind.
Ich kenne sie alle nicht und hätte sie nie kennenlernen können.
Denn sie wurden alle während des Zweiten Weltkriegs zwischen 1941 und 1944 aus ihren Wohnungen vertrieben und mit Zügen in die Konzentrationslager gebracht.
Keiner von ihnen kam zurück!
Höchstwahrscheinlich wurden Sie durch die Nazis in sogenannte Gaskammern gesteckt und menschenunwürdig vergast.
In der Broschüre ging es um eine Initiative, Stolpersteine für die „Nachbarn die wir nicht kannten“, zu setzen.
An vielen Orten in Berlin gibt es solche Stolpersteine. Auch wenn die Stolpersteine aus zwei Begriffen stammen „Stolper“ und „Stein“, bestehen Sie nicht aus Stein, sondern aus Messing. Und Stolpern tut man nur innerlich, wenn man die Stolpersteine sieht. Daher kommt auch die Bezeichnung „Stolpersteine“.
Auf diesen Steinen stehen die Namen und Geburtsdaten von Naziopfern (manche sogar wann sie vertrieben und ermordet worden sind). Ganz oben steht „Hier wohnte“.
Jedesmal, wenn ich an den Stolpersteinen vorbeilaufe, nimmt es mich emotional mit.
Als ich hörte, dass in unserem diese Menschen lebten, die in Gaskammern ermordet worden sind, nur weil Sie Juden waren und die in unserem Haus gewohnt haben, hat es mich sehr tief berührt.
Immer wenn ich die Treppen hoch und runter steige, denke ich, dass Sie auch diese Treppen benutzt haben. Wenn ich auf den Balkon gehe und den berühmten Kudamm sehe, denke ich immer an diese Menschen.
Wenn ich im Wohnzimmer sitze, denke ich auch an die Menschen, die vielleicht im selben Wohnzimmer saßen und hier Bücher oder Zeitungen lasen oder sich einfach nur unterhielten, vielleicht auch sich liebten.
Natürlich denke ich nicht nur an meine „alten Nachbarn“, von deren Schicksal ich erfahren habe, sondern an alle, die von den Nazis unterdrückt worden sind wie die Sinti und Roma, Homosexuelle, Kommunisten, Linke, die Zeugen Jehovas, und alle Widerständler.