bq. Die Leichtentritts
Hinter den geschliffenen Scheiben der messingbeschlagenen Schiebetür, die das Wohnzimmer von dem danebenliegenden Raum trennte, ertönte nachmittags, wenn ich mit dem Großvater Domino spielte (und dabei mächtig schummelte), oft Klaviermusik. Ungelenke Finger hackten unrhytmisch auf den Tasten den „Fröhlichen Landsmann“, blieben irgendwo stockend zwischen zwei Tönen hängen, sodaß man ihnen am liebsten einen Stubs gegeben hätte, um den Flügel dann völlig außer Takt mit dem laut durch die Tür tickenden Metronom weiter zu malträtieren. Dem setzte darauf eine energische, kräftige Frauenstimme ein Ende: „Nein!“ So doch bitte nicht. Ganz leicht die Finger bewegen, fließend und immer schön im Takt bleiben, eins, zwei, eins, zwei, genau so wie das Metronom. Also bitte noch einmal von vorn, zwei, drei….“
Die Stimme gehörte Tante Anna, der unverheirateten ältesten Schwester meiner Mutter. Anna Leichtentritt, eine leicht gedrungene, aber sehr sportliche Frau mit strengen Gesichtszügen, war eine ausgezeichnete und gefragte Konzertpianistin. Trotzdem konnte sie von den Gagen nicht gleichzeitig ihren Lebensunterhalt sowie ihre teure Liebe zu den Alpen und zum Skilaufen finanzieren. Weshalb sie notgedrungen den unbegabten Kindern reicher Leute auf ihrem kostbaren Flügel Klavierunterricht erteilte. Wie die um zwei Jahre jüngere Tante Else, die dritte im Bunde der Leichtentritt – Töchter und ebenfalls Pianistin, lebte sie im Hause der Eltern. Else, die hübsche Else, wie alle sie nannten, beging 1926 nach einer unglücklichen Liebe Selbstmord.
In dem Hinterzimmerchen, in dem sie starb, stand nun Annas Bett. Sie konnte den großen, sonnigen Raum neben dem elterlichen Wohnzimmer ganz für ihre Musik und ihre Schüler nutzen.
Annas Schwester Lucy heiratete den Zahnarzt Ernst Wilczynski, der in der Tauentzienstraße/Ecke Marburger Straße seine Praxis hatte. Das Ehepaar lebte mit dem Sohn Klaus in der Rankestraße 6. Während Lucy sich schon früh in der Roten Hilfe engagierte und sich nach der Machtübernahme der Nazis einem Kreis intellektueller Sympathisanten der Kommunistischen Partei anschloss, die in ihrer Wohnung in der Rankestraße das Verfassen und Vervielfältigen oppositioneller Flugblätter organisierte, übte Anna eine ganz andere Form des Widerstands aus.
bq. Tante Anna, für die es eigentlich nur ihre Musik, ihre Alpen, ihr Wandern und Skilaufen gab, fühlte Trotz gegen den um sich greifenden Rassenhaß in sich aufsteigen, und sie handelte auf ihre Art. Das Geld im gemeinsamen Haushalt mit dem Vater war knapp bemessen, die Miete teuer. Also sollte Elses ehemaliges Zimmer, in dem sie jetzt schlief, vermietet werden. Auf die Annonce in der Zeitung meldeten sich viele. Vornehmlich Studenten kamen. Anna lehnte sie alle ab. Bis eine reizende junge Frau an der Tür klingelte, Studentin auch, aber schwarzer Hautfarbe. Miss Evans aus den USA, in der Hoffnung nach Berlin gekommen, hier frei von den Beleidigungen studieren zu können, die zu ihrem Alltag zuhause gehörten. „Die nehme ich“, sagte Anna. „Ja, die, weil sie schwarz ist. Und ich hoffe, die Leute im Haus reden sich Fusseln an die Zunge.“ Das war Tante Annas Protest.
Adolf Leichtentritt starb am 25. März 1938. Im selben Jahr wurde Anna durch die Verordnungen des NS-Regimes ihre Unterrichtsqualifikation und die Möglichkeit der Berufsausübung genommen. Sie ernährte sich von Kochunterricht und Zimmervermietung. Außerdem wurde sie gezwungen, die große Wohnung in der Clausewitzstraße zu verlassen. Mit Mühe fand sie in der Uhlandstraße 49 eine aus zwei Zimmern und Kammer bestehende Wohnung in einem vorwiegend von Juden bewohnten Haus. Vor dem Umzug musste sie wertvolle Möbel und andere Einrichtungsgegenstände zu einem Schleuderpreis abgeben. Ihren Bechstein-Flügel und einen großen Notenschrank, von dem sie sich nur schwer trennen konnte, nahm sie mit in die Uhlandstraße und verkaufte sie erst kurz vor ihrer Deportation.
Klaus Wilczynski erlebte den zunehmenden Rassismus u.a. durch die Emigration seines besten Freundes und den Ausschluss aus seinem geliebten Sportverein. Er fühlte sich zunehmend isoliert und beschreibt in seinem Buch die tröstlichen Momente, die er mit seiner Tante Anna verbrachte: Wanderungen, Skireisen ins Riesengebirge, Kinobesuche und Kudammbummel.
bq. In dieser Stunde jugendlicher Not erbarmte sich Tante Anna mehrmals, mit mir zu Abendvorstellungen ins Kino zu gehen. Ganz vornehm am Kudamm, wo Naziungeist und –kitsch wunderbarerweise noch nicht aus jedem Filmtheater mieften….
Der Zahnarzt Dr. Ernst Wilczynski starb am 15. November 1936 an Herzversagen. Lucy fasste kurz nach seinem Tod den Entschluss, den Sohn Klaus nach England zu schicken. Er machte in Berlin noch seinen Schulabschluss und bereitete sich gleichzeitig auf seine Auswanderung vor. Seine Mutter brachte ihn 1937 nach Bremerhaven auf das Schiff „Europa“ Richtung Southhampton. In England wurde er interniert und 1940 nach Australien deportiert. Er trat den australischen Streitkräften bei und kehrte 1947 in das zerstörte Berlin zurück. Hier lernte er seinen Stiefvater kennen. Lucy hatte am 10 April 1940 wieder einen jüdischen Zahnarzt geheiratet, Dr. Ernst Nachmann. Mit größter Wahrscheinlichkeit überlebte das Ehepaar Nachmann Verfolgung und Krieg im Haus der Schwestern Margarete und Gertrud Kaulitz in Berlin-Schlachtensee, Eiderstädter Weg 33b. Die beiden Schwestern haben bis zu 17 Menschen versteckt oder zur Flucht verholfen.
Lucy Wilczynski musste miterleben, wie ihre gesamte Verwandtschaft deportiert und umgebracht wurde. Den Abschied von ihrer Schwester Anna Leichtentritt beschrieb sie so:
bq. Anna ereilte ihr Schicksal am 24.November 1941, es war dies der 3. oder 4. Transport. Sie sollte – angeblich – nach Riga kommen, aber der Transport ist dort nie angekommen, im Gegensatz zu späteren Transporten Anfang 42, von denen ich einige Überlebende noch gesprochen habe. Annas Transport ist schon in Kowno restlos vernichtet worden! Wir hatten Anna noch zu ihrem letzten Gang begleitet – das Sammellager war zu der Zeit in der Synagoge in der Levetzowstraße. Durch einen Zufall sind wir mit in das Innere hineingeraten, was streng verboten, uns aber nicht bekannt war….Wir waren sogar an den beiden folgenden Tagen noch an der Tür der Synagoge und steckten Anna Geld und Lebensmittel zu…….Das Letzte von meiner Schwester war noch, daß ich sie auf der Treppe stehen sah, sie winkte und rief etwas, was ich nicht mehr verstehen konnte……
Johanna Leichtentritt wurde am 27. November 1941 von Berlin-Grunewald in einem Sonderzug mit 1053 Menschen nach Riga deportiert und dort gleich nach der Ankunft am 30. November 1941 im Wald von Rumbula ermordet.
Ihre Schwester Lucy Nachmann starb 1973 nach einem Schlaganfall in einer Seniorenstiftung der evangelischen Kirche in Berlin-Mariendorf. Sie hinterließ eine Kopie des Briefes an ihre Kusine Käthe Rosenberg in Bolivien. In diesem Brief beschrieb sie in kaum erträglicher Genauigkeit die Schicksale ihrer jüdischen Freunde und Verwandten. Nur sie, ihr Ehemann Ernst und der Sohn Klaus hatten die Schoah überlebt.
Text von Karin Sievert
Quellen: Gedenkbuch der Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933-1945; Entschädigungsbehörde Berlin; Brandenburgisches Landeshauptarchiv, Akten des Oberfinanzpräsidenten Berlin-Brandenburg; Gottwaldt/Schulle: Die Judendeportationen. Wiesbaden 2005; Klaus Wilczynski: Auf einmal sollst du ein Fremder sein. Eine Berliner Familiengeschichte. Berlin 1998; Dirk Jordan: Stille Heldinnen in Schlachtensee – Die Schwestern Kaulitz aus dem Eiderstädter Weg, in: Der Tagesspiegel 10.6.2013 oder unter: https://schlachtenseesite.wordpress.com/stille-heldinnen/