Ansprache der Hausbewohnerin Marianne Heuwagen zum Gedenken:
p(. „Das Haus Regensburger Straße 27 gehörte Ende der 1930er Jahre einem Diplom-Kaufmann, Dr. Hermann Vater, Nürnberger Platz 3. Zu dieser Zeit waren vier Wohnungen an deutsche Juden vermietet, es wohnten hier zwei verwitwete Personen und zwei Ehepaare. Wie alle Juden wurden auch sie nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten Opfer systematischer Verfolgung. Zuerst wurde ihre wirtschaftliche Existenz vernichtet. Jüdische Geschäfte wurden boykottiert, Juden wurden aus dem Staatsdienst entlassen, ihre Geschäfte wurden „arisiert“.
p(. Nach Beginn des Zweiten Weltkriegs 1939 wurden ihre Lebensmittel rationiert, sie durften keine öffentlichen Verkehrsmittel mehr benutzen, ab September 1941 mussten sie den gelben Stern tragen. Das Leben in Deutschland war für sie unerträglich geworden. Viele Juden mussten sich ihren spärlichen Lebensunterhalt als Zwangsarbeiter verdienen. So kam es, dass aus ehemaligen Kaufleuten plötzlich Hilfsarbeiter wurden. Die Lessers und Abrahams mussten ihre Wohnungen schon 1941 aufgeben, sie lebten danach in möblierten Zimmern zur Untermiete, von wo sie deportiert wurden.
p(. 1941 begann die Deportation von mehr als 50 000 Berliner Juden in die Vernichtungslager. Aus diesem Haus wurden sechs Menschen deportiert: Max Ullmann und Betty Kohn sowie die Ehepaare Lesser und Abraham. Für vier von ihnen verlegen wir heute Stolpersteine. Für Robert und Ilse Abraham werden die Steine später verlegt. Wir sind sehr froh, dass die Angehörigen der Familie Lesser, die in Berlin leben, heute an unserer kleinen Gedenkstunde teilnehmen, und die Enkelin, Maria Lesser, wird zu ihren Großeltern etwas sagen.
p(. Kurz vor der Deportation wurden die Juden von der Oberfinanzdirektion aufgefordert, Vermögenserklärungen auszufüllen. Darin mussten sie ihr gesamtes Hab und Gut auflisten: Möbel, Geschirr, Bilder, Teppiche, sogar Kleidungsstücke. Sie mussten auch alle anderen Vermögenswerte angeben: Lebensversicherungen, Bankguthaben, Aktien, die das Deutsche Reich sich dann einfach aneignete. Diese Vermögenserklärungen, die im Landeshauptarchiv Brandenburg lagern, sind oft die einzigen Spuren, die sie hinterlassen haben, sie sind auch die Quelle, aus der unsere spärlichen Informationen stammen, die wir über ihr Leben herausgefunden haben.
p(. Wir gedenken Max Ullmann, Betty Kohn, Georg Lesser und Charlotte Lesser.“
Zur Verlegung der Stolpersteine für Georg und Charlotte Lesser sagte die Enkeltochter Dr. Maria Charlotte Lesser:
p(. „Georg war ein Kaufmann aus Krone, Charlotte kam aus Stralsund und war – so wie es mein Vater erzählt hat – eine bemerkenswert starke Persönlichkeit. Sie haben von 1937 bis Anfang 1942 hier in der Regensburger Straße 27 gewohnt.
p(. Ich weiß nicht viel über die Beiden. Mein Vater musste mit 16 Jahren aus Deutschland fliehen. Den Kontakt zu seinen Eltern zu halten, wurde sehr bald unmöglich. Sicher ist: er hat seine Eltern sehr geliebt und eine glückliche Kindheit gehabt. Zunächst. Er hat bei seiner Mutter – die eine glänzende Pianistin gewesen sein muss – Musik lieben und Klavier spielen gelernt. Stralsund, wo die Familie meiner Großmutter ein Herren-Maßkonfektionsgeschäft hatte, kam in seinen Kindheitserinnerungen oft vor. Als er 1947 als britischer Soldat nach Deutschland zurückkam, hat er sofort nach seinen Eltern gesucht. Was er in Erfahrung brachte war, dass sie 1942 deportiert worden waren – nach Osten. Beide wurden offenbar kurz nach ihrer Ankunft in Riga ermordet. Nur wenige aus der Familie hatten überlebt.
p(. Der Flügel meiner Großmutter ist übriggeblieben. Den hatten Georg und Charlotte, als sie gezwungen wurden, ihre Wohnung aufzugeben und zur Untermiete zu wohnen, bei Freunden untergestellt. Ein Haus war über dem Instrument eingestürzt – aber es hat ‚überlebt‘. Mein Vater hat auf ihm die meisten seiner Werke komponiert, ich habe darauf Klavier geübt – so wie jetzt meine Tochter, deren zweiter Name übrigens CHARLOTTE ist.
p(. Im Jüdischen gibt es ein Wort, das besagt: ‚Ein Mensch ist so lange nicht wirklich tot, als man sich seiner erinnert.‘ Deswegen bin ich Ihnen allen sehr verbunden, dass Sie hier sind bei der Stolpersteinverlegung und sich mit mir und meiner Familie gemeinsam erinnern.“
Von allen jüdischen Bewohnern der Regensburger Straße 27 hat Max Ullmann am längsten hier gewohnt, fast 23 Jahre. Am 20. April 1875 in Berlin geboren, ist er schon im März 1919 eingezogen. Er lebte gemeinsam mit seiner Frau im 2. Stock rechts im Gartenhaus. Von Beruf war er Handelsvertreter in der Fleischwarenindustrie. Das Ehepaar hatte offensichtlich keine Kinder.
In der Vermögenserklärung, die er wie alle Juden vor den Deportationen abgeben musste, beschrieb er sich als Witwer. Max Ullmann füllte diese Erklärung ganz besonders sorgfältig aus und listete einzeln jedes Kleidungsstück auf, das er besaß: 1 Straßenanzug, 1 Wintermantel, 6 Krawatten, 2 Herrenhüte, 1 Paar Stiefel. Max Ullmann war 67 Jahre alt, als er am 19. Januar 1942 vom Bahnhof Grunewald aus während einer andauernden Kältewelle nach Riga deportiert wurde. Fast alle 1002 Insassen des Zuges wurden sofort nach der Ankunft in den Wäldern um Riga erschossen und in Massengräber geworfen. Max Ullmanns Wohnung wurde am 21. April 1942 geräumt.
Betty Kohn geb. Sabatzki ist am 6. November 1874 in Schivelbein (Pommern) geboren. Wann sie in die Regensburger Straße gezogen ist, wissen wir nicht. Betty Kohn lebte im rechten Seitenflügel, 2. Stock und hatte einen Untermieter. Sie war Arztwitwe. Ihr verstorbener Mann, Dr. med. Ferdinand Kohn, war am 2. Juli 1865 geboren. Sie hatten keine Kinder.
In der Vermögenserklärung vom 21.12.1941 führte sie neben anderen Haushaltsgegenständen das Bild „Amor und Psyche“ auf – es muss ihr viel bedeutet haben. Sie nannte auch einen Schrankkoffer, eine Nähmaschine und einen Gobelin. Ferner schrieb sie, dass sie seit einem halben Jahr Wohlfahrtsunterstützung beziehe. Sie gab als Berufsbezeichnung „Maniküre, Pediküre, Fußmassage“ an. Betty Kohn wurde im Alter von 67 Jahren am 19. Januar 1942 vom Bahnhof Grunewald bei eisiger Kälte mit 1002 Menschen in Güterwagen nach Riga deportiert. Dort ist sie – viele waren schon erfroren – wie die meisten nach Riga Verschleppten gleich nach Ankunft am 23. Januar erschossen worden. Nur 55 Überlebende dieses Transportes sind bekannt.
Georg Lesser wurde am 17. März 1890 in Krone a. d. Brahe (Koronowo / Polen) geboren. Er war verheiratet mit Charlotte , geb. Cohn, die am 8. Oktober 1897 in Stralsund geboren wurde. Dier Familie besaß in Stralsund ein Geschäft für Herrenmaßkonfektion. Das Ehepaar hatte einen Sohn, Wolfgang, der am 31. Mai 1923 in Breslau geboren wurde.
Familie Lesser war aus Breslau am 10. Juli 1937 nach Berlin gezogen, vermutlich gleich in die Regensburger Straße 27. Wolfgang Lesser war eng mit dem Sohn des Hausmeisters befreundet, der den jungen Kommunisten vor einer bevorstehenden Verhaftung warnte, sodass Wolfgang nach England fliehen konnte. Georg Lesser war nach Informationen der Jüdischen Gemeinde bis 16.12.1938 im KZ Sachsenhausen – vermutlich ist er im November 1938 bei einer willkürlichen Aktion gegen Juden, die von ihren Arbeitsplätzen geholt wurden, verhaftet worden. Am 10.3.1942 zog das Ehepaar Lesser zur Untermiete in ein Zimmer zu Berta Frommer, Nestorstraße 54, von wo sie abgeholt, nach Riga deportiert und ermordet wurden. Wolfgang Lesser kehrte nach dem Zweiten Weltkrieg nach Ostberlin zurück, wo er Musik studierte, Komponist wurde und Generalsekretär des Musikrats der DDR, Mitglied der Kulturkommission beim Politbüro der SED und bis 1989 Abgeordneter der Volkskammer der DDR war. Er ist 1999 in Berlin
gestorben.
Das Formular der Vermögenserklärung sprach von „Auswanderung“ und enthielt die Frage: „Welche Familienangehörige wandern mit aus?“ Lessers besaßen Aktien und Wertpapiere im Wert von 13000 RM. In Schreiben des Finanzamtes Wilmersdorf-Nord vom April und Juni 1944 hieß es, das Ehepaar Lesser sei in der Regensburger Straße 27 „wohnhaft gewesen“. Als Beruf gab Georg Lesser in der Vermögenserklärung vom 21.10.1942 „Hilfsarbeiter“ an, was bedeutete, dass er in seinem eigentlichen Beruf nicht mehr arbeiten durfte. Er war als Zwangsarbeiter bei der Firma Gossen in Reinickendorf beschäftigt und verdiente 30 RM wöchentlich. Am 28.4.1944 schrieb ein Beamter des Finanzamts Wilmersdorf-Nord „Ich habe für Lesser noch Reichsfluchtsteuersicherheiten in Händen. Der Pflichtige ist am 26.10.1942 nach dem Osten überführt worden. Ich bitte um Mitteilung, ob das Vermögen dem Reich verfallen oder eingezogen worden ist“. Das Bankhaus Scheuermann überwies die Aktien des
Ehepaars Lesser an die Oberfinanzdirektion, die Isar- und Allianz-Versicherungen übertrugen die Policen des Ehepaars ebenfalls an die OFD.
Am 26. Oktober 1942 sind Georg und Charlotte Lesser vom Güterbahnhof an der Putlitzstraße in Berlin-Moabit nach Riga (Lettland) deportiert worden, wo sie nach der Ankunft des mit 798 Leidensgenossen voll besetzten Zuges am 29. Oktober 1942 erschossen und in einem der Massengräber in der Umgebung Rigas verscharrt wurden.
Recherchen und Texte: Marianne Heuwagen