Das Haus Witzlebenstraße 20 gehörte bis 1939 Frau Erna Arndtheim aus Erfurt und nach 1940 dem Warenhausbesitzer W. Lemke aus Köslin. Hier wohnten zwölf Berlinerinnen und Berliner, die wegen ihrer jüdischen Herkunft von den Nationalsozialisten deportiert und ermordet worden sind. Drei von ihnen waren die Familie Frost. Sie zogen 1934/35 hier ein und besaßen zeitweise in der Suarezstraße 26 ein Lederwarengeschäft und einen Zigarrenladen.
Erna Frost ist am 31. August 1899 in Schrimm (Srem, Polen) als Erna Blum geboren. Sie hatte sozusagen um die Ecke, in der Suarezstraße 26, einen Laden für Zigaretten, Zigarren und Tabakwaren, nachweisbar jedenfalls 1938 und 1939.
Hans Frost war der Sohn von Georg und Erna Frost. Er wurde am 23. April 1931 in Berlin geboren, war also zum Zeitpunkt der Deportation zehn Jahre alt. Seit dem 15. November 1938 durften jüdische Kinder keine allgemeinen Schulen mehr besuchen. Ob er auf eine der noch vorhandenen jüdischen Schulen ging, wissen wir nicht.
Georg Siegbert Frost ist am 27. Dezember 1888 in Rawitsch (Rawicz, Polen) geboren. Bei der Volkszählung am 17.5.1939 wurde Georg Frost eigenartigerweise nicht als Bewohner der Witzlebenstraße 20 registriert, ein Grund dafür ist nicht erkennbar. Im Berliner Adressbuch war er aber von 1935 bis 1940 mit dem Zusatz „Leder“ eingetragen. Im Branchenbuch stand bis 1937 sein Lederwarengeschäft in der Suarezstraße 26, das er, weil er Jude war, nach 1938 nicht mehr führen durfte. 1941 und 1942 war er mit der Berufsbezeichnung „Arbeiter“ versehen, also war er wahrscheinlich Zwangsarbeiter.
Mit ihnen zusammen lebten Georg Frosts ältere Schwester Gertrud Hamburger geb. Frost, geboren am 1. April 1883 in Rawitsch, und James Blum, geboren am 15. Mai 1904 in Schrim, der wahrscheinlich der Bruder von Erna Frost geb. Blum war.
Am 15. November 1941 mussten sich die Familie Frost und James Blum in der in der 1914 eingeweihten Synagoge an der Levetzowstraße 7-8 in Berlin-Tiergarten melden, die als Sammellager missbraucht wurde für Juden, die in Ghettos und Lager nach Osten verschleppt werden sollten. Am 17. November 1941 wurden alle vier in eine Kolonne von 1006 Menschen eingereiht, die mit wenigen Habseligkeiten in der Nacht scharf bewacht sieben Kilometer von der Levetzowstraße mitten durch Wohngebiete zum Bahnhof Berlin-Grunewald und dort in einen am Gleis 17 bereit stehenden Sonderzug getrieben wurden. 25 von ihnen waren jünger als zehn Jahre. Dieser Zug sollte zunächst nach Riga in Lettland fahren, wurde aber kurzfristig nach Kowno (Kaunas) in Litauen umgeleitet.
Alle 1006, also auch die Kinder, sind zunächst in einem in Kowno errichteten Ghetto zusammengepfercht und am 25. November zum Fort IX der historischen Stadtbefestigung geführt worden. Allein an diesem Tag wurden 2 934 Jüdinnen und Juden, darunter 175 Kinder, erschossen. Insgesamt sind von Juli bis Dezember 1941 in Kowno 137 346 Menschen getötet worden. Die Leichen wurden in Massengräbern verscharrt oder verbrannt.
Über Gertrud Hamburger existiert im Brandenburgischen Landeshauptarchiv in Potsdam nur eine dünne Akte. Sie wurde als Gertrud Frost am 1. April 1883 in Rawitsch (Rawicz, Polen) geboren. Ihr jüngerer Bruder war Georg Frost, geboren am 27. Dezember 1888 ebenfalls in Rawitsch. Nachdem sie zweimal verwitwet war, zog sie in zu ihrem Bruder in die Witzlebenstraße 20, der hier mit seiner Familie wohnte und in der Nähe ein Zigaretten- und Zigarrenengeschäft hatte.
Zunächst lebte sie, die in erster Ehe Gertrud Ehrlich hieß, in Eberswalde. Nach dem Tod ihres Mannes heiratete sie wieder und hieß Gertrud Hamburger. Auch ihr zweiter Ehemann starb bald. Von beiden ist nichts bekannt. Aus der ersten Ehe hatte sie eine Tochter, die als Ilse Erdberg, geb. Ehrlich in Breslau lebte.
In einer schnörkelreichen Handschrift füllte Gertrud Hamburger am 16.11.1941 wie alle zur Deportation vorgesehenen Juden zwangsweise ihre Vermögenserklärung aus. Zehn Tage später wurde ihr im Sammellager in der Synagoge Levetzowstraße 7-8 der unterschriebene und gestempelte Bescheid zugestellt, dass ihr gesamtes „Vermögen dem Deutschen Reich verfallen“ sei.
Bei ihr war allerdings nicht viel zu holen. Seit dem 1. Januar 1940 bewohnte sie einen kleinen Raum in der 5½-Zimmer-Wohnung von Baruch Marx in der Solinger Straße 11, für den sie als Hausangestellte tätig war. Wohnen und Verpflegung waren umsonst, von der Reichsversicherung der Juden in Deutschland bekam sie monatlich 35 Reichsmark.
Eigene Möbel hatte sie nicht, die hätten wohl auch keinen Platz in ihrer bescheidenen Unterkunft gehabt. Als ihr Eigentum gab sie nur an: 1 Bügeleisen, 1 Nähmaschine, 1 Reisekoffer, 1 Reisekorb und einige Bekleidungsstücke sowie 6 Schürzen und 3 Topflappen. Diese Kleinigkeiten waren immerhin 52 RM wert, wie drei Schätzer namens Steinmetz, Otto und Jurisch „gewissenhaft aufgenommen und bewertet“ haben. Außerdem hatte sie 110 RM bar „im Hause“, die vom Staat eingezogen wurden, als Gertrud Hamburger am 30. November 1941 nach Riga deportiert und dort erschossen worden war.
Ihre Verwandten – Georg Frost, dessen Frau Erna, geb. Blum (geboren am 31. August 1899), und deren gemeinsamer Sohn Hans (geboren am 23. April 1931) sowie ihr Bruder James Blum – sind am 17. November 1941 nach Kowno (Litauen) deportiert worden.
Zu James Blum, geboren am 15. Mai 1904 in Schrim (Srm, Polen), dem jüngeren Bruder von Erna Frost, geb. Blum, ist außer einer Karteikarte mit den Geburts- und Deportationsdaten nichts Schriftliches mehr erhalten.
Baruch Marx, geboren am 27. Mai 1882 in Strümpfelbrunn (Baden), der Gertrud Hamburger 1940/41 eine Stelle zum Lebensunterhalt geboten hatte, wurde am 17. Mai 1943 nach Auschwitz deportiert.
Siehe auch http://www.lietzensee.cidsnet.de/stolpersteine.html
Recherchen und Text: Helmut Lölhöffel